Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Norbert Götz
Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim
(Diss. Manuskript. Berlin 1999. 688 S.)

Das zwanzigste Jahrhundert ist zu Recht als ein "Jahrhundert der Extreme" bezeichnet worden. Die in der historischen Bewertung so unterschiedlichen nationalen und sozialen Integrationskonzepte der Volksgemeinschaft in Deutschland und des Volksheims in Schweden stehen exemplarisch für destruktive beziehungsweise konstruktive Versuche, den Herausforderungen dieses Jahrhunderts zu begegnen.

Der empirische Hauptteil der Dissertation ist in zwei große Blöcke untergliedert. Zunächst wird die Begriffsgeschichte von Volksgemeinschaft (folkgemenskap) und Volksheim (folkhem) im Deutschen und Schwedischen verglichen. Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Verwender und Verwendungszusammenhänge lautet die Schlußfolgerung, daß das heute gängige Verständnis der Volksgemeinschaft als einer propagandistischen Luftblase der deutschen Nationalsozialisten und des schwedischen Volksheims als der Umschreibung für einen egalitären Wohlfahrtsstaat das Ergebnis spezifischer politischer Erfahrungen und insofern gut begründet, aber kein essentieller, vor- oder festgeschriebener Bedeutungsgehalt der Worte ist. Die in der historischen Entwicklung so unterschiedlichen Fälle Deutsches Reich und Schweden werden im ersten Teil des Vergleichs also auf Gemeinsamkeiten der Spannbreite ihrer Schlüsselbegriffe Volksgemeinschaft und Volksheim hin analysiert. Unterschiede werden dabei weniger im Ländervergleich als beim Vergleich unterschiedlicher Akteure innerhalb der beiden Länder deutlich.

Im zweiten großen empirischen Block werden für den Zeitraum 1932/33 bis 1945 einzelne Politikfelder für das Deutsche Reich und Schweden untersucht, die im Zusammenhang mit Diskussionen über Volksgemeinschaft und Volksheim von besonderem Belang sind. Ausgewählt wurden für die Analyse die Bereiche Jugendpolitik, Dienstpflichtpolitik, Sozialpolitik und Bevölkerungspolitik. Mit Ausgangspunkt in der ähnlichen Begrifflichkeit im Deutschen und Schwedischen geht es in diesen Kapiteln darum, unterschiedliche Anwendungsweisen und Innovationsformen der praktischen Politik herauszuarbeiten. Als grundlegend für die nationalsozialistische Politik wird die Vorstellung der Volksgemeinschaft als einer "konkreten Ordnung" (Carl Schmitt) herausgearbeitet, die essentiell und letztlich rassenbedingt vorgegeben ist und der durch die nationalsozialistische Bewegung authentischer Ausdruck beigebracht werden muß. Der demokratischen, insbesondere auch sozialdemokratischen Politik in Schweden liegt demgegenüber die Vorstellung des Volksheims als einer "provisorischen Utopie" (Ernst Wigforss) zugrunde, die grundsätzlich verhandelbar und am Wohle des Einzelnen orientiert ist. Daß Schweden nur einen Annährungswert an dieses Ideal darstellt, daß demokratische Staaten nicht grundsätzlich gegen problematische Entwicklungen gefeit sind, sondern immer wieder aufs Neue funktionale und humanistische politische Erfordernisse in Einklang bringen müssen, zeigt die aktuelle Diskussion über schwedische Zwangssterilisierungen in den dreißiger Jahren und später.

Als Quellen für diese begriffsgeschichtliche und institutionenanalytische Arbeit werden Zeugnisse von Politikern, Parteien, der politischen Publizistik, der Staatsverwaltung, Justiz und Wissenschaft verwendet. Es handelt sich im wesentlichen um programmatische und propagandistische Schriften und Reden, Artikel und Aufsätze aus parteinahen Zeitungen und Zeitschriften, politische Gutachten und Entwürfe, Gesetzes- und Verordnungsblätter sowie um statistische Aufstellungen. Ein besonderes Augenmerk gilt visuellem Material wie Karikaturen, Schaubildern und politischen Werbebildern.

Die Dissertation wurde 1995-1998 im Rahmen des Graduiertenkollegs Gesellschaftsvergleich in historischer, soziologischer und ethnologischer Perspektive gefördert und 1998 mit dem "15th Annual Schoolarship Award" der Swedish Women's Educational Association International (SWEA) ausgezeichnet. Sie ist Teil des Forschungsprojekts Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Modernisierungsprozeß: Deutschland und Schweden. Betreuer waren Prof. Dr. Bernd Henningsen und Prof. Dr. Heinrich August Winkler.

 

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