Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Valeska Henze: Der schwedische Wohlfahrtsstaat.
Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells

Arbeitspapiere "Gemeinschaften" Band 19
Gedruckt mit Unterstützung des Jubiläumsfonds der Schwedischen Reichsbank

Abstract

Die gesellschaftliche Ordnung Schwedens erhielt mit dem Begriff des Volksheims eine politisch institutionalisierte Bezeichnung für den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Mit dem Volksheim waren Vorstellungen von der gerechten Gesellschaft verbunden, in der der Staat für die Sicherheit seiner Bürger sorgte und alle gemeinsam für die materielle Grundlage dieses auf Solidarität beruhenden Versorgungssystems verantwortlich waren. Es war ein Begriff, der aufgrund seiner metaphorischen und symbolischen Ausgestaltung die Gesellschaft nach funktionalistischen, technisch-regulierenden und hygienischen Gesichtspunkten ordnete und auf dieses Weise Regeln für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft festlegte.

Doch auch wenn das Volksheim mit sozialdemokratischer Programmatik identifiziert wird, können sowohl der metaphorische Gebrauch als auch die symbolischen Ordnungselemente des Volksheims auf bürgerliche Wurzeln zur Jahrhundertwende zurückgeführt werden. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs werden die gesellschaftlichen Vorstellungen von Ellen Key und Rudolf Kjellén, stellvertretend für die bürgerliche Seite, und von den Sozialdemokraten Per Albin Hansson, Ernst Wigforss sowie Gunnar und Alva Myrdal mit Hinblick auf die Gestaltung des Volksheims behandelt.

Einleitung

'Folkhemmet' (Das Volksheim) ist ein Begriff, der in Schweden direkt mit der Institution des eigenen Wohlfahrtsstaates verbunden ist, der ihm praktisch wie ein Name anhaftet. Das Volksheimes wird darüber hinaus mit sozialdemokratischer Politik identifiziert. Es ist als Vorstellung vom schwedischen Wohlfahrtsstaat zu einer politischen Institution geworden, die über Jahrzehnte den ideologischen Rahmen für schwedische Politik unverrückbar festgelegt hat.(1) Mit dem Volksheim waren Vorstellungen von der gerechten Gesellschaft verbunden, in der der Staat für die Sicherheit seiner Bürger sorgte und alle gemeinsam für die materielle Grundlage dieses auf Solidarität beruhenden Versorgungssystems verantwortlich waren. Es war ein Begriff, anhand dessen nach innen Zugehörigkeit bestimmt wurde und nach außen hin Geschlossenheit sowie erfolgreiche Modellhaftigkeit demonstriert wurde.

Das Volksheim ist ein die schwedische Gesellschaft identifizierender Begriff. Gesellschaftliche Ordnungen bzw. ideale Vorstellungen von Gesellschaft müssen begrifflich erfaßt und verankert werden können, um sinnstiftende und ordnende Wirkung zu erlangen. Ausgangspunkt ist deshalb nicht die sozialpolitische Ausgestaltung des Volksheimes sondern das Volksheim als Vorstellung von Gesellschaft, d. h. ich werde die Metapher des Volksheimes auf die in den zwanziger und dreißiger Jahre herrschenden und diskutierten Vorstellungen von Gesellschaft zurückführen. Mit welchen Bedeutungen und Vorstellungen wurde eine zunächst metaphorisch formulierte Vision gefüllt und als politischer Begriff institutionalisiert? Die Frage hier ist also nicht: Was ist das Volksheim sondern wofür steht es? Welche Vorstellung von Gesellschaft hat die Politik und die Gestaltung des Wohlfahrtsstaates angeleitet? Mein Ziel ist es, die Elemente aufzuspüren, die das Volksheim als Ordnungsmodell der schwedischen Gesellschaft und das dazugehörige Politikverständnis auszeichneten. Angestrebt ist die Identifizierung einer Begriffsstruktur, die eine gesellschaftliche Ordnung, ihre Werte, Normen und Regeln benennt, verdeutlicht und institutionell verankert.

Das Volksheim ist der Ausdruck für die Vorstellung einer spezifischen politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Die Inkorporierung ihrer ordnenden Prinzipien begründete das politisches Design für eine Gesellschaft, das seinen Mitgliedern emotionale Bindung bieten konnte, und die die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit nach den radikalen gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhundert beheben konnte. Das Volksheim war insofern sinnstiftend: Ein Begriff, bzw. eine Metapher, die verbunden mit einer spezifischen Ausdrucksform die aktive Gestaltung der schwedischen Gesellschaft der dreißiger Jahre auf lange Sicht prägen konnte.

Die Metapher des Volksheimes wurde von dem sozialdemokratischen Politiker Per Albin Hansson popularisiert, als er sie im Laufe der zwanziger Jahre als Schlagwort in die politische Auseinandersetzung einführte. Die Metapher sollte seiner Vision von der guten und gerechten Gesellschaft ein klares und allgemein verständliches Bild bieten, das darüber hinaus auf fruchtbaren und schon bereiteten Boden stieß. Die Heimmetapher als Analogie zur Gesellschaft ist spätestens seit der Jahrhundertwende ein gängiges rhetorisches Mittel im gesellschaftlichen Diskurs. Das Konzept des Gesellschaftsmodells als Volksheim wird im allgemeinen als eine Reaktion auf den politischen und sozialen Wandel in Schweden seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstanden,(2) weswegen man seinen Inhalt, also die damit verbundenen Ideen nur vor dem Hintergrund seiner Vorgeschichte verstehen kann. Schweden macht in dieser Zeit (ca. 1850-1930) einen rasanten und radikalen Wandel von einer paternalistischen Agrargesellschaft zu einer liberalen Industriegesellschaft durch, begleitet von Massenemigration und schleppender Reform in der Politik. Dieser gesellschaftliche Wandel wird begleitet von Diskussionen und Ideen darüber, wie er am einfachsten und besten zu bewältigen sei, und wie eine zukünftige Gesellschaft in den veränderten Verhältnissen auszusehen habe. Der Begriff des Heimes spielt als Verbildlichung einer zukünftigen Gesellschaftsform in diesen Auseinandersetzung eine besondere Rolle. Denn es handelt sich dabei um eine Metapher, in der sich - als Vorstellung von Gesellschaft - die Erfahrungen und Erwartungen einer Zeit bündelten.(3) Die radikalen Veränderungen der Lebenswirklichkeiten hatten dazu geführt, daß die Schweden sich nicht mehr verläßlich auf die gemachten Erfahrungen stützen konnten, um auf die zukünftigen Entwicklungen vorbereitet zu sein. Die Heim-Metapher konnte diesen Bruch zwischen vergangener Zeit und der unbekannten Zukunft zumindest sinnbildlich wieder zusammenfügen. Die Vergangenheit wurde auf diese Weise nicht völlig entwertet, und die Unsicherheit über die weitere Entwicklung konnte gemildert werden.

Im ersten Abschnitt werde ich mich zunächst auf die konzeptionellen bzw. begrifflichen 'Vorgänger' des sozialdemokratischen Volksheimes konzentrieren. Das bedeutet, daß im Mittelpunkt zwei Personen des schwedischen Intellektuellenmilieus stehen, die ihre eigenen Ideen über die gute Gesellschaft entwickelten und diese ausdrücklich oder indirekt mit dem Bild des Volksheimes verknüpften: Ellen Key, die aus ihrem pädagogischen Verständnis heraus die Gesellschaft als erziehendes Heim betrachtet, und Rudolf Kjellén, der als Staatswissenschaftler eine umfassende Theorie über das politische System und den Staat entwickelt und diese populistisch als Forderung nach einem Volksheim in das Wahlprogramm der schwedischen Konservativen implantiert.(4) Es sind zu Beginn des Jahrhunderts hauptsächlich sozial-liberale und konservative Ideen, die sich mit den großen Konzepten der Gesellschaftsgestaltung befassen. Die Sozialdemokraten und radikal-liberalen Volksbewegungen sind noch zu sehr mit den praktischen Fragen gesellschaftlicher Reform beschäftigt, etwa mit der Forderung nach Wahlrechtsreformen. Erst nachdem das allgemeine demokratische Wahlrecht eingeführt worden war und die Sozialdemokraten realistische Chancen auf die Regierungsmacht in Schweden hatten, gerieten die grundsätzlichen Fragen nach politischen Zielen und Mitteln in den Mittelpunkt parteipolitischer Auseinandersetzungen, aus der schließlich Anfang der dreißiger Jahre die sogenannte Volksheim-Linie, oder auch Per Albin-Linie(5), als Sieger hervorging.

Im darauffolgenden Kapitel schließt sich die Analyse des sozialdemokratischen Volksheimes an. Ich werde zunächst den Hansson'schen Gebrauch der Metapher vom Volksheim inhaltlich bestimmen, um ihre Entwicklung vom einfachen Schlagwort zum politischen Programm nachvollziehen zu können, d. h. einige Schlüsseltexte, in denen der sozialdemokratische Gesellschaftsentwurf mit der Volksheim-Metapher verbunden wird, werden begriffsanalytisch untersucht. Daran anschließend werden die Schlüsselbegriffe dieses Konzepts gesellschaftlicher Erneuerung dem politischen Programm der Partei zugeordnet. Dabei werde ich besonders die Auswirkungen auf den wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Teil des Programms berücksichtigen.

Das schwedische Volksheim ist zu Beginn der dreißiger Jahre noch eine imaginierte, virtuelle Gesellschaft, die von den sozialdemokratischen Politikern und einer intellektuellen Elite junger Wissenschaftler und Architekten mit großer Vehemenz der schwedischen Allgemeinheit präsentiert wird. Diese Vorstellung von der Zukunft und ihrer gesellschaftlichen Ordnung sollte real in Angriff genommen werden und mußte deshalb "praktisch, affektiv und geistig"(6) wahrnehmbar gemacht werden. Auf welche Weise und in welcher Form sich die Vorstellung vom Volksheim materialisiert, wie sie wahrnehmbar gemacht wird, ist Thema des letzten Abschnitts. Dabei werde ich mich auf die ordnenden Elemente des Symbolsystems dieser Vorstellung konzentrieren - auf die äußerliche, grundierende Ordnung der funktionalistischen Ästhetik, die innerliche, regulierende Ordnung durch die Technik des Ingenieurs und die moralisch-ethische Ordnung durch Erziehung und Hygiene.

Dieser letzte Teil wird also eine Art Bestandsaufnahme, eine Inventur jener sozialdemokratischen gesellschaftlichen Vorstellungen, die mit dem Begriff des Volksheimes seit den dreißiger Jahren die schwedische Politik entscheidend mitbestimmt haben. Da diese Vorstellungen zu Beginn der dreißiger Jahre entwickelt wurden, ist der Zeitraum der Analyse auf die Zeit bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges begrenzt. Das bedeutet auch, daß die praktische Umsetzung dieser Vorstellungen hier nicht weiter berücksicht wird, da diese in die Zeit nach 1945 fällt.

Die Gesellschaft als Heim: Der bürgerliche Gebrauch der Heim-Metapher zur Jahrhundertwende

Die Idee des Volksheimes wird in der Regel auf die starken politischen und gesellschaftlichen Umbrüche seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeführt. Schweden machte in dieser Zeit eine radikale und rasant schnelle Entwicklung von einer agrarischen Ständegesellschaft zur industrialisierten Klassengesellschaft, vom Obrigkeitsstaat zur demokratischen Verfassung durch.

Die Auflösung der traditionellen Ständegesellschaft war begleitet vom Entstehen einer bürgerlichen Mittelklasse, mit der sich liberales Gedankengut verbreitete. Das paternalistische Versorgungssystem der traditionellen 'bruk-samhällen'(7) wurde durch die Anforderungen kapitalistischer Selbstverantwortung ersetzte, was dazu führte, daß die Arbeiter aus der Verantwortung ihres Herren entlassen wurden und nun ungeschützt den Gesetzen liberalen Wirtschaftens ausgesetzt waren. Die gesellschaftliche Ordnung richtete sich nicht weiter nach der Herkunft ihrer Mitglieder sondern nach ihrem Einkommen und Vermögen. Die allgemeine Wahrnehmung in dieser Zeit war von einer großen Ungewißheit über die Zukunft, von sozialen Spannungen, schleppender politischer Liberalisierung und der 'Verspätung' der allgemeinen Lebensbedingungen gegenüber der technischen Entwicklung bestimmt. Diese Empfindung wurde noch verstärkt durch die drastische Verschärfung der sozialen Verhältnisse in weiten Teilen der Bevölkerung. Schon in der 1820er und 1840er Jahren wurde die soziale Frage in der Literatur und der Politik lebhaft diskutiert, da die zunehmende Armut als Bedrohung für die Volksmoral und die allgemeine Sicherheit wahrgenommen wurde.

Die zentralen Überlegungen zur zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Ordnung rankten sich um die Problematik des Verhältnisses Individuum-Kollektiv; also um die Frage, wie man das Verhältnis der einzelnen Mitglieder zueinander am günstigsten gestalten und wie man ihr Verhältnis zur Allgemeinheit bestimmen sollte. Das Heim war in diesem Zusammenhang eine gerngenutzte Analogie, um die abstrakte, kollektive Organisationsform zu veranschaulichen. Es vermittelte außerdem eine positive Wahrnehmung, ein Wunschbild vom (Zusammen-)Leben, das alles aussparte, was das Leben kompliziert machte (wie z. B. neue Arbeitsbedingungen, unsichere Zukunft, die Auflösung alter Strukturen), und sich den Vorstellungen vom bodenständigen, traditionellen Familienleben unterwarf.

Die Metapher(8) vom Heim verbindet zwei Vorstellungswelten: Die des Hauses und die der Familie. Sie werden gemeinsam auf den Staat und die Gesellschaft übertragen, so daß in ihr beide Vorstellungen Staat-Gesellschaft bzw. Haus-Familie so weit verschmelzen, daß es schließlich zu einer völligen Identifikation kommt. Metaphern aus dem Bereich der Familie sind ein Spiegelbild für Einheit und Friedfertigkeit. Sie übernehmen das idealisierte Bild der idyllisch-harmonischen Familie und blenden die Realität in der Regel völlig aus. Sie vereinfachen komplizierte politische Strukturen, indem sie diese auf die einfachste und unmittelbarste Form des sozialen Zusammenlebens übertragen.

Das Heim als Verbildlichung einer Vorstellung von Gesellschaft ist also keine sozialdemokratische Erfindung. Die von Hansson hervorgehobenen Werte, wie z. B. Gemeinsamkeit, Solidarität und Harmonie sind solche, die auch einem bürgerlichen Wertekanon entnommen sein könnten - ebenso wie der starke Bezug zur Familie ein eher konservatives Bild vermittelt. Außerdem ist das 'Heim' im ursprünglichen Gebrauch kein modernes Wort. Es wurde Ende des 18. Jahrhunderts aus der englischen Literatur, der französischen Philosophie und der deutschen Romantik nach Schweden gebracht. Es ist ein Begriff, der zur damals gerade entstehenden bürgerlichen Kultur gehörte.(9) Im Verlauf der Industrialisierung wird das Heim für das Bürgertum zum ruhenden Gegenpol zu den radikalen Veränderungen der vom Konkurrenzkampf geprägten Industriegesellschaft, d. h. das Heim stand weniger für den realen Raum, in dem man lebte sondern eher für den ideellen, emotionalen Inhalt des Heimes. In diesem bürgerlichen Sinne kannten die Arbeiter kein Heim. Sie kannten nur das fremdbestimmte Leben der paternalistischen Haushalte in den bruk-samhällen, Bauerngemeinschaften und Zünften.(10)

Die Auflösung der alten Strukturen begründete aus diesem Grunde also die Suche nach einem 'neuen' Ort in der Gesellschaft und führte besonders bei den Arbeitern zu einem Streben nach dem eigenen privaten Heim. Diese Sehnsucht der Arbeiter nach dem Heim war eng verknüpft mit der Gründung von Familien. Bevor die Industrialisierung in Schweden einsetzte, waren die patriarchalen bruk-samhällen eine Art Familienersatz für die Arbeiter/Beschäftigten; sie gewährten Sicherheit und Zugehörigkeit, wurden aber im Laufe der Industrialisierung weitgehend aufgelöst. Die Gründung von eigenen Familien leitete - trotz widriger Umstände (Armut, Wohnverhältnisse) - so etwas wie einen Befreiungsprozeß und die Suche nach einem neuen Platz in der veränderten Gesellschaft ein.(11) Um aber überhaupt die Bedingungen zu schaffen, die eine Familiengründung in lebenswerten Verhältnissen für Arbeiter zulassen würde, war ihr "hemlängtan" (Sehnsucht nach dem eigenen Heim; Heimweh) und ihr "familjebygget" (Familienbau) früh mit dem Bau, d. h. mit der Gestaltung von Gesellschaft ("samhällsbygget") verbunden:

Alles lief darauf hinaus, sich nach außen zu wenden, in Richtung Solidarität und gemeinsames Handeln und Gesellschaftsveränderung, zu einer Nachbarschaft ebenso wie zu einer Arbeitergemeinschaft [&133;]. Die ganzen Existenzbedingungen in der Arbeiterklasse besaßen eine Kraft, die dafür sorgte, daß die Menschen den Aufbau der Familie und den Aufbau der Gesellschaft miteinander verbanden.(12)

Trotz dieser eigenen 'Heim'-Begrifflichkeit und den völlig anderen Lebensbedingungen (und Alltagserfahrungen) der Arbeiterbewegung darf nicht übersehen werden, daß das 'Heim' als solches ein bürgerliches Heim war, das mit einem bürgerlichen Familienideal verknüpft war und geblieben ist. Auch aufgrund der gleichen Wurzeln der bürgerlichen Liberalen und der Arbeiterbewegung im Volksbewegungsmilieu des 19. Jahrhunderts kann vermutet werden, daß sich Heimideale und -bilder der beiden Seiten stark 'vermengt' haben.

Die Volksbewegungen entstanden schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die starren gesellschaftlichen und politischen Strukturen Schwedens. Die ersten Zeichen von Opposition äußerten sich innerhalb der schwedischen Staatskirche in Form von privaten Bibelkreisen und dehnten sich schließlich auf die Gründung von neuen Kirchen und freien Erweckungsbewegungen aus. In der Anfangsphase verband sich die Kritik gegen die Staatskirche mit der Forderung nach Glaubensfreiheit. Mit zunehmender Radikalisierung der Bewegungen gerieten schließlich auch gesellschaftliche Reformbestrebungen in das Zentrum ihres Wirkens, bis hin zur Forderung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden außerdem Abstinenzlerorganisationen und zum Ende des Jahrhunderts auch die Arbeiterbewegung als Protestbewegungen gegen die bestehenden Verhältnisse aktiv. Auch wenn alle drei Volksbewegungen eigentlich von sehr speziellen Zielen geleitet waren, wurden sie doch zu den entscheidenden gesellschaftlichen Kräften, die den Übergang zur Klassengesellschaft begleiteten und ihn durch ihr ausgleichendes Wirken relativ sanft ausfallen ließen(13). Sie verfolgten u. a. das gemeinsame Ziel, allen Schweden die gleichen Möglichkeiten an der Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben zu schaffen, und auf diese Weise jedem Bürger einen angemessenen Ort in der Gesellschaft zu bieten. Sie alle sahen den einzigen Weg, ihre eigenen, speziellen Ziele zu erreichen, in einer umfangreichen Wahlrechtsreform. Als Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger wurde allerdings auch von den Volksbewegungen eine entsprechende Qualifizierung, d. h. ein Grundmaß an Bildung - Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten - betrachtet - aber auch die Aneignung gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens.(14)

Die Volksbewegungen begleiteten die Umbruchsituationen der schwedischen Gesellschaft. Sie konnten in mancher Hinsicht den Verlust von gesellschaftlicher Bindung ausgleichen. Die Gemeinschaft der Bewegungen gewährte die Sicherheit, die durch die Veränderungen abhanden gekommen war und erleichterte so den Anpassungsprozeß an die neuen Verhältnisse, u. a. auch dadurch, daß sie die neuen Verhältnisse mitgestalten konnten. Die Volksbewegungen haben aber auch dafür gesorgt, daß die liberale Ideologie der Mittelklasse klassenübergreifend den Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft geprägt hat.(15)

Die Idealisierung von Heim und Hof

Einen Teil der Unsicherheit und Entwurzelung der neuen Klassen konnten die Volksbewegungen zwar auffangen und kompensieren. Doch konnten sie nicht verhindern, daß die traditionelle Festung, die Familie, nur noch in ungenügendem Maße Sicherheit und gesellschaftlichen Halt bieten konnte. Hirdman spricht von der "Verletzlichkeit des Heimes", die hervorgerufen wurde durch die Aufwertung "des Allgemeinen" und "des Öffentlichen". Eine Reaktion des liberalen Bürgertums war die Idealisierung des Heimes:

Die Bilder vom Heim als annähernd paradiesischer Platz, weit entfernt von diesem veränderlichen und nervösen Leben, waren zahllos. Diese Ideologien vom neuen Heim wurden nicht nur von der negativen, instinktiven Flucht vor dem grauen, häßlichen, mühsamen und unmoralischen Leben sondern auch von der utopischen Sehnsucht nach einer höheren Menschlichkeit genährt.(16)

Eine derjenigen, die die Idealisierung des Heimes besonders stark betrieb, war Ellen Key. Geboren 1849, wuchs sie in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Durch die politische Tätigkeit des Vaters wurde sie in politische und gesellschaftliche Debattierkreise eingeführt. Key arbeitete zeitweise als seine Sekretärin. Später wurde sie Mitarbeiterin bei verschiedenen Zeitschriften, und begann 1883 Vorlesungen über Kulturgeschichte am Arbeiterinstitut in Stockholm zu halten. Bis Ende der 1890er Jahre hatte sie so großen Erfolg mit den Vorlesungen, daß sie diese Tätigkeit auch auf andere Vereinigungen und Volksbildungseinrichtungen ausweitete. Sie sprach zu aktuellen, kultur- und literaturhistorischen Themen und zur Frauenfrage. Außerdem initiierte sie die klassenübergreifende Zusammenarbeit von Frauen zu Fortbildungszwecken. Nach 1900 war Key nur noch schriftstellerisch tätig. Schwerpunkt waren frauenpolitische Themen und pädagogische Schriften. Ihr wohl erfolgreichstes Buch war Das Jahrhundert des Kindes(17).

Keys politischer Standpunkt ist getragen von der liberalen Auffassung über die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Sie betont das Individuum und die Forderung nach Selbstverwirklichung als herrschende Wesensmerkmale gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sie allerdings bestrebt ist, durch Prinzipien wie "Hingabe, in der Familie aufgehend und Zusammenarbeit"(18) auszugleichen. Das Hauptanliegen in ihren Veröffentlichungen und Vorlesungen besteht darin, gesellschaftliche Reformen voranzutreiben.

Die Gesellschaft, wie Key sie vorfindet und beschreibt, bot keine Ordnung, die die individuelle Entwicklung förderte, da die Frage des täglichen Überlebens ("die Brodfrage") im Mittelpunkt des Schaffens und Wirkens stand:

Diese Ordnung ist ein Feind der Individualität, in viel höherem Grade, als jene Gesellschaftsordnung es sein könnte, deren oberstes Grundgesetz wäre: Niemand kann arbeitslos werden. Mit dieser 'magna charta' würde die persönliche Freiheit den größten Schritt vorwärts gemacht haben, den sie überhaupt je machte, seit der Schutz des Lebens und des Eigenthums als sociales Recht anerkannt wurde. Denn im Grunde ist der Schutz des Lebens und des Eigenthums nicht ganz wirklich, solange man arbeitslos gemacht werden kann; und die Glaubens- und Gedankenfreiheit ist nicht in Wahrheit vorhanden, wenn man wegen seiner Worte und Gedanken, seines Glaubens oder Unglaubens seinen Lebensunterhalt verlieren kann.(19)

Key versucht in dem Text "Die Wenigen und die Vielen", Liberalismus und Sozialismus miteinander zu versöhnen, bzw. die Befürchtung der Liberalen vor den Folgen des Sozialismus zu entkräften. Nach ihrem Verständnis müsse die Umgestaltung einer Gesellschaft immer von Innen nach Außen geschehen, d. h. eine Voraussetzung für Erfolg und Stabilität der Neuordnung ist ein Wertewandel. So verstanden ist der Umbruch in der Gesellschaft nicht durch Revolution herbeizuführen sondern aus dem Bestehenden heraus zu entwickeln. Keys Ansatz von Sozialismus ist also evolutionär,(20) wobei ihr Ausgangspunkt ohne Zweifel der Grundgedanke des Liberalismus, das Recht des Einzelnen, des Individuums bleibt. Die Idee des Sozialismus ist für Key ein moralisches Problem - Ökonomie und Armutsproblematik kommen nur am Rande oder gar nicht vor. Individualismus und Sozialismus stellen jeweils die Voraussetzung füreinander dar, indem der Sozialismus allen Arbeit (und Auskommen) garantiert und dadurch Platz, Zeit und Sicherheit für die individuelle Entfaltung schafft, die wiederum für zufriedene Arbeiter sorgt. Keys Ideal beschreibt die Harmonie zwischen Individualität und Sozialität, wobei "die sozialistische Gesellschaft in erster Linie einen Nährboden für vollendete Persönlichkeiten darstellt."(21) Besser abgesicherte Existenzbedingungen seien demnach Voraussetzung für ein erhöhtes Lebensgefühl und darüber hinaus grundlegend für die geistige Entwicklung und Befreiung der Persönlichkeit. Keys Einwand gegen die sozialistische Idee richtet sich gegen ungerechte "Gleichmacherei", insbesondere bei der Entlohnung von Arbeit. Das Individuum drücke sein "Wesen als Mitglied der Gesellschaft" durch Arbeit aus, so daß es - zu seinem eigenen Besten, aber auch zum Vorteil der Gesellschaft - die Freiheit haben müsse, nach seinem Willen und seinen Vorlieben, eine Arbeit zu wählen. Arbeit muß für Key "eine Arbeit des Kopfes, des Herzens und der Hand sein [&133;], wenn sie dem Arbeitenden Freude bereiten und ein lebendiger Ausdruck seiner Persönlichkeit sein soll." Diese Art der Selbstverwirklichung durch Arbeit setze die vom Kapital befreite Gesellschaft voraus.(22)

Dieser Idealzustand ist für Key von zwei Faktoren abhängig: Von der Schaffung sozialer Sicherheit(23) und von der Formung bzw. Bildung des idealen Menschen, um diese Idealform dauerhaft zu erhalten. Denn allein dadurch, daß die Herrschaft des Kapitals und sein Grundprinzip, die Gewinnsucht, abgeschafft würden, könne nicht ausgeschlossen werden, daß andere Formen des Machtstrebens das menschliche Handeln bestimmen. Key fordert aus diesem Grund, daß der Sozialismus seine einseitige Konzentration auf die ökonomischen Bedingungen aufgibt und sich der "geistigen Vertiefung" (24) zuwendet. D. h. für Key, "seine Theorien zu anarchisieren, nämlich das individualistische Moment wieder einzufügen." Das 'gelobte Land' bezeichnet sie als "das Land, wo die Ideen des Sozialismus sowie des Individualismus in einer höheren Einheit aufgehen werden." Sie entwickelt also das Bild einer Gesellschaft, in der frei von ökonomischen Zwängen eine freie Entfaltung der individuellen Möglichkeiten und Wünsche möglich ist.

Der pädagogische Schwerpunkt Keys lenkt den Blick auf eine zentrale Rolle in ihrem Gesellschaftsveränderungskonzept - auf die Rolle der Mutter, durch die bei Key Gesellschaft und Heim miteinander verknüpft werden. Die Formung der Gesellschaftsmitglieder, z. B. durch die Vermittlung von Werten, erfolgt im Heim durch die Mutter, d. h. in der Familie beginnt die Gestaltung der Gesellschaft bzw. die Vorbereitung ihrer Veränderungen, die aus dem Heim heraus in die Gesellschaft hineingetragen werden. Diese Verknüpfung von Gesellschaft und Heim, bzw. Familie drückt Key in dem Begriff der "samhällsmoderlighet" (Gesellschaftsmütterlichkeit) aus.(25) Beide, Gesellschaft und Familie, sind ungenügend entwickelt, um Keys Vorstellung vom glücklichen Zusammenleben zu ermöglichen. Und dieses "Ungenügend" führt sie auf die Position und die Rolle der Frau in der Familie und Gesellschaft zurück. Männer und Frauen hätten ihre jeweils eigenen aber gleichermaßen wichtigen Aufgaben in der Gesellschaft. Da Frauen aber bisher unzureichend integriert seien und ihre Aufgaben deshalb nicht ausreichend gewürdigt würden, sei auch die gesellschaftliche Entwicklung bisher unvollständig.(26)

Key zieht eine Parallele zwischen Gesellschaftsordnung und menschlichem Organismus. Wobei die Frau "das Gefühls-Organ" im gesellschaftlichen Organismus, der Mann das Hirn vertrete: Die Gesellschaft sei von unten bis oben "zweigeschlechtig", d. h. jede Funktion des gesamten Organismus betreffe alle seine Teile, die Teile aber seien jeweils nur für einzelne Funktionen zuständig. Die Gesellschaft, so wie Key sie jetzt beobachtet, sei einseitig gelähmt, so lange die eine Hälfte ausgeschlossen ist, ihren Beitrag zu leisten:

Da jede Zelle, die mittelbar oder unmittelbar am Aufbau des Gesellschaftsorganismus beteiligt ist, eine männliche oder eine weibliche ist, ist es undenkbar, daß eine höhere Organisation der Gesellschaft schließlich nicht auch einen zweigeschlechtigen Charakter hat. Gleich der Familie - dem ersten 'Staat' - sollte der Staat das männliche und weibliche Prinzip vereinen. Oder mit anderen Worten soll er eine 'Staats-Ehe' eingehen, und nicht wie bisher nur ein Staatszölibat sein! Nicht nur durch die eigenen Funktionen, sondern auch dadurch daß die männlichen Zellen nicht alles nach ihrem eigenem Gutdünken lenken, können die weiblichen nun ihren höchst möglichen Wert als Gesellschaftsmitglied erfahren.(27)

Die Gesellschaft stehe nunmehr vor mehr "zusammengesetzten Aufgaben." Der Wunsch nach veränderten Zuständen sei groß. Doch ließen sich diese nicht einfach nur durch neue äußere Verhältnisse oder durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse erzielen: Neue Zustände entstünden in erster Linie durch neue Menschen, neue Seelen, neue Gefühle. Sie setzten also ein erzieherisches Wirken voraus, für das Frauen besonders geeignet seien; besonders zu einer Zeit, in der Solidarität ein immer wichtigerer Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenlebens würde. Das gleichberechtigte Zusammenwirken vom "Gerechtigkeitsgefühl" der Männer und dem "Empfindlichkeitsgefühl" der Frauen sollte bewirken, daß die Gesellschaft nach den wirklichen Bedürfnissen gebildet werden kann. Die Berücksichtigung aller "Seiten" allein bilde noch keinen Zusammenhang - das wichtige sei die Harmonie zwischen den zusammenspielenden Teilen, weswegen die Aufgaben klar - nach Fähigkeiten - verteilt seien.(28)

Die gesellschaftliche Aufgabe der Frau nennt Key "samhällsmoderlighet" und baut damit bewußt einen Gegensatz zur privaten Wohltätigkeit auf. Wohltätigkeit richte sich an einzelne Personen, "aber alle Gesellschaftsarbeit, die sich auf das Ganze richtet, muß das recht-denkende so weit entwickeln, daß das wohl-machende verschwindet."(29) Das Ziel von "samhällsmoderlighet" definiert sie wie folgt:

Erst wenn der Begriff Armenpflege ausgetauscht wird mit Gesellschaftsförderung im Sinne von stolzbewahrender Selbsthilfe, Barmherzigkeit gegen Gerechtigkeit, Geduld gegen fordernde Beharrlichkeit (fordringsfullhet) - dann kann man sich einem menschenwürdigen Dasein für die Vielen nähern.(30)

Keys gesellschaftliche Reformidee findet ihren Ausgangspunkt also in der Familie - "dem ersten Staat" - und im harmonischen und schönen Heim. Sie beruft sich in ihren Texten auf Männer wie W. Morris, A. R. Wallace und Ruskin,(31) wenn sie soziale Harmonie und die Schönheit der Umgebung(32) als Voraussetzung dafür bezeichnet, daß ein Volk und seine Gesellschaft die von ihr angestrebte Stufe des "sozialen Staates" erreicht(33). Keys Vorstellungen von der guten bzw. schönen Gesellschaft zeichnen sich durch ihre "Äußerlichkeiten" im wahrsten Sinne des Wortes aus. Die richtige Umgebung werde schon den richtigen Menschen formen, der - wenn ihm nur alle Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung geboten würden - der sozial verantwortliche und gesellschaftlich nützliche Mitbürger sein wird. Der "soziale Staat" ist für Key in erster Linie eine Frage der Moral. Politik, Herrschaftsverhältnisse und Machtbalance sind nur solange ein Thema, wie die individuelle Entfaltung nicht gewährleistet ist. Darüber hinaus sind sie nur noch Mechanismen zur Regelung des Miteinander, die nicht mehr in Frage gestellt zu werden brauchen. Es scheint fast, die ideale Gesellschaft ergäbe sich von selbst, wenn die rechte Umgebung erst geschaffen ist, die bei ausgiebiger Pflege und hegender Zuneigung dann in einer Art von Automatismus den Rest, also die guten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie den dazu passenden Menschen formt. Das Individuum, auf dessen Selbstverwirklichung Key einen so großen Wert legt, wird von ihr in einen objektivierten, gesellschaftlichen Mechanismus eingefügt, der dann den rechten Weg zu eben dieser 'Selbstverwirklichung' vorgibt. Key spricht dem Einzelnen damit eigentlich die Fähigkeit wieder ab, seine individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten zu entfalten. Der Versuch, Individualismus und Sozialismus vereinigen zu wollen, mündet bei Key in einer stark idealisierten Oberfläche von Gesellschaft: Grundlegende Werte und Prinzipien bleiben ausgesprochen unscharf definiert. Key vermeidet jede Art der Festlegung und vertraut vielmehr auf die imaginären Kräfte der Schönheit, die den Menschen veredeln und damit auch die Veränderung der Gesellschaft vorantreiben sollen.

Die Wurzeln dieser natürlichen und schönen Gesellschaft verortet Key im schwedischen Bauernstand, der die "echte schwedische Gemütsart" verkörpert. Der Bauernstand soll die gebildeten Klassen nicht nur materiell - durch die Erträge seiner Arbeit - nähren sondern auch geistig, indem er die Werte vermittelt, die diejenigen, die eine gesellschaftliche Veränderung realisieren können, - die Intellektuellen oder "aristokratischen Radikalen" - umsetzen sollen:

In den Klassen, in denen man keine ökonomische Stellung oder ein soziales Ansehen zu verlieren hat, wo man auch keine Angst hat, verdächtigt zu werden, für lächerlich oder langweilig gehalten zu werden, wenn man über die Zukunft nachdenkt - von denen erwarte ich mir, nach einer oder zwei Generationen, die gebildete Linkspartei, die aristokratischen Radikalen. In rot bemalten Hütten und Dachkammern wächst das neue schwedische Volk heran, aus dem vielleicht einmal, wenn die Kultur die Naturkräfte geadelt hat, eine kleine Nation in der Nation herausgebildet werden kann, welche den guten Europäern ähnelt.(34)

Die Hervorhebung der Bauern als kulturelle - nicht aber politische - Träger der harmonischen Gesellschaft(35), ist zu Beginn des Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches. Gegen die zunehmende Kapitalisierung der Wirtschaft und den Einzug der marktähnlichen Ausleseverfahren auch im sozialen Bereich äußerte sich zunehmend antikapitalistische Kritik, in deren Schatten die agrarischen Traditionen der Bauerngesellschaft wiederbelebt wurden.(36) Das nostalgische Verlangen nach Heimat, nach der großartigen Natur und den greisen Vorvätern führte zu einer fast mystischen Verherrlichung des Heimes und eines stark idealisierten Bildes vom bodenständigen Bauern, der "strebsam, loyal, emsig arbeitend, pflichtgetreu, verantwortungsvoll und bereit [war], Monarchie und Vaterland zu verteidigen."(37) Diese neue Betonung von Heim(at)gefühl und die Rückbesinnung auf die vorhandenen nationalen Reichtümer (Natur, Tradition) wurden gesellschaftsübergreifend betrieben, wenn auch mit unterschiedlichen Absichten. Für die Konservativen war es eine Möglichkeit, den vergangen Geist des Obrigkeitsstaates aufleben zu lassen, Sozialdemokraten und Liberalen kam diese Rückbesinnung gelegen, um die soziale Integration der Arbeiter und die politische Gleichberechtigung durch allgemeines Wahlrecht voranzutreiben.

1914 findet in Stockholm schließlich eine große Bauerndemonstration ('bondetåget') statt, die von den Vertretern des Bauernkults als der heroische Höhepunkt der Idealisierung nationaler Traditionen und Wesenszüge bezeichnet wird. Die Bauerndemonstration selbst war ein hochpolitisches Ereignis, das im Streit um die nationale Verteidigung ein Zeichen setzen sollte. Die Bauern demonstrierten gemeinsam mit dem schwedischen König gegen die Pläne der liberalen Regierung, die Rüstungsausgaben zu kürzen. Aber anstatt die Nation um ein alles umspannendes und konservativ bestimmtes Interesse zu vereinigen, trug es eher zur Spaltung bei. Die Demonstration verschärfte den Machtkampf zwischen dem König und dem liberalen Regierungschef und sie polarisierte die politischen Auseinandersetzungen zusätzlich, parallel zum Streit um das Wahlrecht.(38)

Die Idealisierung verlorengegangener Wärme und Geborgenheit im Heim und der Sicherheit der bäuerlichen Kultur waren zu einem politischen Mittel der Konservativen geworden, um so eine Zeit wiederzubeleben, die vergangen war.(39) Sie hat zum anderen aber auch integrativ gewirkt und Orientierung geboten. Die Bauern existieren - abgesehen von der Bauerndemonstration - in dieser Zeit in erster Linie als Abbild von einer idyllischen und harmonischen Gesellschaft, umgeben von der reinen und weitgehend unberührten Natur Schwedens. Dieses Bild wurde besonders durch die Heimatvereine gepflegt und erhielt durch seine Präsentation in Museen, darstellender und musikalischer Kunst eine weite Verbreitung in der Bevölkerung, die das Potential hatte, die sozial gespaltene Nation in kultureller Hinsicht zu vereinigen. Nationale Symbole, wie die Flagge, eine Hymne, Trachten und Volkstänze stammen aus dieser Zeit, bzw. wurden durch den Bauernkult populär gemacht. Trotz der großen sozialen Gegensätze - Politiker sprachen z. B. von den zwei Nationen in Schweden(40) - wurde so ein kulturelles Fundament geschaffen, an dem auch die Arbeiterbewegung teilhatte.

Emigrationsfrage und nationales Heim

Die Veränderungen im ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Bereich,(41) die den Einzug der Moderne vorbereiteten, blieben auch von national-konservativer Seite nicht unbeantwortet. Das "alte" (Großmachts-)Schweden war in die Jahre gekommen, kaum noch beweglich, nur noch schwach und wenig lebensfähig; es bedurfte der Wiederbelebung - aber unter konservativen, traditionellen Vorzeichen. Für die Konservativen war der Zollstreit in den 1880er Jahren das Startzeichen für die Rückeroberung nationaler Themen - diesmal mit ökonomischen Motiven(42). Im Verlaufe des Zollstreits vereinigten sich die Ideen des ökonomischen Protektionismus und des Wertkonservatismus zu einer sozialdarwinistischen Auffassung von Handel, dessen zentrales Merkmal die aggressive Konkurrenz zwischen den Ländern war. Im Kampf um einen gesicherten Platz im Welthandel mußte Schweden - nach konservativer Meinung - die eignen Ressourcen mobilisieren und sich loyal zur Nation verhalten. Diese 'nationale Sammlung' konservativer Kräfte, aus den Bereichen Industrie, Landwirtschaft und Beamtentum, fand unter der Parole "Sverige åt svenskarna" (Schweden den Schweden) statt. Ein weiteres Thema, das die nationale Sammlung zur Jahrhundertwende bestimmte, war der Unionsstreit mit Norwegen, den viele als Bedrohung des nationalen Fundaments empfanden. Nach der Auflösung der Union durch die Norweger verblieben den Konservativen nur noch innenpolitische Themen zur Sammlung der Nation, wie die stetig steigende Emigration(43) und die Auseinandersetzung mit Sozialdemokraten und Liberalen um die Demokratisierung der Staatsbürgerrechte. Diese Auseinandersetzungen wurden mit dem Bewußtsein geführt, die Gestaltungsmacht über die Zukunft erobern zu wollen.

Das neue konservative Projekt, dessen Ideengeber Harald Hjärne und Rudolf Kjellén waren, bestand hauptsächlich aus taktischen Zugeständnissen in bezug auf soziale Reformen, um so die Entwicklung des 'neuen Schweden' nach eigenen Vorstellung lenken zu können.(44) Hauptbestandteil des Projekts war eine aktive Bevölkerungspolitik als Mittel gegen die Emigration und eine Sozialgesetzgebung, die für (soziale) Ruhe in der Bevölkerung sorgen sollte. Motiviert wurde das Programm mit der nationalen Orientierung gegen die Not und für die Schaffung eines "neuen Schweden, stärker und glücklicher als das alte".(45) Damit war in der konservativen Ideologie die Abkehr von der bisher herrschenden Rechtstradition, die den Staat aus der sozialen Problematik herausgehalten hatte, vollzogen.(46)

Die wichtigsten Elemente der 'nationalen Sammlung' werden 1908 in Kjelléns "unghögerprogram"(47) (Programm der Jungkonservativen) dargelegt. Die Forderung nach der Erweiterung des Wahlrechts sowie nach ökonomischen und sozialen Reformen werden ausschließlich mit nationalen Motiven begründet. Das Programm soll zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, d. h. Gegner sowohl auf der linken als auch auf der traditionell-rechten Seite herausfordern: Gegen die "Kameradschaft des Sozialismus", die ausschließlich von klassenegoistischen Zielen gelenkt wird, setzt Kjellén nationale Solidarität, gegen die Unbeweglichkeit der "verbraucht-konservativen" (gammalhöger) Kräfte "progressive Politik"(48).

Das "Arbeitsprogramm" der Schrift wird als positive Alternative zum sozialdemokratischen Reformprogramm vorgestellt. Vier Bereiche stellt Kjellén in den Vordergrund seines Forderungskatalogs: Wahlrecht, Bevölkerungsfrage, nationale Wirtschaftspolitik und Sozialgesetze. Das soziale und ökonomische Programm hat eine stark antiliberale Färbung. Kjelléns Ziel ist die Stärkung des Reiches, nicht das Wohlergehen des Volkes. Die grundlegenden Werte des Programms sind konservativ, und auf die Bewahrung der bestehenden Ordnung ausgerichtet, während die Instrumente für konservative Vorstellungen ungewohnt radikal sind. Diese Radikalität wird dadurch abgeschwächt, daß sich die Maßnahmen in erster Linie an die Bauern und die mittleren Schichten wenden. Die Reichweite des Programms ist also auf die natürlichen Träger der 'nationalen Sammlung' beschränkt.(49)

Eine zentrale Stellung in dem Programm nimmt die Emigrationsfrage ein(50):

Schwedens Problem ist [&133;] die Unterbevölkerung. Wir sind gewiß glücklich über, [&133;] den Besitz eines Kolonialreiches innerhalb unserer eigenen Grenzen [&133;] Durch innere Anstrengung kann zurückgewonnen werden, was nach außen verloren wurde, das mußte der Hauptgedanke in der schwedischen Politik nach 1905 gewesen sein [&133;] Und die Eroberungen liegen hier nicht auf dem Grund des Meeres und der Seen oder auf dem Feld der Ehre, vielmehr liegt sie vor uns in Gestalt jungfräulichen Landes mit unendlichen Möglichkeiten, das wie eine Schatzkammer mit all seinen Reichtümern winkt, zu dessen lange verschlossene Türen uns die moderne Technik den Schlüssel geschmiedet hat. Diese Türen zu öffnen und die Schätze in den Dienst der Menschheit zu stellen - unser leeres Land zu einem Heim der Menschen zu machen, die Voraussetzungen für ein großes Volk in einem großen Land zu schaffen - das sind die Aufgaben, die vor uns liegen.(51)

Zur Eindämmung der Emigration werden Maßnahmen wie Steuererhöhungen, um die Überfahrten in die USA zu verteuern, höhere Sicherheitsmaßnahmen für die Schiffe und die Behinderung der Auswanderungsagenturen, die für die Emigration werben, Arbeit sowie Grundstücke in Übersee vermitteln, vorgeschlagen. Außerdem sollen Anreize zum Bleiben geschaffen werden, u. a. finanzielle Unterstützung für Familiengründungen und den Bau von Eigenheimen. Zusätzlich werden Maßnahmen gefordert, die die Rückkehr aus der Emigration vereinfachen bzw. dazu ermuntern sollen. Im Bewußtsein, daß diese Maßnahmen allenfalls eine Milderung der Situation herbeiführen können, betont Kjellén, daß ergänzend die nationale Ökonomie gestärkt werden müsse.(52)

Eine noch größere Rolle für die konservative Handhabung der Emigrationsfrage spielte Adrian Molin (1880-1942). Molin gibt 1905 Svenska spörsmål och kraf (Schwedische Fragen und Herausforderungen) heraus. Er vereinigt in dieser Schrift - noch konsequenter als Kjellén - konservativ-nationalistische Ziele mit radikalen Mitteln.(53) Er schreckt nicht vor radikalen Eingriffen in die bestehende Gesellschaftsordnung zurück, um die grundlegenden Ziele zu erreichen, welche sind: "die unverletzliche Einheit der Familie, die soziale Gesundheit des Volkes und geistige Gesundheit, die Größe und Stärke des Staates." Er verbindet die Ziele nicht nur damit, den nationalen Zusammenhang stärken zu wollen sondern auch ausdrücklich mit der Forderung nach Beseitigung des "himmelschreienden Elends." Der Staat soll aktiv in die Bevölkerungsentwicklung und Agrarpolitik eingreifen, wozu er gestärkt und von kapitalistischen Interessen befreit werden müsse:

Dies konnte nur durch die Akzeptanz der Demokratie verwirklicht werden, nicht als der Endpunkt dieser Entwicklung, aber als eine Übergangsform, ein Mittel, die 'derzeitigen kapitalistischen Fehlentwicklungen der Gesellschaft' abzuschaffen.(54)

Molin ist Mitbegründer der "Nationalföreningen mot emigration" (Nationalvereinigung gegen Emigration), die am 1907 auf private Initiative hin gegründet wurde. Die Nationalvereinigung bestimmte als erstes Ziel, die Solidarität zwischen dem Land Schweden und seiner Bevölkerung zu stärken, um die Auswanderung zu bremsen. Außerdem wollte sie über die wirklichen Verhältnisse in den USA aufklären, um die großen Illusionen über das "gelobte Land" zu relativieren. Die Vereinigung wurde überwiegend von konservativen Reichstagsabgeordneten unterstützt und erhielt nach längeren Debatten staatliche Unterstützung zur Finanzierung ihrer Tätigkeiten.(55) Zusätzlich zur Aufklärungstätigkeit versuchte sie, auch direkt tätig zu werden, indem sie Arbeitsplätze und günstige Kredite für den Erwerb eines eigenen Hauses vermittelte. Sie arbeitete eng mit der Eigenheimbewegung zusammen, die sich zum Ziel gesetzt hatte, das eigene Land zu "kolonialisieren"(56).

In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts wurden erste Forderungen nach einer staatlichen Untersuchung der Ursachen für die hohen Auswanderungsquoten laut. 1907 beschloß der Reichstag, eine solche Untersuchung durchzuführen. Beabsichtigt war die soziologische, ökonomische und statistische Erfassung der allgemeinen Lebensbedingungen in Schweden, um eine objektive Grundlage für politische Entscheidungen zu schaffen. Der zweite Teil der Untersuchung sollte sich mit den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen in den USA beschäftigen, um daraus Ansätze für ein Aufklärungsprogramm und Inspirationen für eigene Reformen zu schöpfen.(57)

Ziel all dieser Maßnahmen war die Konsolidierung der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie wurden in der Regel von einer breiten politischen Basis getragen, aber von jungkonservativer Seite als politisches Mittel genutzt, ein nationales Heim unter konservativen Vorzeichen zu gründen. Der geistige Architekt dieses nationalen Heimes war Rudolf Kjellén.

Rudolf Kjellén (1864-1922) war einer der prominenten Vertreter des sogenannten Professorenkonservatismus zur Jahrhundertwende in Schweden. Er war Professor für Staatswissenschaft in Göteborg und Uppsala und außerdem aktiv als konservativer Politiker, sowohl schreibend für die konservative Presse als auch als gewählter Abgeordneter im Reichstag.(58) Sein Auftreten als Wissenschaftler und als Politiker ließen sich nicht voneinander trennen. Als Staatswissenschaftler wurde er direkt von seinen politischen Überzeugungen inspiriert und beeinflußt; seine politische Meinungsbildung war stark geprägt von seinem wissenschaftlichen Standpunkt. Er benutzte 1915 die Metapher des Volksheimes als Sinnbild für Gemeinschaft und Zusammenarbeit, für "nationell gemenskap" (nationale Gemeinschaft). Sein Ziel war es, Schweden zu "dem glücklichen Volksheim, zu dem es bestimmt ist zu werden.(59)" auszubauen.

Kjelléns Grundeinstellung begründete sich in seinen Erfahrungen und Beobachtungen des Unionsstreits in den 1890er Jahren. Diese überzeugten ihn davon, daß Geschichte nur zu einem minimalen Anteil von bewußten, menschlichen Handlungen bestimmt werde. Die ausschlaggebende Kraft für den Verlauf von Geschichte gehe von "natürlichen, blinden Gesetzen" aus.(60) Kjelléns wissenschaftliche Bemühungen konzentrierten sich darauf, diese Auffassung auf den Staatsbegriff zu übertragen. Für Kjellén war der liberale Rechtsstaat, der die Union nicht bewahren konnte, überholt. Ziel müsse deshalb sein, ihn zum modernen Machtstaat weiter zu entwickeln. Diese Grundüberzeugung vom Staat führte zur Erweiterung des Fokus der Staatswissenschaften auf 'Politik im weitesten Sinne' und endete bei Kjellén in der Ausformung einer umfassenden Theorie über das politischen System.(61)

Kjelléns Grundbaustein des Systems ist die Nation. Die Nation ist bei Kjellén "ein lebendes Wesen, eine natürliche, sich entwickelnde Einheit der vielen Individuen, eine Gemeinschaft in Charakterzug und Sitten, in Sprache und Denkweise, in Gefühlen und Bedürfnissen, in Erinnerungen und Hoffnungen."(62) Zentral für sein Verständnis von Nation ist der organische Volksbegriff und der damit verbundene Traditionalismus, d. h. Volk, Nation und Vaterland stehen bei Kjellén synonym für sowohl ein lebendes, persönliches Wesen als auch für die Einheit von einer Vielzahl von Generationen: "Das Vaterland umfaßt nicht nur die nun lebenden Millionen sondern auch die Toten und die ungeborenen Millionen."(63) Tradition ist bei Kjellén das Verbindungsstück zwischen den lebenden, toten und ungeborenen Teilen des nationalen Körpers. Sie ist zwar Ausgangspunkt seiner ideologischen Konstruktion, aber eindeutig der Zukunft zugewandt. Tradition verkörpert den "Nationalgeist" (nationalanda), der allen Zeitgeist-Phänomenen vorzuziehen sei.(64)

Nationen sind Organismen im biologischen Sinne:

Das einzige Feststehende bei ihnen [den Nationen, V.H.] sind die Interessen, die Vorurteile und die Triebe: der Trieb zur Selbsterhaltung und zum Wachstum, der Wille zum Leben und der Wille zur Macht. Es soll keineswegs geleugnet werden, daß auch altruistische Neigungen vorhanden sind, und diese können bisweilen überaus mächtig werden, aber sie machen sich in der Regel nur geltend, wenn sie den egoistischen Neigungen nicht erkennbar widersprechen. Die Selbsterhaltung steht in der Begriffswelt der Nation an erster Stelle. Die Nationen als solche sind im Grunde reine Naturwesen, die in der Geschichte nicht objektive Wahrheit und Recht wollen sondern sich und das Ihre.(65)

Die Nation ist also hauptsächlich von "amoralischen Trieben" beherrscht, die vom Staat als "moralischem Regulator" (66) gesteuert werden müssen. Staat und Nation bilden eine Symbiose: Der Staat dient der Nation, indem er ordnend eingreift und kontrolliert. Die Nation verleiht dem Staat die "Persönlichkeit", die ihn vom abstrakten Wesen zum lebenden, allem übergeordneten Organismus macht.(67)

Der organischen Auffassung vom Staat liegt ein kollektivistisches Verständnis von Gemeinschaft zugrunde, d. h. die eigenen Interessen des alle umfassenden Organismus sind denen seiner (Mit-)Glieder übergeordnet. Kjellén liefert damit eine klare Abgrenzung zu liberalen Ideen, z. B. 1910 in "Partier och ideér" (Parteien und Ideen): "Die Zukunft gehört der kollektivistischen Idee des Sozialismus mit seiner Betonung der Staatsmacht anstelle des Rechts des Einzelnen."(68) Um sich wiederum von den schwedischen Sozialdemokraten abzugrenzen, deren Form von Sozialismus Kjellén eher als Bedrohung der Nation empfindet, charakterisiert er den Kollektivismus-Begriff mit Worten wie Organisation und Disziplin und schließt dabei diejenigen übergeordneten Personen oder Institutionen ein, die das Organisieren und Disziplinieren übernehmen.(69)

Das zukünftige Gemeinschaftsideal, das Kjellén vorschwebt, wenn er für eine Wahlrechtsreform wirbt, ist das der "korporativen Repräsentation."(70) Mit dieser Form des Regierens verbindet Kjellén ein gestärktes Staatswesen, das Parteien überflüssig machen würde. Die Grundidee ist, daß gewisse, für den Staat besonders wertvolle, Bevölkerungsgruppen stärker repräsentiert würden als andere - also in der Praxis die Arbeiterinteressen durch ungleiche Machtverteilung zurückgesetzt würden. Kjelléns Eintreten für demokratische Rechte ist getragen von pragmatischen Gründen zur Erhaltung der nationalen Einheit und weniger von der Einsicht in demokratische Grundwerte als solche.(71)

Die Staatsbürgergesellschaft, wie Kjellén den Zustand Schwedens nach der Jahrhundertwende charakterisiert, gründe sich unmittelbar auf die Individuen sowie auf die Prinzipien von Liberalismus und Naturrecht, d. h. die Einzelnen schließen sich nicht in solidarischen Gemeinschaften zusammen sondern auf der Grundlage von egoistischen Interessen, womit die Staatsbürgergesellschaft das eigentlich Prinzip von Gesellschaft wieder aufhebe(72): "Ihr Wesen ist in sozialer Hinsicht auflösend, niederreißend, ausgleichend. Sie verschüttet den Platz, wo die Ständegesellschaft stand; jedoch baut sie nichts Neues und Positives auf."(73) Die Staatsbürgergesellschaft ist für Kjellén aus diesem Grunde nur ein Durchgangsstadium zu einer neuen organischen Form der Gesellschaft, die auf der Grundlage von Assoziationen (aufgebaut auf dem Prinzip der Arbeitsteilung als Fachgenossenschaften) gegründet wird.(74) Voraussetzung für ein harmonisches Zusammenleben der unterschiedlichen Klassen, "die notwendiges Produkt der Kulturentwicklung sind", sei die Anerkennung der Interessengruppen und "verschiedenen Naturtypen und Wirtschaftsinteressen". Diese Anerkennung, die nicht mit Gleichstellung verwechselt werden darf, ebne der Nation den Weg zur vollständig sozialen und harmonischen Organisation:

Dieses Gefühl der Harmonie nenne ich Sozialität. Man sieht sofort die Analogie mit der Nationalität, die Solidarität im Volk bedeutet, ebenso mit der Loyalität, die Solidarität unter dem Gesetz ist. Die organische Gesellschaft hat ihre Einheit, wie die nationale Einheit, in einer Vielheit gleich der des Reiches und der des Haushalts. Zu ihrer Vermählung mit dem Staate bringt sie als Mitgift die feste, konkrete Realität lebender Interessen mit und empfängt dafür vom Staat als Morgengabe den Zügel für den Egoismus, dessen die Klassen ebenso dringend bedürfen wie die Nation, wenn sie zum Dienste einer ruhigen Entwicklung tauglich werden wollen.(75)

Der Grad an Sozialität ist Maßstab für Stabilität im Staat. Einzelne Klasseninteressen könnten anstreben, die Macht über den Staat zu erlangen, um so einseitig ihre Interessen durchzusetzen. "So muß der moderne Staat einen Kampf auf zwei Fronten führen, um im Namen der 'Allgemeinheit', die durch dieses Übergewicht der Klasseninteressen Schaden leidet, sein einheitliches und obrigkeitliches Interesse zu wahren."(76) Dieser Kampf richtet sich also nicht nur nach außen gegen die Bedrohung von anderen Staaten sondern auch in besonderem Maße nach innen gegen die in der Gesellschaft vorhandenen Einzelinteressen. Den Klassenkampf aufzuheben ist unmöglich, das würde dem Prinzip der Vielfalt widersprechen. Also hat der Staat die Aufgabe ("die von höchster politischer Dringlichkeit ist"), den Klassenkampf zu mildern, auszugleichen und zu versöhnen. Dabei hat der Staat eine neutrale Position einzunehmen, die sich aus den objektiven, nationalen Zwecken bestimmt. Der Staat kann sich bei dieser Aufgabe auf zwei Gesellschaftsklassen stützen, die er selbst geschaffen hat: die Armee und die Beamten. Der Staat ist demnach die alles zusammenhaltende Klammer.

Hiermit ist der Charakter des Staates ganz klar erkennbar. Die Nation hat Empfindungen, die Gesellschaft (und der Haushalt) hat Interessen; die Herrschaft hat Pflichten. Dem sinnlichen Wesen der Nation setzt der Staat in der Herrschaft sein vernünftiges Streben entgegen, dem Klassenkampf und der Unfreiheit der Gesellschaft seine dauerhaften Institutionen wie auch seine rechtlich geschützte Freiheit. Die Herrschaft ist also der Kernpunkt der Kulturseite des Staates, wo er die Übermacht der Natur und des Triebes mit zielbewußtem und freiem Handeln zu überwinden sucht.(77)

"Nu bygger vi den nya tid"(78):
Das sozialdemokratische Volksheim

Das Volksheim tritt unter sozialdemokratischen Vorzeichen als Wahlkampfslogan auf die politische Bühne. Dieses Schlagwort sollte zunächst die nationale Einigung der Klassen verbildlichen: Die gleichberechtigte Vereinigung der 'zwei Nationen' unter einem Dach. Hansson benutzte den Begriff seit 1921 in öffentlichen Wahlkampfauftritten und -broschüren. 1928 hielt er im Reichstag die - inzwischen zum Standardzitat mutierte - Rede, in der er die Vision vom Volksheim als erstrebenswerte Form von Gesellschaft formulierte. Im folgenden werde ich zunächst diese Entwicklung vom Schlagwort zur Vision anhand der beiden Reden von 1921 und 1928 sowie einer Wahlkampfbroschüre von 1926 analytisch nachvollziehen und den Begriff des 'Heims' metaphorisch deuten, bzw. verschiedene Deutungsangebote vorstellen. Dieser Analyse des begrifflichen Entwurfs einer Gesellschaft schließt sich dann die politische Bestimmung an, d. h. ich werde die Vorstellungen von der gesellschaftlichen Erneuerung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren von den Sozialdemokraten in starken innerparteilichen Auseinandersetzung über die zukünftige Parteilinie formuliert wurden, den Schlüsselbegriffen des Volksheimes zuordnen. Die Vision von einer gerechten Gesellschaftsform läßt sich nur verwirklichen, wenn sie für die existentielle Absicherung der Mitglieder sorgen kann. Die Überlegungen und Ideen von dem späteren Finanzminister Ernst Wigforss entwerfen u. a. ein ökonomisches System, das in der Lage sein sollte, im Rahmen eines Hansson'schen Volksheimes für Wohlstand und soziale Sicherheit zu sorgen. Die sozialpolitischen Grundlagen für dieses System wurden schließlich vom Ehepaar Myrdal geliefert, die mit ihrem programmatischen Warnruf in Kris i befolkningsfrågan 1934(79) für die perfekte inhaltliche Auskleidung des virtuellen Heimes sorgten, weswegen ihnen der abschließende Teil dieses Abschnittes gewidmet ist.

Die Vision

Im Wahlkampf von 1921 ging es noch darum, die Arbeiter für die bevorstehenden Wahlen zu mobilisieren.(80) Die Stimmung im Land war so angespannt, daß der Wahlsieg für die Sozialdemokratische Partei (SAP) im Bereich des Möglichen lag. Es galt also, den Wählern klar zu machen, daß sie die Entscheidungen über Zölle, Steuern und Arbeitszeitregelungen in ihrem Interesse beeinflussen konnten, wenn sie zur Wahl gingen. In einer Wahlrede in Stockholm fügt Hansson kurz vor dem Ende - abweichend zu vorherigen Auftritten - einen Appell an, sowohl an die Wähler als auch an die potentiellen Gegner der Sozialdemokratie, in dem er dazu aufforderte, Schweden zu einem guten Heim für alle seine Bürger zu machen. Er führte eine Metapher in den Wahlkampf ein, die eine positive Wirkung bei den Zuhörern auslöste: In Zeitungsberichten wurde von Bravorufen und Applaus als Reaktion berichtet.(81)

Hansson betont in diesem Ende der Wahlrede die patriotische Haltung der schwedischen Sozialdemokraten - "es gibt keine Partei, die vaterländischer ist als die SAP", um so zu signalisieren, daß die schwedische Sozialdemokratie nationale Politik verfolgen will und sich nicht unbedingt als Teil einer sozialistischen Weltrevolution betrachtet. Gleichzeitig ist dies natürlich eine Kampfansage an die Konservativen, die bisher alleine 'die Nation' für sich beansprucht haben. Er bietet seine Partei auch anderen, bürgerlichen Wählergruppen als wählbar an und gibt eine klare Verpflichtung aus: Auf demokratische Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse gerechter zu gestalten. Um dieses Ziel zu verdeutlichen, zieht er eine Parallele zur Familie und ihrem 'Heim': Den Kindern der Gesellschaft müsse das Gefühl gegeben werden, hier in Schweden zu Hause zu sein, was nur möglich sei, wenn sie alle gleichermaßen behandelt würden, wenn alle die gleichen Möglichkeiten bekämen. Es dürfe keine Stief- und auch keine Hätschelkinder geben. Wörter, die einen Bezug zum Heim und zur Familie herstellen, ziehen sich durch den ganzen Text und geben den Zuhörern die Möglichkeit, sich selbst wiederzuerkennen bzw. in den geschilderten Zusammenhang einzuordnen. So z. B. wenn Hansson die stiefmütterliche Behandlung ganzer Bevölkerungsgruppen für die Emigration der jungen Schweden verantwortlich macht. Familie und Nation werden in der Rede so miteinander verwoben, daß sie praktisch zusammenfallen: Auch der Arbeiter soll Teil dieser Familie werden, wobei nicht nur die Familie/Nation bereit sein muß, die 'Stiefkinder'/Arbeiter aufzunehmen; die Arbeiter müssen auch bereit sein, die Nation als ihre Familie anzuerkennen. Hansson streut das deutliche Signal aus, das die SAP nicht nur eine gesellschaftlich integrierende Kraft sein will - sondern auch die Einzige dazu fähige sei. Die Vision ist 1921 noch sehr allgemein formuliert. Die Betonung des Nationalen bezieht zwar alle ein und der Bezug zur Familie ist auch für alle (be-)greifbar - doch bleibt das Bild der zukünftigen harmonischen Familie/Gesellschaft noch sehr allgemein.

In einer Wahlkampfbroschüre von 1926 wiederholt sich dieses Motiv der Nation/Familie in einem gemeinsamen Heim/Gesellschaft:(82)

Schweden ist immer noch eine Klassengesellschaft, in der die großen Massen in Not und Unsicherheit leben. Schweden ist immer noch nicht das gute Heim für alle Schweden. Damit es das werden wird, muß es von und für die großen Massen des Volkes erobert werden.(83)

Hansson betont, daß diese Eroberung gegenseitig geschehen müsse, d. h. das Volk erobert das Land, indem sich seine Mitglieder gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben beteiligen können, und das Land erobert das Volk, indem durch "tatkräftige Fürsorge" die latent vorhandene Vaterlandsliebe wieder aktiviert wird. Soziale und wirtschaftliche Sicherheit seien die Schlüssel für die gegenseitige Öffnung und Zuwendung.(84)

Das Familienbild ist in dieser Broschüre nicht so deutlich. Es geht nicht so sehr um das Wiedererkennen, bzw. sich wiederfinden als vielmehr um einen Mahnruf nach Sicherheit - also einen persönlichen Appell an die Verbesserung der realen Situation. Der Begriff des 'Heims' ist spärlicher aber geschickt gestreut. Er taucht an den zentralen Stellen des Textes auf und ist in der Regel mit der konkreten Forderung nach einer gesicherten und harmonischen Zukunft verbunden. Hansson gibt erste Hinweise auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, die diese fehlende Sicherheit garantieren sollen. Er formuliert die Forderung nach sozialer und ökonomischer Demokratie als Voraussetzung für die 'Eroberung' Schwedens (der Nation, des Staates) durch die Schweden (die Gesellschaft, die Bürger).(85)

Der vielzitierte Debattenbeitrag Hanssons von 1928(86) ist so etwas wie eine Zusammenfassung und Konzentrierung der anderen hier besprochenen Texte. Das 'Heim' ist inzwischen eine etablierte Analogie für Gesellschaft; Hansson weist darauf hin, daß es ein beliebtes Bild konservativer Kräfte sei, um den Massen das Pflichtgefühl gegenüber der Allgemeinheit einzuprägen: Die Pflicht bzw. Schuldigkeit, für die Allgemeinheit Lasten zu tragen und Opfer zu bringen. Die konservative Heim-Metapher beschreibt also eine sehr einseitige Beziehung, wovon sich Hansson versucht zu distanzieren, wenn er die Bedeutung der Allgemeinheit für den Einzelnen, bzw. die gegenseitige Verpflichtung, hervorhebt. Die Beziehung untereinander beschreibt er nicht als 'Einbahnstraße' sondern als ein Austauschverhältnis, das Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit begründet. Die Werte, die in diesem 'guten Heim' herrschen sollen, bezeichnet er als Gleichheit, Umsicht, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft. Schweden aber sei noch nicht das "gute Mitbürgerheim"; zwar biete es formelle Gleichheit in bezug auf die politischen Rechte, "aber sozial besteht immer noch eine Klassengesellschaft und ökonomisch herrscht die Diktatur der Wenigen"(87). Diese Trennungslinien teilten das Land in zwei gegensätzliche Pole bzw. Klassen ein: In Hätschelkinder - Stiefkinder; reich - arm; privilegiert - zurückgesetzt usw. Um dieses Bild noch deutlicher zu zeichnen, überträgt er diese Zweiteilung der Gesellschaft auf die bestehenden Wohnverhältnisse: Das 'virtuelle Heim' der Gesellschaft wird im realen Heim der Wohnverhältnisse plaziert. Hanssons Vision ist hier also konkreter auf die reale Alltagssituation der Bürger bezogen, wenn er die Ungerechtigkeit der Wohnungssituation und ihre alltäglichen Ängste vor dem morgigen Tag, vor Krankheit und Arbeitslosigkeit anführt. Zusammenfassend formuliert er die Art, wie die schwedische Sozialdemokratie diese Vision des 'guten Heims' verwirklichen will:

Soll die schwedische Gesellschaft ein gutes 'Mitbürgerheim' (medborgarhemmet) sein, dann müssen die Klassenunterschiede beseitigt, das soziale Netz ausgebaut werden, ein ökonomischer Ausgleich stattfinden, der Anteil der Arbeiter auch in der ökonomischen Verwaltung vergrößert, die Demokratie sowohl sozial als auch ökonomisch umgesetzt werden.(88)

Die Volksheim-Metapher ist in die Zukunft gewandt - sowohl die Nation als auch die Gesellschaft einbeziehend, indem er den Entwurf seiner Vision mit den gegenwärtigen Zuständen kontrastiert und betont, daß dieser Zukunft nur sich widersprechende Interessen entgegenstehen. Hansson bringt die ideologischen Auseinandersetzungen der politischen Lager auf die von Alltagserfahrungen gestützte Ebene widerstreitender Interessen und bietet gleichzeitig einen integrierenden bzw. vereinnahmenden Raum, den des Heimes und der Familie. Der Begriff des 'Heims' ist eng mit der Familie verwoben. Er strahlt Wärme, Harmonie und Geborgenheit aus, appelliert also direkt an das Gefühl und erfüllt damit eine entscheidende Funktion von politischer Metaphorik, nämlich die emotionale Ansprache.(89)

Isaksson zählt zahlreiche Beispiele dafür auf, daß die Heim-Rhetorik in der schwedischen Sozialdemokratie nicht ungewöhnlich ist und führt dies hauptsächlich auf Karl-Erik Forsslund zurück, der zur Jahrhundertwende starken Einfluß auf die sozialdemokratische Jugendbewegung und Bildungsvereine hatte. Forsslund war Begründer der Heimatbewegung und hat in einem Roman das Bild von einem Einheitsreich entworfen, in dem das Heim "die kleinste Zelle des vereinigten Reiches, zentraler Mittelpunkt unserer kreisenden Bahnen, Zentrum unserer Gesellschaft"(90) darstellte. Neben der Heim-Metaphorik zur Jahrhundertwende gibt es zu dieser Zeit in der Arbeiterbewegung zusätzlich praktische Diskussionen über die rechte Pflege des Heimes, bzw. des Lebens im Heim (in der Familie), die in der Gründung von regelrechten Haushaltsschulen für Arbeiterfrauen mündeten.(91) Das 'Heim' hat also immer schon einen konkreten Bezug zum alltäglichen Leben gehabt und war in der Arbeiterbewegung auch von Anfang an Teil des Erziehungsauftrags zum guten Bürger für die moderne Gesellschaft.(92) Isaksson bezeichnet als einen entscheidenden Unterschied zwischen konservativer und sozialdemokratischer Heim-Rhetorik, daß die Sozialdemokraten den Gleichheitsauftrag betonten, während die Konservativen ausschließlich die Erziehung von oben nach unten in Betracht zogen. Die Sozialdemokraten haben über diese Fixierung auf Gleichheit aber 'vergessen', daß auch ihr Bild vom 'Heim' immer stark erzieherisch und patriarchal gewesen ist.(93) Isaksson bezeichnet Hansson als den Mann, den die Zeit fand. Er war nicht der Erfinder der Heim-Metapher, aber er war derjenige der ihr Potential erkannt hat, durch das die Nation mit sozialdemokratischen Ideen versöhnt werden konnte.

Die Elemente

Hansson beschreibt sein Volksheim als einen Ort, an dem "Gleichheit, Umsicht, Zusammenarbeit, Hilfsbereitschaft" herrschen. Welcher Begriff von Politik und Gesellschaftsorganisation versteckt sich hinter diesen Zuordnungen und wie äußert er sich in sozialdemokratischer Gesinnung? Was verbirgt sich hinter den Begriffen und welche Vorstellung von Gesellschaftsreform verfolgen die schwedischen Sozialdemokraten? Als Hansson 1921 beginnt, den Begriff des Volksheimes in die politische Rhetorik der Sozialdemokratie einzuführen, besteht innerhalb der Partei selbst noch keine Einigung darüber, in welche Richtung sich sozialdemokratische Politik bewegen soll (Reform oder Revolution) und auf welcher Basis sie ihr Selbstverständnis gründen soll (Volks- oder Klassenpartei).

Doch die Etablierung als parlamentarische Partei verlangte von der SAP, ihre Ziele und ihr Politikverständnis neu zu definieren. Die zentrale Frage ideologischer Klärung rankte sich um die Selbstbestimmung als Klassen- oder Volkspartei.(94) Die zwanziger Jahre waren die entscheidende Phase innerparteilicher Diskussion über die zukünftige Richtung. Die Themen, anhand derer die SAP die Richtungsentscheidung treffen mußte, waren die soziale Frage, die Verteidigungsfrage und inwieweit Sozialisierungsmaßnahmen die Umwandlung der Gesellschaft vorantreiben sollten.(95) Die Sozialisierung der schwedischen Industrie war seit 1897 Teil des Parteiporgramms. Als die SAP ihre erste Minderheitsregierung bilden konnte, beauftragte sie eine staatliche Kommission, um die Voraussetzungen und möglichen Wege der Umsetzung dieses Programmpunktes zu untersuchen.(96) Doch waren sie mit ihrer Zukunftsvision der 'sozialisierten Gesellschaft' nicht sonderlich erfolgreich bei den Wählern.(97) Die Frage nach Sozialismus oder Demokratie versuchte die SAP mit der Vereinigung von Sozialismus und Demokratie zu beantworten, d. h. der Ausbau der sozialistischen Gesellschaft sollte durch sukzessive und demokratisch legitimierte Reformpolitik erfolgen. Nils Karleby leistete die ersten Schritte zur ideologischen Vereinigung der Konzepte und zur nationalen Versöhnung der sozialen Klassen.(98) In Demokratins sociala problem (1918) erklärt er, daß gerade Demokratie die Voraussetzung für die Lösung der sozialen Probleme sei. Die Zukunft müsse auf Gesetze gebaut werden, die Ausdruck des allgemeinen Willens sind. Der Staat habe dabei kein Recht, sich direkt in die ökonomischen Bereiche einzumischen. Das Ziel ist volkswirtschaftliche Effektivität; und nur um diese zu erreichen und zu bewahren, wird staatliches Handeln bzw. Eingreifen durch Gesetze befürwortet:

In dem Maße, in dem der Staat ökonomisch tätig sein soll, in dem Maße muß er sich zu einem Geschäftsmann entwickeln. Ist der Staat nicht in der Lage, auf einem freien Markt mit den Privatunternehmen zu konkurrieren, fehlt jede Voraussetzung für die ökonomische Tätigkeit des Staates. Letztendlich wird das Volk dafür zahlen müssen, wenn ein unwirtschaftliches Unternehmen durch Subventionen gestützt wird anstelle eines, das billiger und effektiver funktioniert. Eine arme Gesellschaft, in der das Bemühen der Individuen, das beste zu schaffen, ersetzt wird durch das Eingreifen von 'Papa' Staat, wird sich schnell zu einer armen Parasitengesellschaft entwickeln. Es muß nur dafür gesorgt werden, das die 'freie Initiative' nicht wie bisher in eine große ökonomische Tyrannei mündet.(99)

Karleby propagiert den eher liberalen Grundgedanken, daß der Staat nur sicherzustellen habe, daß jeder die Freiheit hat alles zu tun, was anderen nicht schaden würde. Auf der Grundlage des selbständig handelnden Individuums hat der Staat aber dann doch die Aufgabe, "Den Umbau der Gesellschaft zum Kollektivismus" zu lenken; die praktische Umsetzung der Kollektivierung der Gesellschaft hat Karleby den Interessenorganisationen zugedacht. 1926 machte Karleby in "Socialismen inför verkligheten" (Sozialismus vor der Wirklichkeit) den nächsten Schritt: die Versöhnung der Arbeiterbewegung mit der Nation. Die Arbeiter sollten 'vaterländisch' werden, um so der gesamten Gesellschaft das Bild einer nationalen Zukunftsvision unter sozialdemokratischen Vorzeichen anbieten zu können.(100) Schwedischer Sozialismus sollte seine Verankerung in den wirklichen und alltäglichen Bedürfnissen des ganzen Volkes haben.

In der praktischen Politik ist die SAP hin- und hergerissen zwischen den innerparteilichen Auseinandersetzungen über den zukünftigen Weg und der Bewahrung eines regierungstauglichen Eindrucks.(101) Während die Sozialdemokraten Mitte der zwanziger Jahre die Regierung bildeten und ihre Leitung bemüht war, die Auseinandersetzungen mit den bürgerlichen Parteien in Grenzen zu halten, um Arbeitsmarktregulierungen ("arbetsfridsfrågan") gesetzlich festhalten zu können, waren große Teile der Partei und die Gewerkschaften skeptisch bzw. negativ gegenüber der Regierungsarbeit eingestellt.(102) Bis zu den sogenannten Kosackenwahlen(103) 1928 konnte sich die Parteiführung, die überwiegend staatsfreundlich auf Volkspartei-Linie war, in ihrer Partei und gegenüber dem Gewerkschaftsverbund LO nicht durchsetzen. Statt dessen verhielt sie sich unentschlossen und sendete Signale in beide Richtungen aus.(104) Schüllerqvist stellt besonders für die Jahre 1927 und 1928 fest, daß Hansson (der zu diesem Zeitpunkt Parteivorsitzender war) mit "gespaltener Zunge" redete, wenn er den Wählern Klassenpolitik und Volksheimpolitik gleichermaßen anbot:

Hansson sprach mit 'gespaltener Zunge', plädierte von zwei unterschiedlichen Argumentationslinien aus. Eine Botschaft handelte von dem Volk, dem Volksheim, der Volkspartei, dem allgemein Besten, den Mitbürgern, der Demokratie, dem Einvernehmen, der ruhigen Entwicklung. Zielgruppe für die Appelle waren die Wähler, die zwischen Sozialdemokraten und bürgerlichen Parteien standen. Die andere Botschaft handelte von Klassen, Kampf, Sozialismus und Sozialisierung. Dies enthielt eine Drohung mit dem, was passieren könne, wenn die ungeduldigen Massen in Bewegung gerieten. Hansson trat mit einer verhüllten Kritik zum Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie an.(105)

Hansson war klar, daß die SAP allein auf der Basis der Arbeiterschaft nicht in der Lage sein würde, eine stabile politische Mehrheit zu erlangen, so daß er nach den herben Wahlverlusten 1928 begann, klarere Zeichen zu setzten, die eine nationale Öffnung der Partei signalisieren sollten.

Im Herbst 1929 veröffentlichte Hansson schließlich eine Reihe von Artikeln (folkartiklarna), in denen er dafür plädierte, innerhalb der Partei, den Klassenbegriff durch den Volksbegriff zu ersetzten. Die Artikel(106) waren der entscheidende Schachzug, die Veränderung der offiziellen sozialdemokratischen Parteilinie in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Dabei verwies er auf eine lange Tradition der Volksorientierung in der SAP: Die erste sozialdemokratische Zeitung hieß "Folkviljan" (Volkswille); Hjalmar Branting (der erste Vorsitzende der Partei) sprach schon 1895 von der SAP als Volkspartei; 'Volkshäuser' und 'Volksparks' waren im ganzen Land verteilt und die Zusammenarbeit mit den Liberalen im Kampf um das allgemeine Wahlrecht wurde unter dem Titel "folkmakt eller herremakt" (Volksmacht oder Herrenmacht) geführt.(107)

Hansson versuchte nun, die Sozialdemokraten bei den Wählern als die Träger einer Politik für das Allgemeinwohl einzuführen, u. a. indem er den zentralen ideologischen Begriff 'Sozialismus' ersetzte und statt dessen konsequent von 'Demokratie' redete. Die Angriffsfläche der SAP sollte verkleinert und der politische Handlungsspielraum der Gegner eingeschränkt werden. Hanssons Betonung von Demokratie als zentralem sozialdemokratischen Wert sollte den Konservativen die Angst vor einer radikalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse nehmen. Der schon erreichte Zustand der zwanziger Jahre war für ihn der Ausgangspunkt für Verbesserungen der Verhältnisse und gab keinen Anlaß, sie durch einen völlig neuen Zustand zu ersetzten:

Wenn wir nicht auch eine ökonomische Demokratie erhalten, dann ist die Demokratie nicht vollständig. Wir arbeiten daran, die Demokratie auf sozialem und ökonomischen Feld auszubauen, aber die Voraussetzung, sie zu vervollständigen, ist, das zu bewahren, was wir bereits erreicht haben. Man muß sich bewußt sein, daß die einzige Möglichkeit, die Volksmehrheit für diesen Aufbau zu gewinnen, die ist, zu der Demokratie, die bereits erkämpft wurde, Vertrauen zu zeigen.(108)

Die Entscheidung für die 'volkspolitische Linie' und ihre Durchsetzung in Partei und Gewerkschaften öffnete 1932/33 schließlich auch den Weg für die entscheidende Abmachung (krisuppgörelsen) zwischen SAP und der Bauernpartei.(109) Diese Vereinbarung wird im Allgemeinen als das Fundament Sozialdemokratischer Regierungsmacht für die folgenden Jahrzehnte beurteilt. Sie hat den Weg geebnet für die Verwirklichung von Hanssons Vision, die zu diesem Zeitpunkt zwar schon einen Titel hatte und ein Bild von den Konturen einer zukünftigen Gesellschaft beschrieb - aber noch keine konkreten Inhalte zugewiesen bekommen hatte: Das Volksheim.

Nachdem die SAP 1933 durch die Vereinbarung mit den Bauern zu einer stabilen Regierungsmehrheit gekommen war(110) und eine längerfristige Politik möglich wurde, stand nun das Ideengerüst, das sie sich im Laufe der Zeit aufgebaut hatten, und das Hansson so einprägsam unter dem Begriff des Volksheimes populär gemacht hatte, auf der Probe. Die Vereinbarung mit der Bauernpartei erlaubte der SAP, eine offensive Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu führen. Geleitet von den praktischen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise wurde deshalb weiterhin das langfristige Ziel der grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft verfolgt.

Das Thema Sozialisierung als Möglichkeit, eine sozialistische Gesellschaft zu gründen, wurde vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen Probleme zunehmend zur Nebensache. Pragmatisches Handeln zur Bewältigung der Krise und ökonomische Planung(111) zur längerfristigen Umkehrung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse wurden als die geeigneteren Mittel betrachtet. Ernst Wigforss formulierte 1932 das Ziel, den Menschen von den mechanistischen Fesseln der Wirtschaft, die außer Kontrolle geraten waren, zu befreien und das Verhältnis umzukehren, d. h. den Menschen die Herrschaft über ihre Arbeit zurückzugeben:

In einer Zeit der Arbeitslosigkeit nimmt die Idee nun Formen an, daß alle Mitbürger der Gesellschaft ein Recht auf Arbeit haben, daß sie dafür ihr ökonomisches Leben organisieren müssen, so daß sie durch die Organe der Gesellschaft über die Arbeitsmöglichkeiten bestimmen. Diese Kontrolle über die Wirtschaft, die dafür benötigt wird, die Macht über die Produktionsmittel, über das Kapital und über die Verwaltung des Kapitals, die notwendig sind, damit die Menschen arbeiten können, dies in die Verantwortung der Gesellschaft zu geben, wird die Aufgabe der Mitbürger.(112)

Die Gesellschaft könne sich keine Arbeitslosigkeit leisten, denn die Grundlage für soziale Sicherheit könne nur durch hohe Produktivität und Effektivität der Wirtschaft erreicht werden. Umverteilungsmaßnahmen des Staates könnten allenfalls geringfügig und kurzfristig in akuten Notlagen Ausgleich schaffen. Dennoch sei die grundlegende Veränderung der Eigentumsverhältnisse nicht unbedingt notwendig - ausschlaggebend sei allein die Möglichkeit, die Volkswirtschaft staatlich lenken und kontrollieren zu können. Die gesellschaftliche Kontrolle der Wirtschaft(113), die bei Wigforss stellvertretend für die Befreiung von den Zwängen des wirtschaftlichen Kreislaufs steht, ist "die wirkliche ökonomische Freiheit, die zu verfolgen ein würdiges Ziel für die Menschen ist."(114) Denn das Belassen der ökonomischen Übermacht in den Händen nur weniger beschränke die Freiheit der anderen. Ähnlich wie für die Politik sollen gesellschaftliche Mitwirkungsrechte auch für die Ökonomie gelten - ökonomische Freiheit wird analog zur politischen Freiheit definiert:

[&133;] daß Freiheit in unserer Diskussion nicht nur die negative Bedeutung im Sinne von Freiheit von Zwang, äußerem oder innerem, sondern ebenfalls einen positiven Inhalt hat, nämlich daß sie auch eine Art aktiver Entwicklung der 'natürlichen Kräfte' des Menschen beinhaltet, daß sie Gestalt annimmt unter der Wechselwirkung zwischen ihren Kräften und der von der Natur und der Gesellschaft gestalteten Umgebung, daß eine solche Entwicklung erleichtert oder erschwert wird durch die sie umgebenden Verhältnisse und daß ein bewußter Einfluß auf diese Verhältnisse deshalb eingeht in das Streben nach erhöhter menschlicher Freiheit.(115)

Freiheit an sich sei ein wünschenswertes gesellschaftliches Ziel - der Umfang und die Art der Freiheiten allerdings seien eine Sache der Abwägung - es gäbe kein 'natürliches Recht' auf Freiheit sondern nur von den jeweiligen Umständen abgeleitete Entscheidungen für oder gegen Freiheit(116), d. h. Freiheit wird sowohl quantitativ als auch qualitativ - gegen andere Werte, z. B. Gleichheit - abgewogen:

A more equal distribution of wealth increases the collective welfare, creates greater security for the mass of the population, and provides the material circumstances for a richer human life. The interests that are advanced by this policy are greater than those that are shunted aside and that is enough.(117)

Freiheit wird hauptsächlich verstanden als Freiheit von kapitalistischer Unterdrückung, von ökonomischer Misere und von materieller Begrenzung der Produktion. Um diese zu gewährleisten, entsteht so die Formel "Sicherheit ist ein Teil von Freiheit", also Freiheit zu staatlicher Unterstützung, zur Fürsorge durch den Staat bzw. die Gesellschaft.(118)

Gleichheit, d. h. die Auflösung der Klassengesellschaft oder in Hanssons Worten die Versöhnung der 'zwei Nationen' Schwedens, ist nicht nur erstes Ziel sondern wird in dem Gedankengerüst sozialdemokratischer Gesellschaftskonzeption zu einem Mittel für die effektive Ausnutzung der Ressourcen, bzw. für die gleichmäßige Ankurbelung der Kaufkraft, die gemeinsam zur Erhöhung der Produktivität beitragen soll.(119) Entscheidend ist nicht nur Produktivität sondern auch die Effektivisierung der Ressource Mensch, weswegen Gleichheit im Sinne von 'gleichmäßiger Verteilung' von Gesundheitsversorgung, Ausbildungsmöglichkeiten und eine aktive Familienpolitik verstanden wird. Das unerreichbare Ziel vollkommener Gleichheit wird modifiziert durch das praktische Ziel sozialer Gerechtigkeit, basierend auf demokratischen Rechten, sowie auf demokratisierten Chancen und Ressourcen:

It put the fight for social citizenship before the final democratisation of ownership. With this historical reversal in ideology, Swedish socialist theoreticians could indulge in peculiar teleological extravaganza: the historical mission of the labour movement was to shepherd Sweden through the sucessive stages of political, social and eventually economic democracy.(120)

Die Idee von der 'dreifachen Demokratisierung' spielt bei der SAP - und im besonderen Maße bei Hansson - eine nachhaltige Rolle. Demokratie ist notwendiger Bestandteil des schwedischen Sozialismus.(121) Hansson setzt Demokratie mit Gemeinschaft gleich, in der keine Klassenmentalitäten mehr herrschen. Er vertraut auf die Entwicklungsfähigkeit und vernünftige Einsicht der Bürger.(122) Das Betonen des demokratischen Weges soll aber auch politische Mehrheiten sichern, die anders nicht möglich wären - die große Aufgabe gesellschaftlichen Friedens und sozialer Sicherheit müsse schließlich im Interesse aller Benachteiligten liegen:

Für meinen Teil ist dies [Politik der Verständigung, samförståndspolitik] nicht der Weg zum Sozialismus. Dies ist ein Weg zu einer besseren Ordnung in der Gesellschaft. Ob diese bessere Ordnung nun ein sozialistisches oder ein anderes Etikett erhält, interessiert mich nicht so besonders, wenn diese Ordnung nur bedeutet, daß die Menschen Sicherheit und ein gutes Auskommen bekommen. Dieses Ziel ist so wichtig, daß ich für meinen Teil bereit bin, mit allen verschiedenen Anschauungen zusammenzuarbeiten, die für dieses nicht nur sozialistische sondern auch demokratische Ziel arbeiten wollen.(123)

Hansson hat damit die Grundlage für Politik als die Suche nach "samförstånd" geliefert. Er betont die gemeinsame Verantwortung der politischen Blöcke für die Notwendigkeiten der 'alltäglichen' Politik, d. h. für die jeweils akuten Einzelentscheidungen, über die zum Wohle der Bürger eine Übereinkunft möglich sein sollte. Er fordert dazu auf, sich bei solchen notwendigen Entscheidungen nicht durch die kontroversen Auffassungen zu Grundsatzfragen über die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft blockieren zu lassen,(124) entscheidend sei, daß sich alle über die demokratischen Prinzipien einig sind:

Und nachdem ich bei diesem Thema angelangt bin, darf ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß wir gegenüber der politischen Balance eine gemeinsame Schuldigkeit zu berücksichtigen haben, daß wir nach den guten Ansätzen für eine wirklich demokratische Politik auf der Grundlage der Zusammenarbeit es jetzt nicht so einrichten, daß plötzlich alles was wir erreicht haben wieder auseinanderfällt und der Kampf zwischen den Nationen in der Nation wieder von vorne beginnt.(125)

Isaksson führt diesen Glauben an politische und gesellschaftliche Balance auf die sozialdemokratische Tradition der Volksbewegungen zurück. Initiativen für Veränderungen kommen demnach aus der Mitte heraus, geleitet von fast Gleichen unter Gleichen, die in mühsamer Arbeit, Schritt für Schritt die Gesellschaft formen:

[&133;] eine Unzahl von kleinen Einheiten, lokal selbständig, frei ihre eigenen Geschäfte zu betreiben aber dennoch in einem größeren Zusammenhang [&133;], Bausteine in einer Hierarchie, in der Macht und Einfluß von einem Niveau zum nächsten bis zur Spitze angereichert wird, wo die höchste Stelle dann die gesellschaftlichen Interessen definiert.(126)

Das Programm

1934 veröffentlichen Alva und Gunnar Myrdal das Buch Kris i befolkningsfrågan, mit dem ihnen die Türen in die schwedische Politik weit geöffnet werden. Das Buch ist auf große Resonanz gestoßen und wird im nachhinein als die perfekte programmatische Ergänzung zu Hanssons Volksheim-Vision bezeichnet.(127) Die Myrdals können mit dem zentralen Thema - der Bevölkerungsfrage - die politische Agenda Schwedens in den dreißiger und vierziger Jahren besetzen und bestimmen entscheidend die Gestaltung des Wohlfahrtsstaates. Nach der Begriffsanalyse und der Bestimmung der damit verbundenen Gesellschaftskonzeption soll nun eine kurze Analyse des programmatischen Teils des Volksheimes das sozialdemokratische Bild von Gesellschaft vervollständigen.

Den Myrdals gelingt es mit ihrer Veröffentlichung, das zum Volksheim gehörige Politikfeld für die Sozialdemokraten zu erobern: Familien- bzw. Bevölkerungspolitik.(128) Familienpolitik bekommt einen entscheidenden Stellenwert bei der Umgestaltung der Gesellschaft; allerdings auf andere Weise als bei den Konservativen - nicht als Grundeinheit und Lebenselixier der Nation, sondern als Baustein der modernen Gesellschaft.

Zwei Feststellungen über den gesellschaftlichen Zustand stehen am Anfang ihrer Ausführungen: Der dramatische Rückgang der Geburtenzahlen und der - ebenso dramatische - technologische Wandel, der die malthusianische Prämisse der Arbeitskräfteknappheit außer Kraft gesetzt hat:

Mit dieser Technik, die wir heute beherrschen, haben wir Zugang zu ausreichenden Ressourcen, um eine größere Bevölkerung auf einem höheren Lebensstandard zu versorgen, und diese Technik wird ununterbrochen verbessert. Der Fehler liegt nicht länger bei den Ressourcen und der Überbevölkerung. Der Fehler liegt in der gesellschaftlichen Organisation der Produktion und der Verteilung, die mit der technischen Entwicklung nicht mehr mitgekommen sind. Von einer gleichmäßig fortschreitenden industriellen Entwicklung mit steigendem Lebensstandard aber noch immer unter dem Stern der Knappheit, sind wir in etwas geraten, was einer permanenten 'Überflußkrise' gleicht. Damit muß selbst die Bevölkerungsfrage neu überdacht werden.(129)

Einzig eine grundlegende Reform der ganzen Gesellschaft könne den tiefen Fall in die Krise abwenden. Allein um den Lebensstandard der Bevölkerung zu bewahren und um ökonomische Sicherheit zu garantieren - ganz abgesehen von einer Angleichung bzw. allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards - müsse die industrielle Produktion effektivisiert werden. Dies würde aber gleichermaßen die quantitative und qualitative Verbesserung der Ressource Arbeitskraft/Mensch voraussetzen. Erreicht werden könne diese Verbesserung der Arbeitskraft auf der einen Seite durch die radikale Umverteilung der Einkommen und auf der anderen Seite durch eine prophylaktische Sozialpolitik, die in die Verantwortung der Allgemeinheit, also der Gesellschaft gelegt werden müßte. Mindestens ebenso wichtig sei die 'Veränderung des Menschen'.

Die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der sozialen Lebensbedingungen müsse, um den gewünschten Effekt zu haben, begleitet werden von der moralischen Anpassung der dort lebenden Menschen, um sie zur vernünftigen Handhabung seiner Ressourcen heranzuziehen und ihm die Bedeutung von Familiengründungen und gesellschaftlichem Handeln zu verdeutlichen.(130) Erwachsene Schweden seien heute (1934) vor die Wahl gestellt: Ein angenehmes Leben oder Kinder, da die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse beides nicht zuließen.(131) Sie müßten aber begreifen, daß auf lange Sicht das angenehme Leben auf eine erhöhte Geburtenrate angewiesen sei, daß also Familiengründungen nicht nur persönliches Glück sondern auch gesellschaftlichen Fortschritt bedeuteten, weswegen sozialpolitische Maßnahmen mit moralisch-ethischen Erziehungsmaßnahmen einhergehen müßten. Im Grunde folgen die Myrdals hier einer sehr konservativen Argumentation, nur die Rationalisierung des Arguments macht es 'moderner': Kinderkriegen und Familiengründungen sind zwar eine Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber, aber hauptsächlich aus funktionalen Gründen um die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft zu bewahren, bzw. den modernen Anforderungen der Industriegesellschaft zu entsprechen.

Dieses Problem stellt sich uns: Entvölkerung oder Gesellschaftsreform. Und das Programm heißt: eine neue Gesellschaft durchtränkt mit sozialer Solidarität, in der die ganze Nation in erweitertem Maße ihre gemeinsame Verantwortung für die Kinder erkennt, die die nächste Generation sein werden. Erst durch die allmähliche Verwirklichung dieser Gesellschaft wird es möglich sein, den engstirnigen Individualismus aufzubrechen, der jetzt das Leben unseres Volkes vergiftet und seine Existenz geradezu bedroht.(132)

Drei Schritte beschreiben das Programm der Myrdals:

  1. die Rekonstruktion der ökonomischen Basis der Familie - also die grundsätzliche Frage der Versorgung, oder wie Ellen Key es genannt hat, die "Brodfrage".
  2. die Erziehung des Volkes in der Kunst zu wohnen, zu essen, zu kleiden usw.(133) und schließlich
  3. öffentliche, soziale Kontrolle.(134)

Hinter Kris i befolkningsfrågan verbirgt sich das Bild einer Gesellschaft als Maschine(135), die wenn sie erst einmal funktional zusammengesetzt ist (automatisch), gut läuft - und zwar fortschrittlich, produktiv. Bis auf die Betonung von Familie und Kindern hat die Gesellschaft bei Myrdals nichts 'heimeliges' mehr; alles wird auf Funktionalität reduziert, so auch das subjektive Gefühl der 'Sicherheit', die sowohl grundlegende Voraussetzung als auch Produkt dieser Maschine ist. Diese Maschine muß in Gang gesetzt, in der Anfangsphase kontrolliert und gesteuert werden, bis alle 'Einzelteile' sich einfügen, d. h. staatliches Eingreifen wird erforderlich, auch paternalistisch, gut geplant, denn Planung ist rational, vernünftig und moralisch.(136)

Das Volksheim - der Entwurf eines politischen Ordnungsmodells

Das Volksheim von Per Albin Hansson war ursprünglich eine Devise zur Schaffung eines gemeinsamen virtuellen Raums, in dem alle Schweden gleichermaßen Platz haben und Benachteiligungen aufgehoben würden, und in dem man sich gemeinsam auf die Grundlagen solidarischen Zusammenlebens besinnen würde. Das Volksheim wurde metaphorisch in Stellvertretung für eine Gesellschaftsvision eingeführt, d. h. das Bild eines familiären mit den dazugehörigen harmonisierten Eigenschaften wurde auf die abstrakte, durch Industrialisierung entfremdete Gesellschaft übertragen, um so die Vorstellung einer allseits bekannten Form von Zusammenleben und Ordnung als politische Vision zu präsentieren. Der Hansson'sche Gebrauch der Metapher ist eher von ornamentaler und evokativer Natur:(137) Die Metapher erzeugt Stimmung und verbindet Alltagserfahrungen des Familienlebens mit gesellschaftlicher Organisation. Hansson gebraucht dabei Vorstellungen, die auch schon vorher mit dem Begriff des Volksheimes verknüpft waren. Er betont Gemeinsamkeit, Solidarität und Harmonie - Elemente, die auch bei Ellen Key und Rudolf Kjellén eine bedeutende Rolle gespielt haben. Hansson bleibt dabei wenig konkret und läßt viel Spielraum für die programmatische Ausgestaltung seines zukünftigen Volksheimes. Er erzeugt ein Bild, das er in die Zukunft plaziert, das aber nicht in unerreichbare Ferne gerückt ist, da die Assoziation mit der Familie Nähe (sowohl zeitlich als auch räumlich) erzeugt.

Hanssons konkrete Ziele sind auf der einen Seite die nationale Integration, auf der anderen Seite sind sie eher pragmatisch-taktischer Art, den Sozialdemokraten einen Weg zur politischen Macht zu öffnen. Konstitutiv wird die Metapher des 'Volksheims' erst durch das wirtschaftspolitische Programm Wigforss' und die bevölkerungspolitischen Maßnahmen der Myrdals.

Das konjunkturpolitische Konzept von Wigforss weist dem konkreten, privaten Heim eine wichtige Rolle zu. Ein bedeutendes Instrument zur Bewältigung der wirtschaftlichen Krise ist der Verbrauch: Wigforss will die Krise "wegkonsumieren" - je mehr Verbrauch, desto mehr Produktion.(138) Das konkrete Heim wird also konstitutiv für die Bedürfnisregelung der Gesellschaft und damit entscheidend für ihr Überleben. Wie bei Key stützt sich die Gesellschaft direkt auf das private Heim - allerdings nun auf andere Weise. Key betont die erzieherische, ideelle Bedeutung. Bei Wigforss und der SAP hat das Heim eine eindeutig ökonomische Aufgabe, es erfüllt die Grundfunktion zur Sicherung des Lebens. Da ökonomischer Wachstum notwendige Voraussetzung für dieses Gerüst ist, setzt sich in der SAP allmählich die Auffassung durch, daß eine einschneidende Änderung der Eigentumsverhältnisse eher kontraproduktiv sei.(139) Wigforss' Ziel ist die Umformung der Gesellschaft durch die allmähliche, funktionale Transferierung des Kapitals. Nicht die Arbeiter sollen durch Anpassung in die bestehenden Verhältnisse integriert werden, sondern die Gesellschaft soll den sozialen Bedürfnissen angepaßt werden. Deshalb argumentiert Wigforss für einen sehr pragmatischen Umgang mit gesellschaftlichen Werten wie Gleichheit, Freiheit etc. Diese Werte stellen keine übergeordneten Ziele dar, sondern werden auf Funktionen der Gesellschaft zurückgestuft. Da sie zusammen nicht vollständig kompatibel seien, müsse eine vernünftige Balance erreicht werden, die sich, je nachdem wie es erforderlich ist, in die eine oder andere Richtung verschieben kann. Wigforss konstruiert den Gedanken der "provisorischen Utopien", die sich immer wieder neuen Entwicklungen anpassen können.(140)

Technisch soll die Transformation der Gesellschaft durch die dreistufige Demokratisierung von Politik, Gesellschaft und Industrie erreicht werden. Problematisch ist allerdings, daß sich nur politische Demokratie durch Formalisierung klar definieren und regeln läßt, während soziale und ökonomische Demokratie in Form und Ausmaß beliebig dehnbar sind - ihr Maßstab ist der Grad der Zufriedenstellung, der im Extremfall nie erfüllt werden kann. Außerdem kann man Form und Ausmaß gesellschaftlicher Demokratieprinzipien nicht vor wechselnden politischen Mehrheiten beschützen, ohne Grundrechte zu verletzten, etwa die persönliche Entfaltungsfreiheit.(141) Diese 'Totalisierung' von Demokratie führt, konsequent zu ende gedacht, zur Auflösung der Grenze zwischen Staat und Gesellschaft - eine Tendenz, die man auch am sozialdemokratischen Sprachgebrauch verfolgen kann. Im SAP-Programm von 1920 werden Staat und Gesellschaft ohne Abgrenzung miteinander vermengt und auch in Reden und Schriften dieser Zeit wird nicht mehr konsequent zwischen den Begriffen unterschieden. Isaksson deutet dies als eine Veränderung des Politikverständnisses bzw. Umdefinierung des Politikziels der SAP weg vom sozialistischen Staat, indem der Staatsapparat vom Proletariat beherrscht wird, hin zur sozialistischen Gesellschaft, in der die ganze Nation vom gleichen Geist erfüllt wird. Diesem Ziel entspricht das Streben nach politischer Hegemonie, das man tatsächlich seit der 'Machtübernahme' feststellen kann.(142) Sozialismus und Demokratie werden kompatibel gemacht, wenn Staat bzw. Gesellschaft sozialdemokratisch dominiert werden, indem sich Parteiorganisation inklusive der Gewerkschaften auf die gesamte Nation ausweiten. Sie bemächtigen sich als 'Volksbewegung' der politischen Ordnung und bauen im wahrsten Sinne des Wortes ein 'Haus', ein 'Heim': Die schwedische Sprache benutzt in diesem Zusammenhang tatsächlich das Wort 'bauen', "att bygga", wie z. B. im oben zitierten Arbeiterlied: "vi bygger landet."(143) Theoretisch birgt diese Okkupation des Staates durch die Gesellschaft die Gefahr, daß faktisch der Staat die Gesellschaft besetzt bzw. vereinnahmt. Da die Grenzen verwischt werden, können auch Kontrollfunktionen, d. h. Kontrolle der Staatsgewalt durch die Bürger, nicht mehr richtig greifen. Dann aber ist das Volksheim der SAP nicht mehr weit von den Kjellén'schen Vorstellungen des starken Staates, in den sich alles organisch-funktional einfügt. Diese Gefahr wird ausgeblendet durch die Vorstellung, daß man sich der politischen Ordnung unter vermeintlich rationalen Kriterien der Funktionalität bemächtigen kann. Diejenigen, die diese Vorstellung am weitesten vorangetrieben haben, sind Gunnar und Alva Myrdal. Ihr Programm zur bevölkerungspolitischen und damit gesellschaftlichen Erneuerung ist entscheidend verantwortlich für die Ausstattung des Volksheimes.(144)

Hansson gründet das Heim, d. h. er sorgt für die emotionale Grundlage der Gesellschaft; Wigforss sichert die Versorgung durch die Einbindung des privaten Heimes in den wirtschaftlichen Kreislauf; und die Myrdals konstruieren schließlich das Haus, eine funktionalistische 'Maschinerie', die effektiv und rational das Leben organisiert. In dieser Vereinigung der Metapher mit einem politischen Programm wird das 'schwedische Volksheim' konstituiert, das im nachhinein in die Literatur und politische Diskussion eingegangen ist. Wie sich diese Vorstellung des sozialdemokratischen Volksheimes nun konkret geäußert hat, ist Thema des folgenden Abschnitts.

Die Bauweise des Volksheimes

Das Volksheim wurde zum ordnenden Strukturprinzip Schwedens nach der Jahrhundertwende, also zu einem politisches Ordnungsmodell, das die sittliche Grundordnung der Gesellschaft verbildlichen konnte. Dieses Modell begründete ein gemeinsames Weltbild, das Maßstäbe und Prinzipien zur Wahrnehmung und Beurteilung des Ordnungsmodells setzte, die wiederum durch die dahinterliegenden Vorstellungen bestimmt waren - Wirklichkeit wurde virtuell konstruiert.

Eine Vorstellung wird 'sichtbar' gemacht durch symbolische Darstellung dieser virtuellen Realität. Wie bei der Metapher findet eine Übertragung statt: Dem geistigen Bild wird eine körperliche Form zugeordnet. Die Metapher des Volksheimes erzeugte ein virtuelles Bild von Gesellschaft. Doch erst aufgrund der mit dieser Vorstellung verknüpften Ausdrucksformen war es möglich, daß das Volksheim so durchgreifend das politische wie auch das gesellschaftliche Leben der Schweden bestimmen konnte, und daß sich nationales Selbstverständnis, erfolgreiche Wohlfahrtsstaatspolitik und Volksheim-Ordnung zu einem geschlossenen Symbolsystem zusammenfügen konnten. Dieses Symbolsystem bestimmte die äußere Ordnung durch die sich landesweit durchsetzende Raumgestaltung(145) der funktionalistischen Ästhetik. Es gestaltete die innere Ordnung durch die Umsetzung dieser Ästhetik auf der Grundlage eines neuen, technischen Politikstils, den des sozialen Ingenieurwesens. Gleichzeitig bestimmte es die moralische Ordnung Schwedens nach hygienischen Gesichtspunkten. Meine Absicht in diesem Abschnittes ist, die Teile des "volksheimischen" Symbolsystems darzustellen, durch die das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung geformt wurde.

Ästhetik

Es ist naheliegend, mit der Ästhetik zu beginnen, schließlich steht sie für Ausdruck schlechthin. Es geht um Äußeres, die körperliche Form und das 'Schöne'. Es geht im Falle des Volksheimes auch darum, wie eine bestimmte äußere Form Bedeutung für das Zusammenleben erlangen kann bzw. um die Zuweisung einer solchen Bedeutung. Schließlich aber auch darum, wie die Gestaltung von Räumen - sowohl des privaten Wohnraums als auch des öffentlichen Raums - soziale Zusammenhänge ordnet. Ästhetik vermittelt Werte, denn sie beinhaltet immer schon eine Wertung darüber, was ästhetisch und was nicht ästhetisch ist. Sie sorgt für Wiedererkennung, Identifizierung, verdeutlicht und schafft Bindungen.

Schon bei Key hat 'Schönheit' eine große Rolle gespielt in der Gestaltung des Lebens als solches und für die Ausbildung der "veredelten Sinne" beim Menschen, die entscheidend für die optimale Ergänzung von individueller Selbstverwirklichung und kollektivem Gemeinwesen sind.(146) Von der Überzeugung ausgehend, daß 'Schönheit', also eine schöne Umgebung, ein grundlegender Bestandteil des 'guten Lebens' ist, entwickelte Key ein Programm, das die Schönheit ins Heim bringen sollte. Da das Heim der erste Ort ist, in dem man Gesellschaft/Familie begegnet, da im Heim die Mitglieder der Gesellschaft zu solchen erzogen werden und sich aus diesem Heim heraus die Gesellschaft entwickelt, stellte Key einige fundamentale Regeln für seine Gestaltung auf. Für Key ist das gleichmäßige Streben nach materieller Versorgung des Heimes und nach Schönheit ein Teil der menschlichen Natur. Obwohl 'Geschmack', also der Sinn für Schönheit, besonders Teil der weiblichen Natur ist, muß die Fähigkeit, das Schöne zu erkennen, erst noch anerzogen werden: Dies geschieht im Heim durch die "Gesellschafts-Mütter", die auf diese Weise eine ihrer gesellschaftlichen Funktionen erfüllen. Aber gleichzeitig bietet es auch eine Möglichkeit, die Mitglieder des Heimes durch Erziehung zu lenken: Schönheit wird so indirekt zum Machtfaktor. Denn die im Heim Lebenden haben sich einer übergeordneten Ästhetik zu beugen. Schönheit ist dabei nicht nur äußerlich sondern bestimmt auch das Innere: Das Gute, Gerechte usw. - schön und gut werden synonym. Auch wenn Key ihre Gedanken nicht ausdrücklich auf die politische und gesellschaftliche Ordnung überträgt, schimmert erneut, wie in vielen anderen ihrer Schriften "Bevölkerungs-Pädagogik" durch. 'Schönheit' fügt sich nahtlos in ihr Gesamtsystem von Heim/Gesellschaft ein.

Keys Wohn- und Schönheitsideale werden durch das Haus des zeitgenössischen Malers Carl Larsson illustriert.(147) Larsson hatte sein in vielen Jahren ausgebautes und im Detail ausgestaltetes Haus mitsamt seiner Familie in einem Bilderzyklus festgehalten, der 1897 das erste Mal auf einer Handwerks- und Industrieausstellung in Stockholm gezeigt wurde. Auf dieser Ausstellung wurde eine Bedeutungsänderung des Heimes markiert: Über die Rolle als Wohnraum hinaus als Muster für das Zusammenleben, für eine bestimmte Stimmung und Haltung.(148) Der Bilderzyklus erschien 1899 auch als Buch,(149) in dem Larsson ausführlich sein Familienleben beschreibt - ebenso farbenfroh und harmonisch idealisierend wie auch seine Bilder sich darstellen. Gleich zu Beginn stellt Larsson z. B. fest: "Wenn Du dieses Hauses Schwelle betrittst, bist Du ein glücklicher Mensch."(150) oder aber auch, daß er das Rätsel des Lebens gelöst habe. Sonst ergeht er sich in detaillierten Beschreibungen eines freudig schönen Alltagslebens mit Frau und Kindern und bestätigt auf diese sehr subjektive, aber auch sehr publikumswirksame Weise Keys These. Larssons Haus in Sundborn wird noch heute zitiert, besonders Elemente seines Innenausbaus sind noch immer aktuell. Die Einrichtung in Sundborn vereinigte traditionelle wie unkonventionelle Elemente, sie war überwiegend funktional-praktisch und war für seine Zeit "modern", wie Reaktionen auf den Ausstellungszyklus, wie etwa die von Key, zeigen.(151)

Die Ausstellung von 1897 in Stockholm war eine in einer ganzen Reihe internationaler und nationaler Ableger, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts so beliebten Weltausstellungen. Diese Art der Produkt- und Kulturschauen waren zunächst Ausdruck des technischen Fortschritts, entwickelten sich aber darüber hinaus zur Präsentation eines zukunftsorientierten Weltbildes bzw. die optimistische Wirklichkeitsauffassung, die sich auch auf die gesellschaftliche Ordnung übertrug.(152) Ekström spricht davon, daß diese Ausstellungen einen normativen Diskurs etablierten, der Verhaltensmuster, Werte und Normen vermittelte, um so die gesellschaftliche Wirklichkeit den neuen Anforderungen anzupassen:

Auf dem Ausstellungsgelände wurden Ideen in Umlauf gebracht und verbreitet. Dort fand Kommunikation statt, dort wurden Informationen geboten vor einer sonst kaum erreichbaren Zuhörer- und Zuschauermenge. Die Ausstellungen boten eine Möglichkeit, vor einem größeren Publikum als je vorher eine offizielle Kultur zu vermarkten.(153)

Die Ausstellungen repräsentierten in der Regel das Bild eines zukünftigen, gewünschten Zustandes, dessen Erreichen durch die fortschreitende Entwicklung zunehmend in die Nähe rücken würde. Sie wurden Teil der Realitätsbewältigung durch visionäre Versprechungen und den Glauben, daß der technische Fortschritt auf die kulturell-gesellschaftlichen Werte übertragen werden müsse, um Schwierigkeiten, wie Armut, nationale Uneinigkeit(154) und ähnliches, zu lösen. Die Ausstellungen hatten also nicht nur den Charakter einer repräsentativen Leistungsschau sondern auch einen Bildungsauftrag, durch den das Publikum auf das Niveau der jeweiligen Entwicklung gebracht werden sollte. Zwei unterschiedliche Absichten können nach Eriksson mit Ausstellungen dieser Art verfolgt werden:

  1. in der sich verändernden Welt zumindest einige der alten Werte und Traditionen zu bewahren - also komplementär die Entwicklung zu begleiten;
  2. selbst eine radikale und grundlegende Veränderung voranzutreiben.

Eine nationale Industrieausstellung war auch die symbolische Initialzündung des Volksheimes: Die Stockholm-Ausstellung von 1930. Einschätzungen wie "Markierung einer neuen Epoche"(155), "Manifest der Moderne" und "Durchbruch des Funktionalismus"(156) bestimmen heute das Bild von den dreißiger Jahren:

Erst mit dieser Ausstellung wurde ein verdichtetes Bild eines moderinsierungsfähigen Schwedens präsentiert. Erst mit der Stockholm-Ausstellung wurde die Moderne Teil des kulturellen Diskurses, zu dem sich die Politik verhalten mußte. Die Ideen hinter der Ausstellung waren gewiß nicht neu, aber manchmal bedurfte es eines besonderen Ereignisses, damit eine umfassende Diskussion in Gang gesetzt werden konnte.(157)

Die Stockholm-Ausstellung von 1930 war eine Präsentation von nationalen Entwicklungen und Errungenschaften in den Bereichen Industrie und Technik, Design und Kultur. In insgesamt zehn Abteilungen wurde ein modernes Schweden dargestellt, das sich ausschließlich auf die Zukunft konzentrierte.(158) Die Stockholm-Ausstellung war insgesamt ein großer Publikumserfolg (ca. 4 Mio. Besucher), der von ausführlichen Debatten, z. B. in den großen Tageszeitungen, begleitet war. Sie war ein nationales Ereignis, das im Vergleich zu vorherigen Ausstellungen zusätzlich einen herausragenden Stellenwert erlangte, weil der Staat die Schirmherrschaft übernommen hatte.(159)

Die größte Aufmerksamkeit erlangte die Abteilung, in der junge, schwedische Architekten ihre Konzepte vom modernen Wohnen vorstellten. Die Ausstellung rückte einen radikalen und funktionalistischen Architekturstil in das öffentliche Interesse. Es wurde in radikaler Totalität, d. h. von der Außenfassade und dem Grundriß bis zu den kleinsten Details der Inneneinrichtung, ein funktionalistisches Milieu präsentiert, das von vielen Besuchern als völlig neue, unbekannte Welt wahrgenommen wurde.(160) Der funktionalistische Architekturstil war eine europäische Entwicklung, die aus Frankreich, Belgien und Deutschland nach Schweden gelangt war.(161) Nilsson führt die schwedische Variante, neben den nationalen Vorgängern Larsson und Key, außerdem auf die englische 'Arts and Crafts Movement' zurück. Als architektonischer Stil konzentrierte sich der Funktionalismus auf die dem Inhalt angepaßte Form: schlicht und nützlich. Die funktionalistische Bewegung ging aber über die reine Stilfragen hinaus und beschäftigte sich auch stark mit den sozialpolitischen Aspekten des Bauens - sowohl in bezug auf den Wohnungs- als auch den Städtebau:

[Wir wollen] eine Baukunst in Übereinstimmung mit dem Besten der kulturellen, sozialen, ökonomischen und technischen Bestrebungen der Moderne [&133;] Die Baukunst ist [&133;] ein Instrument für den Kampf der Gesellschaft für eine glücklichere Menschheit ungeachtet der immer härter werdenden Bedingungen. Als angewandte Kunst ist sie nicht selbständig und frei sondern dient und arbeitet im Interesse der Gesellschaft. Insofern wollen wir, daß sie in ihrer Allgemeinheit verstanden wird, und nicht als freie Kunst, wie die Malerei und die Musik. Die Verantwortung der Architekten wird dadurch nicht geringer.(162)

Uno Åhrén, einer der führenden funktionalistischen Architekten Schwedens, erhebt die funktionalistische Ästhetik zum Exponenten für eine neue Weltanschauung, die sich in sämtliche Lebensbereiche drängt und zudem noch eine kritische Einstellung zu Tradition und Autorität ausdrückt.(163)

Wie in der funktionalistischen Ästhetik, wo sich die einzelnen Elemente zu einem harmonischen Ganzen (im Sinne von gut funktionierend) zusammenfügen sollen, wird auch die Beziehung Individuum-Gesellschaft behandelt: Das Persönliche tritt hinter das Allgemeine zurück, sowohl in der Ästhetik als auch im sozialen Gemeinwesen, womit Keys Maxime der persönlichen Verwirklichung in der Schönheit praktisch umgekehrt wird.(164) Die funktionalistische Perspektive wird immer den ganzen Körper in den Vordergrund stellen; das liegt in der Natur ihrer Prämissen. Diese wiederum sind auch nicht so neu, wenn man das Kjellén'sche Modell des organischen Staates betrachtet.(165)

Diese Harmonisierung der Einzelteile in bezug auf das Ganze wird auch für die gesellschaftliche Zeit, d. h. die gesellschaftlichen Entwicklungsstufen gefordert, die zu Beginn der dreißiger Jahre noch stark auseinanderklaffen. Während die Industrie ihre Arbeitsplätze nach modernen Standards organisiert hat, sind sowohl Wohnbedingungen als auch Wohngewohnheiten zurückgeblieben. Åhrén konstatiert eine große Schere zwischen privatem Heim und Arbeitsplatz: "Da entsteht leicht eine Verdoppelung, ein Paralleldasein der beiden verschiedenen Lebensarten, die sich widersprechen. Aber der Mensch will sein Leben als Ganzes."(166) Nach der nationalen Integration durch Hanssons Volksheim-Rethorik steht nun also die gesellschaftliche Integration und die zeitliche Überführung der Gesellschaft von Alt nach Neu, bzw. von der Tradition in die Moderne an. Die soziale Ästhetik des Funktionalismus hat das Ziel, eine neue, moderne Gesellschaft für den neuen, modernen Menschen zu schaffen; die Harmonie zwischen Teilen und Ganzem soll zum klassenlosen Ideal führen. Le Corbusier faßte diesen sozialen Aspekt des Funktionalismus unter der Überschrift "Architektur oder Revolution" zusammen: Funktionale Architektur würde eine Revolution überflüssig machen, da soziale Ungerechtigkeiten durch die richtige Gestaltung gesellschaftlicher Räume aufgehoben würden.(167) Die funktionalistische Ästhetik zeichnet sich aber nicht nur durch Klassenlosigkeit aus, sondern auch durch ihre Rationalität und Hygiene: Der Funktionalismus ist klar, übersichtlich, vernünftig und sauber.(168)

Als Reaktion auf die starke Kritik am neuen Wohn- und Wohnungsstil, der vielen Besuchern der Ausstellung zu kalt, zu ungemütlich und zu unpersönlich war, gaben die wichtigsten Architekten der Stockholm-Ausstellung ein Jahr später ein Manifest mit dem Titel acceptera (Akzeptiere) heraus, in dem sie ihr Anliegen und die Grundprinzipien ihrer Wirklichkeitsauffassung noch einmal verdeutlichten:

[&133;] akzeptiere die vorliegende Wirklichkeit - nur dadurch hast du eine Aussicht, sie auch zu beherrschen, ihr überlegen zu sein, um sie zu verändern und eine Kultur zu schaffen, die dem Leben dienen kann [&133;] Derjenige, der nicht akzeptieren kann, verzichtet auf die Mitarbeit in der kulturellen Entwicklung. Er wird in eine bedeutungslose Pose bitteren Heroismus bzw. Skeptizismus versinken.(169)

Die Absicht war, die Argumente und Aspekte der kontroversen Debatten aufzunehmen und das eigene Konzept zu einem umfassenden System der gesellschaftlichen Umgestaltung auszubauen. Das Manifest war provokativ geschrieben und wurde mit kontrastierenden Fotos illustriert. Die alten, überkommenen Verhältnisse sollten schlagwort-/bildartig der neuen Wirklichkeit gegenübergestellt werden. Das Programm war eine "ungehemmte Huldigungen der neuen Wirklichkeit", die freiere, gesündere und glücklichere Menschen hervorbringen würde.(170) acceptera war wie die ganze Funktionalismus-Idee imperativ und normativ: In der Schrift wurde die Anpassung - technisch und moralisch - an die Veränderungen der Zeit gefordert und gleichzeitig schon sehr genaue Vorstellungen von dieser neuen Realität, der dazugehörigen Gesellschaft und ihrer Mitglieder, präsentiert.(171) Den Funktionalisten ging es also darum, eine radikale Veränderung voranzutreiben. Veränderung durch Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse und durch Anpassung an die zeitgegebenen Umstände. Der Funktionalismus ist eine ästhetische und kulturelle Strömung in der Zeit und sein Stil tief verankert im Zeitgeist, d. h. die äußeren Formen von funktionalistischer Architektur und Gesellschaft sind nicht willkürlich sondern ein Abbild der Zeitvorstellung, die ausschließlich in die Zukunft gerichtet ist. Die Ursprünge der Vorstellung geraten in den Hintergrund, da sie für das Funktionieren des Systems keine Rolle mehr spielen. Die Vergangenheit hat denjenigen, die die Zukunft kennen, nichts mehr zu sagen. Die funktionalistische Ästhetik wird dadurch zu einem "uppdateringsprojekt" (Aktualisierungsprojekt): Zeit wird zur legitimierenden Kraft des modernen Projektes 'Volksheim'. Die Akteure dieses Projekts betrachteten sich selbst als die Diener dieser Zeit und als die Techniker des funktionellen Körpers.

Das Interesse für den eigenen Wert der Zeit erzeugt die Forderung nach Objektivität. Die radikale Baukunst ist getragen von dem Streben nach voraussetzungsloser sachlicher Gestaltung, unabhängig vom Kulturerbe [&133;] Dieses Interesse, dieses Dichten vor dem Antlitz der Zeit als Thema, setzt selbst die Bedingungen, die wir erfüllen wollen. Wir können nicht von der Zeit inspiriert werden, ohne uns mit ihr solidarisch zu fühlen. Wir müssen uns als ihre Diener ankündigen, wir müssen dazu beitragen, ihre Probleme zu lösen.(172)

Technik

Die funktionalistische Ästhetik löste also nicht nur eine Stildebatte aus, sondern konzentrierte sich spätestens seit 1931 auf die sozialen, politischen und ökonomischen Aspekte.(173) Die Vorbehalte gegen den neuen Wohnstil waren nicht nur unter den normalen Besuchern der Ausstellung groß sondern auch innerhalb der Sozialdemokratie gab es ablehnende Stimmen, mit dem Hinweis darauf, daß der Funktionalismus nicht der Ästhetik der Arbeiterbewegung entspreche und nicht Teil der Arbeiterkultur sei. Dennoch gelang dem Funktionalismus der Einlaß in die sozialdemokratische Politik. Das 'Heim' verschaffte sich nach seiner metaphorischen Verankerung in seiner funktionalistischen Ausformung Zutritt zur Politik.(174) Denn nach der Regierungsübernahme 1932 wurde das 'Volksheim' tatsächlich gebaut: Wohnungsbaupolitik war ein bedeutender Teil der Krisenvereinbarung mit der Bauernpartei. Auch bei den Myrdals war dies ein zentraler Punkt zur Bewältigung der Bevölkerungsfrage, bzw. ein Mittel zur Umwandlung der Gesellschaft. Der Funktionalismus als Baustil war nicht nur als demonstrativer Eintritt in eine neue Zeit geeignet sondern bot sich auch aus ökonomischen Gründen an: Der Wohnungsbau konnte durch funktionalistische Standardisierung effektivisiert werden. Die Bauwirtschaft sollte zum Motor der wirtschaftlichen Expansion werden.

Wohnungsgrundrisse, Stadtplanung und gesellschaftliche Ordnung wurden nun anhand funktionalistischer Idealvorstellungen umgesetzt: Nach angenommenen Bedürfnissen werden Räume übersichtlich, funktional, arbeitsteilig nach Lebensaufgaben aufgeteilt.(175) Die neue Gesellschaft soll u. a. im Wohnungsbau verwirklicht werden.

Aber die Forderung nach Anpassung der gesellschaftlichen Entwicklung an die Moderne war eben nicht nur ein formales Problem der Raumaufteilung sondern auch eins der praktischen Umsetzung. Das Myrdal'sche Projekt, die Gesellschaft grundlegend umzubauen, erforderte umfassende Koordinierung, Planung und Steuerung. Es war ein Projekt, das wissenschaftlich geleitet, rationell und funktional zu sein hatte, und es erforderte eben auch eine neue Form der Sozialpolitik, die Gunnar Myrdal 1931, in Abgrenzung zum sozial-liberalen Idealismus, wie folgt beschreibt:

Diese neue sozialpolitische Ideologie enthält starke radikale und in gewissem Maße revolutionäre Möglichkeiten. Sie ist intellektualistisch und berechnend rationalistisch, während die alte, die zur Zeit herrscht, ausgesprochen sentimental war. Sie hat wesentlich weniger Respekt vor der bestehenden Rationalität. Sie ist in hohem Grade befreit von den liberalistischen Ideenbremsen. Auf der anderen Seite ist sie zu technisch orientiert, um sich in völlig allgemeinen und unrealistischen Idealkonstruktionen zu verlieren. Also ist sie 'sachlich'. Ihre Romantik ist die des Ingenieurs.(176)

Die Ästhetik des Funktionalismus und die Technik des Ingenieurs ergänzten sich idealerweise, sowohl in den grundlegenden Annahmen von Gesellschaft als auch personell,(177) so daß der ästhetisch-kulturelle Diskurs problemlos in die politische Praxis übertragen werden konnte. Da war auf der einen Seite das sozialpolitische Engagement der Architekten, das sich aber nicht nur auf die Verbesserung der Wohnverhältnisse bezog sondern auch auf die gesellschaftliche Anpassung an die Erfordernisse der Moderne - in Form eines Aktualisierungsprojektes. Auf der anderen Seite entdeckte die neue Politikergeneration um die Myrdals die Möglichkeit, mit diesem Aktualisierungsprojekt ihre Ambitionen der wissenschaftlich-rational gesteuerten Politik und Ökonomie, zu verwirklichen,(178) d. h. die Ästhetik mündet in einen neuen Politikstil: Dem der Technik des sozialen Ingenieurwesens.(179)

Das Selbstverständnis der neuen Politikergeneration in Schweden der dreißiger Jahre wurde von ihnen selbst mit dem "sozialen Ingenieur"(180) betitelt. In der Person des Ingenieurs werden Wissenschaft und Technik, Ökonomie und Politik miteinander verknüpft. Er ist überzeugt, Realität verändern und sich von dem historischen Erbe befreien zu können.(181) Das soziale Leben wurde als das folgewidrige Resultat der historischen Entwicklung aufgefaßt, so daß es auf der Grundlage von Wissenschaft und Technik verändert werden konnte: Der politische und historische Prozeß sollte so beherrschbar, vorhersehbar, planbar und kontrollierbar gemacht werden. Politik sollte auf Grund wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis objektiviert werden können - auch zum Schutz gegen die kurzsichtigen und egoistischen Interessen der Menschen.(182) Hirdman faßt die grundlegenden Prinzipien der sozialen Ingenieurskunst zusammen unter den Begriffen "Wissenschaft, Rationalität, Sachlichkeit", die sich auszeichnen durch "den Willen zu Handlungen und das Vertrauen sowohl in den guten Staat als auch die technischen Möglichkeiten." Die idealtypischen sozialen Ingenieure sind - nicht nur für Hirdman - Alva und Gunnar Myrdal: intellektuell, modern und radikal.(183)

Das Fundament des sozialen Ingenieurwesens ist der Glaube, daß Wirklichkeit und ihre Anforderungen objektiv feststellbar sind. Ein zentrales Thema der sozialen Ingenieure ist demnach das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und der individuellen Wahrnehmung, die psychologisch erfaßt werden müsse, da sie nicht logisch sei:

[&133;] Das Problem ist also Charakterpsychologisch und darüber hinaus - da es sozialen Gruppen gilt - sozialpsychologisch. Die ökonomische Technologie gründet also in der modernen, sozialpsychologisch ausgerichteten Soziologie.(184)

Nur Politik, die sich auf einer möglichst vollständigen und richtigen Wirklichkeitserkenntnis gründet, ist rationell. Notwendiger Bestandteil der ökonomischen Technologie, bzw. des sozialen Ingenieurwesens muß deshalb die Volksaufklärung sein, um die Gesellschaft nicht außer Kontrolle geraten zu lassen:

Die ökonomische Technologie ist also nicht nur ein wissenschaftliches Projekt, daß der Politik die notwendigen Informationen für ihre Entscheidungen liefert. Die ökonomische Technologie hat außerdem ein erziehendes Element.(185)

Die volkswirtschaftliche und politische Praxis ist also auch ein pädagogisches Problem. Die Menschen müssen lernen, die Wirklichkeit richtig wahrzunehmen. Hauptinstrumente des sozialen Ingenieurs sind bei Gunnar Myrdal Sozialpsychologie und Soziologie. Ein Unterschied zu den idealistischen Auffassungen der Gesellschaftsumwandlung zur Jahrhundertwende liegt in der veränderten Einschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen.(186) Besonders der Einfluß der Sozialpsychologie und des Behaviourismus habe dazu geführt, daß sich falsche und unbrauchbare Traditionen (die vielleicht einmal richtig und nützlich waren) von selbst 'auflösen', so daß man Maßstäbe und Prinzipien neu setzen muß - ausgehend von den nun aktuellen Bedingungen und Verhältnissen. Nicht mehr Aufklärung allein ist notwendig für die gesellschaftliche Erziehung (wenn das Volk weiß, was recht ist, wird es schon recht handeln) sondern direkter Eingriff, bzw. die Übernahme der wesentlichen gesellschaftlichen Handlungsbedürfnisse durch den Ingenieur.

Das Motiv der Intellektuellen, sich politisch und gesellschaftlich zu engagieren, kann nicht mehr aus einem "Gefühl" heraus erklärt werden, etwa idealistisch, romantisch, Mitgefühl demonstrierend, sondern kann nur als Ergebnis rationeller Analyse verstanden werden. Aus der ethischen Legitimationsgrundlage - der Utopie von der "guten" Gesellschaft - wird kalkulierte Motivation und die Vorstellung von der "effektiven, planmäßigen und vernünftigen" Gesellschaft.(187)

Die Expertenkultur, die den Myrdals und ihren Mitstreitern vorschwebte, war geleitet von der Notwendigkeit, in den historischen Prozeß eingreifen zu müssen und davon, daß Expertenwissen durch Effizienz den intervenierenden Staat legitimieren würde.(188) Wieder spielt die Orientierung in der Zeit eine entscheidende Rolle:

Here rationalizaion was not meant in the sense of a heuristic device for reconstructing the past, but rather formed part of a political ideology for constructing the future.(189)

Rationalisierung wurde so Teil einer Weltanschauung, die eine besser organisierte Gesellschaft versprach. Politik besteht in dieser rationalen Gesellschaft aus korrekten Prozeduren, die auf objektivierten Regeln basieren. Korrekte Prozeduren, objektive Regeln und anonyme Wissenschaft führen zur Entindividualisierung der Politik, so daß Einzelinteressen hinter dem Vorhang wissenschaftlicher Erkenntnis verschwinden.

As intended by these actors, rationalization meant bringing order to a disordered world, to a world ruled by custom rather than science, by power, impulsive individuals, and capricious capital, rather than cool, collective reasoning. Most of all, rationalization meant Social Democracy.(190)

Diese Neuorientierung in der Politik äußerte sich in einer Unzahl von staatlichen Untersuchungen zu gesellschaftspolitischen Themen. In bezug auf die Gestaltung des Volksheimes sind die Untersuchungen der Bevölkerungskommission hervorzuheben, die sich praktisch mit allen Belangen des privaten Lebens befaßt hat.(191) Die Untersuchungen zu den Wohnbedingungen wurden mit dem Ziel geführt, "zu propagieren, richtig zu wohnen,"(192) und gaben detailliert Auskunft über die richtigen Möbel, über Ernährungskunde und die Kunst des Kochens sowie über 'Bekleidungshygiene'. Der Maßnahmenkatalog, mit dem diese Auffassungen vom richtigen Lebens durchgesetzt werden sollte, ließ u. a. die Möglichkeit von Wohungsinspektionen zu. Allerdings weist Hirdman darauf hin, daß im abschließenden Bericht der Kommission nicht die reine Lehre des sozialen Ingenieurwesens vertreten wird sondern abgemildert wird durch das "altmodische Aufklärungsideal", das um die Jahrhundertwende z. B. von Key vertreten wurde.(193) Eine weitere Parallele zu Key weist der Abschlußbericht auch in bezug auf die Behandlung der Frau im Heim auf, der die entscheidende, ordnende Rolle zugewiesen wird - trotz des Myrdal'schen Ideals der berufstätigen Frau:

In dem neuen Idealheim soll die Mutter zu Hause sein. Die ethische Erziehung sollte nicht nur der Sexualität gelten. Sie sollte sich auch darauf ausrichten, den Wert der Mütter und Hausfrau zu erhöhen. [&133;] So begegnen wir in dem Material statt dessen [bezieht sich auf die Forderung nach Einbeziehung in das Berufsleben] der anderen Emanzipationsstrategie der Frauen: nämlich den Wert der Frauen zu heben, indem man den Wert des Heimes, indem man den Status der Heimarbeit erhöht.(194)

Dies entspricht ziemlich genau Keys Vorstellungen über "samhällsmoderlighet". Ein Unterschied zu Key könnte darin bestehen, daß die allmächtige Kraft der Schönheit durch die Allmacht der wissenschaftlichen Erkenntnis ersetzt wurde: Das Gute wird durch das Rechte ersetzt, was aber nichts daran ändert, daß sowohl das Gute als auch das Rechte scheinbar objektiv festgelegt wird. Key betont das Individuum, die Funktionalisten leiten alles vom Gesamtbild ab, betonen die Abhängigkeit der Bestandteile. Key will einen Raum schaffen, der der Erneuerung durch die Industrialisierung widersteht; die Funktionalisten wollen u. a. durch den Raum die Wirklichkeit verändern, bzw. anpassen. Diese funktionalistische Wohnung soll ein harmonischer und zweckmäßiger Organismus sein, in der jeder Raum eine besondere Funktion zu erfüllen hat. Aber:

Die neue Ästhetik war nicht nur schön und zweckmäßig. Es war nicht nur das Reine, das dem Schmutzigen entgegengestellt wurde, Ordnung gegen Unordnung. Es ging auch um das Wahre gegen das Falsche, um das Echte gegen Blendwerk.(195)

Die wissenschaftliche und rationale Wirklichkeitsauffassung definiert die Zeit und das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft. Der Gesellschaft werden immer mehr Aufgaben des privaten Lebens übertragen. Die wissenschaftliche Rationalität setzt sich durch, so daß deren Einsichten und Begriffe sich schließlich in moralischen und ästhetischen Kategorien widerspiegeln:

Rationalität drückt sich in systematischer Reinheit, Formalisierung aus. Aber diese Sozialhygiene [&133;] setzt sich durch, indem das wissenschaftlich Korrekte moralisiert und ästhetisiert wird. Gleichzeitig wird sowohl der gesunde als auch der wahre Organismus durch komplizierte Aneignungsprozesse zu einem korrekten Verhalten und zu einem attraktiven Aussehen. (196)

Der funktionalistische Neubau der Gesellschaft vereinigte die Kalküle des Wissenschaftsglaubens und eines ästhetisierenden Moralismus. Das Ziel war die ganzheitliche, fast totalitäre Wirklichkeitsauffassung und ein Bild vom Menschen, der sich nach seinen Möglichkeiten in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß einfügte.

Moral

Die Moral im Volksheim wird bestimmt von zwei Faktoren: Der Überzeugung, den Menschen formen zu können, und damit verbunden, einer ganz besondere Vorstellung von Hygiene in der Gesellschaft. Sie findet Ausdruck in den verschiedenen pädagogischen Anliegen, sei es das der Volksbewegungen, das von Key oder von Alva Myrdal. Thema dieses Abschnitts ist der Mensch des Volksheimes - das damit verbundene Menschenbild, sowie die Position im Volksheim, die ihm zugewiesen wurde, bzw. die er sich erarbeiten mußte.

Die Arbeiterbewegung hatte neben der großen Aufgabe, die Wahlrechtsreform und gesellschaftliche Gerechtigkeit voranzutreiben, eine zweite nach innen gerichtete: Die der Erziehung ihrer Mitglieder zum geeigneten Mitbürger. Dieser "moralische Bau"(197) der gesellschaftlichen Basis war schon früh von der Überzeugung getragen, Teil eines großen Projekts zu sein, für den man sich bilden müsse, um sich aktiv beteiligen zu können.

Man mußte bauen, die Welt bauen und sich selbst in der gleichen fürsorglichen Konstruktionsweise bauen. Dafür brauchte man Pläne, Zeichnungen, Ideen und Ideale. Solche fand man in philosophischen und wissenschaftlichen Büchern. Diese galt es wie Mauersteine zu sammeln und zusammenzufügen. Dies war etwas, was man aktiv gestalten mußte. Dies war etwas, was man in Angriff nehmen mußte - es war eine Tat, keine weltfremde Meditation. Wie die Handwerker nach ihren Werkzeugen griffen, griffen sie nun nach Worten, Ideen und Idealen.(198)

Der gerade aus der Unmündigkeit der paternalistisch organisierten Zünfte und "bruk-" Unternehmen entlassene Arbeiter, mußte die 'schlechten' Gewohnheiten der überkommenen Zeit ablegen, die Unwissenheit beseitigen und gesellschaftliches Verantwortungsgefühl entwickeln. Der moralische Bau war in der Arbeiterbewegung auch mit realen Bauten verbunden: Gebäude für die eigenen Versammlungen, Schulen, Bibliotheken und Volkparks wurden überall im Land gebaut und bildeten die Grundlage einer eigenen Arbeiterkultur. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Volksbildungsideale einen bürgerlichen, sozial-liberalen Ursprung hatten. Schon früh konzentrierten sich die gesellschaftlichen Debatten auf die Inkompetenz der Massen und auf die damit zusammenhängenden Probleme gesellschaftlicher Liberalisierung. Das Heranführen der Menschen an die neue Zeit wurde schon zu Volksbewegungszeiten als "Zivilisierungsprojekt", der Mensch als "Wesen im Werden" aufgefaßt.(199) Die Bildung des Einzelnen zum (selbst-)bewußt und selbständig handelnden Individuum war die Grundlage für ein neues, im Ursprung christlich geprägtes Gesellschaftsmodell, das die patriarchalen 'bruk-samhällen' ablösen sollte. Die persönliche Entwicklung wurde so zur Voraussetzung für die Herausbildung eines politischen Bewußtseins. Die Werte, die mit dieser Entwicklungsstufe verbunden waren, wurden unter dem Begriff der "skötsamhet"(200) zusammengefaßt. "Skötsamhet" war zunächst einer der wichtigsten Forderungen der Abstinenzlerbewegungen. Es stand für den nüchternen Arbeiter und hatte somit auch disziplinierenden Charakter. Denn das Recht des Einzelnen auf freies und autonomes Handeln wurde abhängig gemacht von seinem Grad der Zivilisierung. Mit "skötsamhet" waren demnach alle 'guten' Eigenschaften verbunden, wie Verläßlichkeit, Besinnung und Nachdenklichkeit. "Skötsamhet" war ein Kriterium zur Aufnahme in die Gemeinschaft, ein Zeugnis, das die Befähigung bestätigte, sich am gemeinsamen Projekt der neuen Gesellschaft zu beteiligen. Die individualistische Grundhaltung der Freikirchen und Abstinenzlerbewegungen wurde von der Arbeiterbewegung weitgehend übernommen, wenn auch 'nur' als Mittel, das Kollektiv der Arbeiterklasse gesellschaftlich zu integrieren. Die Arbeiterbewegung formulierte den hegemonischen Anspruch einer Kulturbewegung, durch Veränderung von Bildung und Lebensstil der Arbeiter einen grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch vorzubereiten.(201)

Forsman beobachtet zwei Aspekte sozialdemokratischer Gesellschaftsgestaltung:(202)

  1. von unten, sich entwickelnde Lebensformen auf der Alltagsebene, ein kollektiver Prozeß im Dialog, begrenzt durch unausgesprochene Verhaltensregeln und
  2. die grundlegende Veränderung von oben unter Anleitung der sozialdemokratischen Parteien, die die Gesellschaftsgestaltung als Organisationsaufgabe betrachten: gut geplant, berechnet und geordnet.

Aber das Streben nach neuer Politik, neuer Moral, neuer Ethik, nach einer neuen Welt erforderte eben auch die Unterordnung der privaten Lebensformen unter die Politik, weswegen die Anleitung schnell über die evolutionäre Heranbildung einen Vorsprung gewinnen konnte. Die Verhaltensregeln der kleinen sozialen Lebensräume wurden dabei auf die gesamtgesellschaftliche Ebene gehoben und mündeten schließlich in den dreißiger Jahren im 'samförstånds-' Geist des Volksheimes,(203) d. h. die langsame Entwicklung einer eigenen Kultur wird allmählich von den durch die Volksbewegungen herangebildeten Eliten übernommen, um so größere Ziele in Angriff nehmen zu können: Die politische Ordnung, die von oben angeordnet und moralisiert werden kann.(204) Doch auch wenn das übergeordnete Ziel sich auf die 'Großbaustelle' Gesellschaft ausrichtete, war schon zur Zeit der Volksbewegungen die Lehre über die Art besser, bzw. richtig zu leben und zu wohnen ein Thema dieses Projektes. D. h. die Gestaltung der Gesellschaft greift über die politische Ordnung hinaus auch belehrend in das kleine und private Leben der Alltagsebene ein. Bis Kriegsende herrschte eher ein pädagogischer Geist der Gesellschaftsgestaltung. Nach dem Krieg konnte dann die Ingenieurskunst in weite Bereiche der gesellschaftlichen Ordnung eingreifen.(205) Der Mensch sollte nun nach übergeordneten Plänen in seine soziale Umgebung 'eingebaut', und so geformt werden. Die traditionellen Formen der moralischen Erziehung und die Standards der modernen Planung vermengen sich in den Studienzirkeln auf fast unmerkliche Weise, so daß auch Vorbehalte aus der Arbeiterbewegung gegen bürgerliche Ideale überdeckt wurden durch die neuen Ansprüche:

Denn in dem demokratischen Sprachgewand der sozialen Ingenieurskunst erkannte die Arbeiterbewegung, zumindest in den führenden Kadern, den alten Paternalismus nicht wieder, obwohl die Verwandtschaft in der historischen Perspektive deutlich ist. Eine andere Sache, die den schulmeisterlichen, klinischen Ausdrücken einen befreienden Klang gab, war daß sie sich nicht nur auf den mangelhaften Lebenswandel der Arbeiter bezogen. Auch die Lebensweise der Oberklasse war 'veraltet', denn aus ihrem Weg aus der alten oscarianischen Obrigkeitskultur hatten diese auch ihre Anpassungsprobleme in der modernen Gesellschaft.(206)

Das Ziel war, die Menschen an die Voraussetzungen der industriellen Produktion anzupassen. Auf diese Weise sollte die der neuen Zeit angepaßte Mentalität geformt werden. Allerdings war auch diese neue Mentalität weiterhin stark von dem "skötsamhets-" Ideal der Volksbewegungen geprägt. "Skötsamheten" war noch immer der natürliche Ausdruck für Solidarität und Kollektivität.(207) Das Reformtreiben der Ingenieurskunst ist bestimmt von einer Art Über-Ideologie, die sich nicht ohne weiteres in eine parteipolitische Ecke stellen ließ sondern sich in den Dienst der Gesellschaft als solche stellte. Das Standardwerk, das diese Über-Ideologie repräsentierte, war Kris i befolkningsfrågan der Myrdals, in dem praktisch jede Seite des menschlichen Lebens berücksichtigt wird, um den Menschen zur ökonomischen Ressource, als Rohstoff im Bau der Gesellschaft zu modellieren. Aus diesem Grund nimmt die Forderung nach der qualitativen Regelung des Bevölkerungswachstum einen so großen Raum ein:

Es geht um 'Menschenproduktion' im Dienst der Volkswirtschaft, um in den Bevölkerungslaboratorien der sozialen Ingenieurskunst Prototypen von produktiveren Organismen hervorzubringen als die [&133;] unvollkommenen und unberechenbaren Menschen.(208)

Der Mensch als Prototyp der funktionalen und rationalen Gesellschaft ist auch Thema der Stockholm-Ausstellung. Die Ausstellung stand unter dem Motto "Licht, Luft und Reinheit", welche außerdem als die drei entscheidenden Bedingungen für Gesundheit galten. Zwar bezogen sich diese drei Merkmale in erster Linie auf die äußere Form des Lebensraums; diese Form wurde aber direkt wieder auf die Moral in diesem Raum bezogen. So galt z. B. die Verwendung historischer Stilmittel in der modernen Architektur nicht nur als ästhetisch minderwertig sondern war auch moralisch eine verwerfliche Haltung: Die Umgebung war nicht nur nicht schön sondern auch ungesund und falsch. Es ging also insgesamt um eine neue Denkweise.

Diese drei Elemente des gesunden Lebens bestimmen das Bild vom guten und richtigen Leben und legen die Bedingungen für den Einordnungsprozeß der Menschen in die Gesellschaft fest. Sie stehen synonym für das Wahre, das Gute und das Schöne, die durch einen gesellschaftlichen Reinigungsprozeß verwirklicht werden können, den Kampf gegen Dunkel, Schmutz, Gestank, Unordnung, Krankheit. Die Reinigung der Gesellschaft ist Teil des vernünftigen Projekts: "Rationalität tritt als eine Art sozialen Exorzismus auf und kann vor dem Hintergrund sozialer Hygiene analysiert werden."(209) Die ethischen Aspekte der Hygiene, also die Forderung nach gesunder und richtiger Lebensführung, wird durch technisch-wissenschaftliche Aspekte der sozialen Praktik ergänzt.(210) Die Regelung des Alltagslebens wird in hygienische Ideologie verpackt.

Ein wichtiger Aspekt der Reinigung der Gesellschaft ist der Bereich der Mentalhygiene, der für die 'Bereinigung' menschlicher Eigenschaften steht. Das sozial wünschenswerte Verhalten wird als Standard normativ festgesetzt, dem man sich einzuordnen hatte. Abweichungen von dieser mentalen Normalität galt als Krankheit, die behandelt werden mußte. Alva Myrdal betont, daß diese Einordnung durch Einsicht geschehen solle und damit das demokratische Gegenprinzip zur Unterordnung sei.(211) Normbildung im privaten Raum muß dabei in Einklang gebracht werden mit der sozialen Erziehung im öffentlichen Raum, d. h. Erziehung zum Bürger kann keine Privatsache mehr bleiben sondern liegt nun im öffentlichen Interesse: "Verschiedene unterschiedliche Aspekte des hygienischen Diskurses fallen unter einen zusammenfassenden Begriff, den der 'Gesellschafts-Hygiene'. Dazu gehören all die Leistungen, die die Gesundheit, das Wohlergehen und den Fortschritt in bezug auf die Lebensbedingungen des Volkes fördern."(212)

Kollektivhaus

Man konnte in den vorhergehenden Abschnitten erkennen, daß die drei Ausdrucksformen des Volksheimes, Funktionalismus, soziales Ingenieurwesen und Hygiene direkt aufeinander bezogen sind und daß es im Prinzip kaum möglich ist, sie getrennt voneinander zu betrachten. Zwar kann man den Funktionalismus auch romantisch verklären, wie z. B. in Kjelléns Konstruktion der 'natürlichen' Funktionalität des Staatsorganismus. Doch auch Kjellén hat seine Form des Funktionalismus systematisch erfaßt und strukturiert. Der Schritt von der funktionalistischen Bauweise zur wissenschaftlichen Strukturierung des Lebens ist in den dreißiger Jahren ebenso leicht gemacht. Und auch die Verbindung zur gesellschaftlichen Hygiene ergibt sich in der Zeit fast wie von selbst: Es ist die Zeit, in der in ganz Europa sozial- und rassenhygienische Vorstellungen wissenschaftlich erfaßt und untersucht werden.(213)

Ein reales Gebäude, das vorbildhaft alle drei Prinzipien vereinigen sollte war Alva Myrdals "Kollektivhaus" - das "Flaggschiff der Moderne"(214), das 1935 in Stockholm gebaut wurde. Während die Stockholm-Ausstellung noch die Präsentation der Idee vom guten und modernen Leben war, war das Kollektivhaus nun die praktische Umsetzung inmitten der schwedischen Gesellschaft. Alva Myrdal bezeichnete es selbst als soziales Experiment und Propagandazentrale zur Vermittlung ihrer Ideale.

Das Haus übernahm die Funktionen des privaten Heims, wie Kinderbetreuung, Waschen, Kochen und Putzen. Auf diese Weise sollte die Einbindung aller erwachsenen Bewohner in den Produktionsprozeß der Gesellschaft ermöglicht werden.(215) Von den Bewohnern waren Eigenschaften wie Umsicht, Pflichtbewußtsein, Charakter und Intelligenz gefordert. Das Haus sollte möglichst die individuellen wie auch die kollektiven Bedürfnisse in jeweils angemessenem Maße berücksichtigen, was von den Bewohnern die dauernde Gradwanderung zwischen Selbständigkeit, Selbstverwirklichung und Anpassung, Einordnung erforderte. Der geschaffene Raum des Kollektivhauses sollte diesen ständigen Balanceakt erleichtern, indem es seinen Bewohnern die Last der alltäglichen Erledigungen abnahm, so daß die sich mit ganzer Kraft auf ihre gesellschaftlichen Aufgaben konzentrieren konnten.

Das Kollektivhaus war das ideale Fundament des virtuellen Volksheimes: Es war funktional, wissenschaftlich strukturiert nach den neuesten Erkenntnissen der Sozialpsychologie, und es war der Inbegriff des sauberen Raums. Durch das Haus war Alva Myrdal ihrem Traum, ein neues soziales und damit auch politisches Leben zu schaffen, ein ganzes Stück näher gekommen.(216)

Schluß

Das schwedische Volksheim beschreibt eine gesellschaftliche Ordnung, die in der Regel mit der modellhaften Ausgestaltung des schwedischen Wohlfahrtsstaates verbunden wird. Als Metapher steht das Volksheim für eine Vorstellung von Gesellschaft, die zunächst mit sozialdemokratischen Ideen und sozialdemokratischer Politik gleichgesetzt wird. Die Tatsache, daß es der sozialdemokratische Politiker Per Albin Hansson war, der 'folkhemmet' so populär in die politische Sprache Schwedens einführte, täuscht jedoch darüber hinweg, daß die Metapher des Heimes, als Analogie zur Gesellschaft, mit überwiegend konservativen bzw. bürgerlichen Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung gefüllt ist. Ellen Key und Rudolf Kjellén wurden hier stellvertretend für eine sozial-liberale bzw. konservative Nutzung der Heim-Metapher vorgestellt - als geistige Vorbereiter des sozialdemokratischen Volksheimes. Allen drei 'Heimen' ist gemeinsam, daß sie sinnbildlich für eine jeweils bestimmte Vorstellung von Gesellschaft stehen. Sie sind Reaktionen auf politische und soziale Veränderungen in Schweden seit Mitte des 19. Jahrhunderts und damit in die Zukunft gerichtet, als Vision einer geeigneten, guten und harmonischen Gesellschaft, die ihren Mitgliedern Sicherheit verspricht. Alle drei Heime sind allerdings mit den jeweils eigenen politischen Idealen, d. h. Eigenschaften und Grundannahmen von Gesellschaft, ausgestattet.

Key stammt aus sozial-liberalem Milieu, gut behütet aufgewachsen, beschäftigt sie sich ausgiebig mit der Pädagogik als Grundlage für eine grundsätzliche gesellschaftliche Wandlung, d. h. bei ihr für die Erhaltung einiger grundlegender Werte, wie dem der Selbstverwirklichung, in der sich verändernden Welt. Keys erstes Anliegen ist die Erhaltung des individuellen Elements in der sich "vermassenden" Gesellschaft, um so zu verhindern, daß die ungebildeten Massen die Macht übernehmen könnten. Auch wenn Key immer wieder betont, Veränderungen vorantreiben zu wollen, ist ihre Absicht eher bewahrend - die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liberalisierte Gesellschaft sollte im Grunde erhalten werden. Ihr Ziel ist gesellschaftliche Harmonie, die bei ihr darin besteht bzw. dadurch entsteht, daß individuelle Selbstverwirklichung für jeden möglich ist - also jeder seine Möglichkeiten optimal entwickeln kann. Key baut ständig eine Dualität der Verhältnisse auf, im Heim und in der Gesellschaft herrschen zwei Prinzipien, die miteinander in Einklang gebracht werden müßten, um einen harmonischen Gesamtorganismus zu begründen. Erreicht werden soll dies durch Erziehung: Dem Volk soll die Vereinbarung egoistischen und altruistischen Verhaltens 'beigebracht' werden. Jeder soll sich zwar egoistisch verwirklichen können, aber dennoch kollektives Bewußtsein verinnerlichen. Bei Key soll die Entwicklung allmählich von 'innen nach außen' stattfinden, im 'Selbst' wie auch in der 'Gesellschaft' - sie soll aber paradoxerweise gleichzeitig von Äußerlichkeiten gelenkt werden: Die Schönheit der Umgebung ist für Key ein notwendiges Element der Entwicklung. Der Endpunkt, die harmonischen Verhältnisse in der Gesellschaft, sind bei Key Ausdruck für ein mittleres Maß, das sie ausdrücklich wünscht, obwohl Selbstverwirklichung das Ausschöpfen sämtlicher Potentiale beinhaltet und damit das optimale mittlere Maß gefährdet. Key gelingt es nie, die Dualität wirklich aufzulösen - irgendwann ist einfach eine Entscheidung für oder wider das eine oder andere notwendig, vor der Key sich scheut, auch wenn die Bevorzugung des egoistischen Prinzips ständig durchklingt. Dies gilt sowohl für ihr Gesellschaftsideal als auch für ihre Pädagogik.

Kjellén versteht das Heim als den Rahmen, in den er die schwedische Nation betten will, sobald sie wiederbelebt worden ist. Sein Ziel ist nicht Bewahrung, sondern Veränderung im Sinne von Rückschritt zum Obrigkeitsstaat. Kjellén betrachtet den Staat als eine organische Symbiose aller seiner Bestandteile, d. h. er betont die Abhängigkeit der einzelnen Mitglieder vom Gesamten - und nur das Gesamte ist ausschlaggebend mit der Nation als Herzstück. Dies wiederum bedeutet, daß der Ordnungs- bzw. Organisationsgedanke zentral ist, also die funktionale Ein- bzw. Unterordnung in das Gesamtsystem. Dieses Key völlig entgegengesetzte Bild der von oben geformten Gesellschaft, in den sich jeder funktional ein-/unterordnet kleidet Kjellén in Heim-Rhetorik, wobei dies bei ihm eher (partei-)politisch motiviert ist: Als national-konservativer Politiker ist es ihm ein Anliegen die Nation "heim-"zuführen, d. h. den Verlust nationalen Selbstbewußtseins wieder auszugleichen und der Nation wieder Handlungskraft zu geben.

Auf ähnliche Weise verwendet Per Albin Hansson den Begriff des Heims auf Wahlveranstaltungen. Hanssons Absichten richten sich an zweierlei Adressaten - haben aber im Prinzip ein Ziel: Die Nation zu integrieren, "Schweden allen Schweden" zu öffnen. Auf der einen Seite richtet er sich an seine Partei, die er auffordert, eine nationale Lösung der gesellschaftlichen Probleme zu suchen, in der alle Schweden und nicht nur Arbeiter beteiligt sind. Auf der anderen Seite wendet er sich an eben alle Schweden, um zu signalisieren, daß die SAP auf dem Weg ist, eine Volkspartei zu werden. Gleichzeitig mit dieser doppelten Signalsetzung entwirft Hansson sein sozialdemokratisches Wunschbild von Gesellschaft - indem er den Bezug zur Familie bis zur Neige ausschöpft: Das schwedische Volk ist eine Familie, in der einige Kinder verwöhnt und bevorzugt werden, andere wie Stiefkinder im Dreck liegen gelassen werden. Die nationale Versöhnung ist bei Hansson die Versöhnung ihrer Kinder im eigenen Heim. Hansson zeichnet ein stark idealisiertes Bild einer zukünftigen Gesellschaft, das er massenwirksam populär machen kann.

Die Zukunft wird bei Key und Hansson als Vision des guten, gerechten und glücklich machenden Zustands herbeigesehnt.(217) Key und Hansson beschreiben ihre Wunschvorstellung, indem sie ihr bestimmte Eigenschaften zuordnen; sie malen den Idealzustand aus, ohne sich dabei aber konkret mit dem Problem der Umsetzung zu beschäftigen. Die Konkretisierung des sozialdemokratischen Ziels übernimmt Wigforss, der die Idee vom Volksheim mit politischen Grundsätzen füllt - er weist den Schlüsselbegriffen der politischen Debatten sozialdemokratische Bedeutungen zu. Seine Bedeutung liegt in seiner visionären Stärke, die zum einen nie vom Sozialismus als letztem Ziel abweicht, aber zum anderen dennoch soviel Sinn für das real Machbare beweist, daß er ein konjunkturpolitisches Programm mitentwickeln und umsetzten kann, das Schweden aus der Wirtschaftskrise herausführte. Wigforss sorgt für die sichere ökonomische Basis der weiterführenden gesellschaftlichen Reformen: Die Gesellschaft soll sich den sozialen Bedürfnissen anpassen, d. h. ganz und gar auf die Erfüllung dieser Bedürfnisse ausgerichtet sein. Vernachlässigt wird bei diesem Entwurf, daß er aber auch der Eintritt in eine endlos ansteigende Spirale sein konnte, der selbst die pragmatische Anpassung aller normativen Werte an die jeweils herrschenden Verhältnisse und angenommenen Bedürfnisse irgendwann nicht mehr gewachsen sein würde. Denn der Wert einer Vorstellung von Gesellschaft ist wesentlich dadurch bestimmt, ob sie in der Lage ist, die Dinge zu erhalten und zu beschaffen, die sie selbst als sinn- und wertvoll und damit notwendig setzt.

Anpassung und Funktionalität sind auch entscheidende Kriterien für die Myrdal'sche Konzeption der Gesellschaftsreform; mit dem Unterschied, daß sie das Ziel und den Weg dorthin sehr genau bestimmen können. Ihre Vorgänger waren geleitet von normativen Grundeinstellungen; die Myrdals sind rationale 'Geister': Ihre Wahrnehmung der Realität ist nicht geleitet von ethischen Normen sondern von rationaler, wissenschaftlicher Erkenntnis, bzw. ihrer rationalisierten Form der eigenen normativen Einstellung. Dies drückt sich bei den Myrdals in einer Art von "Zeitlosigkeit" aus, obwohl sie doch ihr politisches Programm über eine Zeitdefinition, die der Moderne, legitimieren. Dennoch ist das Prinzip ihrer Wahrnehmung an keine Ideologie gebunden - im Gegenteil, es ist kompatibel für alle Arten politischer Anschauung. Doch auch wenn sie ihre Forderung nach Anpassung natürlich abhängig machen von den gegebenen Umständen, sind die anleitenden Maßstäbe zeitlos, d. h. ungebunden von übergeordneten, z. B. naturrechtlichen Maximen. Besonders deutlich wird diese Ungebundenheit/Zeitlosigkeit in Kris i befolkningsfrågan, das für ein sehr breites Spektrum politischer Anschauungen akzeptabel war.

Die gesellschaftliche Umgestaltung beginnt für die Myrdals bei der ästhetischen Neuordnung der Gesellschaft, die im weiteren Verlauf auf die technische wie auch die moralisch richtige Alltagsgestaltung ausgeweitet wird. Die "Zerfaserung" der traditionellen Gesellschaft soll nicht nur einfach aufgehoben werden sondern in der Neugestaltung einer modernen Gesellschaft münden und eine vermeintlich neue Art der Zusammengehörigkeit begründen. Das Heim soll in diesem Zusammenhang die Unruhe der politischen und ökonomischen Umbrüche beilegen. Das Volksheim steht für eine Vorstellung von Gesellschaft, die mit Eigenschaften wie Funktionalität, Rationalität und Sauberkeit ausgestattet ist. Diese Vorstellung ordnet die Gesellschaft nach innen und nach außen, d. h. sie richtet sich auf den definierten Idealzustand aus und legt die Bedingungen für die Zugehörigkeit fest, indem sie die vorhandenen politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen und die sozialdemokratische Programmatik erfolgreich in eine Symbolik von "Luft, Licht und Reinheit" einbettet. Diese Ausstattung wird schließlich obligatorisch für den definierten Idealzustand des Volksheimes. Die metaphorische Verankerung dieses Symbolsystems im Begriff des Volksheim suggeriert Eindeutigkeit und Kontinuität: Die Eigenschaften "Luft, Licht und Reinheit" werden zwar funktionalistisch auf die gewünschte Zukunft ausgerichtet und neu definiert. Sie sind in ihrer Grundlagen aber schon Bestandteil der 'skötsamhets-' Kultur der Volksbewegungen, so daß im Begriff historische Zeit und zukünftiger Raum zusammenfließen.

Das schwedische Volksheim ist ein Heim mit vielen unterschiedlichen Räumen und Tapeten, das sich beliebig ausbauen ließe. Seine Konstrukteure bzw. Bauherren haben jeweils die eigenen 'Lieblingsräume' mit ihren Einrichtungswünschen gefüllt, so daß tatsächlich alle, die bereit waren, sich der grundsätzlichen Hausordnung zu beugen, dort heimisch werden konnten. 'Renovierungs-' und 'Umbauarbeiten' haben jeweils für einen neuen Anstrich gesorgt, der die alten Einrichtungsgegenstände nur halbherzig ersetzte oder sie einfach bloß umfunktionierte.

Als politischer Begriff ist das Volksheim - diesem Bild folgend - mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Die Palette seines Gebrauchs deckte im Laufe der Zeit demzufolge das gesamte Spektrum politischer Richtungen ab, von der sozial-liberalen über die national-konservative bis hin zur sozialdemokratisch/sozialistischen Variante, so daß er eine große Wirkungsfläche erschließen konnte. Mit Hilfe des Volksheim-Begriffs konnte die je eigene Begründung einer Wirklichkeit konstruiert werden, die im politischen Kampf um die Gestaltung der Zukunft eingesetzt wurde.

*

Einige 'Tapeten-Schichten' des Volksheimes habe ich exemplarisch anhand der Gedankengebäude einiger seiner Architekten offenlegen können, ohne jedoch wirklich bis zu den Fundamenten vorzustoßen oder aufzudecken, wer, wieso und mit welchen Mitteln den größeren Einfluß bei der 'Einrichtung' des Heimes erlangen konnte, welche Elemente der Einrichtung in welcher Form die Räume beherrschen konnten und wieso andere im Laufe der Zeit verschwanden.

Das Volksheim beschreibt - in seiner heutigen Betrachtung - eine sozialdemokratische Vorstellung - es wird mit sozialdemokratischer Politik identifiziert, d. h. also, daß unabhängig von der, sehr pragmatisch-taktischen Anwendung des Begriffs durch Hansson, weitere Vorstellungen und Überlegungen zur gesellschaftlichen Gestaltung einflossen, die einzeln betrachtet vielleicht sogar widersprüchlich zu den Assoziationen der Hansson'schen Volksheim-Rhetorik erscheinen, aber sich gemeinsam dann doch plötzlich zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Dieser Prozeß des 'Zusammenfügens', also die innerparteilichen Auseinandersetzungen zu den Fragen zukünftiger sozialdemokratischer Politik, besonders zwischen den traditionellen Sozialdemokraten und den modernen sozialen Ingenieuren, habe ich zugunsten der zunächst einmal notwendigen Bestandsaufnahme der begrifflichen Struktur einer imaginierten Gesellschaft ausgelassen. Aber erst die Analyse der realpolitischen Auseinandersetzung um gesellschaftliche Konzepte wird es möglich machen, eventuell zu erklären, warum der Begriff so mächtig in der schwedischen Politik werden konnte.

Ein weiterer wichtiger Beitrag, die Wirksamkeit des Volksheimes zu erklären, muß die historische Entwicklung sein - nicht allein des Begriffs sondern, auch der gesellschaftspolitischen Konzeptionen, die außerdem in die Vorstellungen der dreißiger Jahre eingeflossen sind, wie die funktionalen, rationalen und hygienischen Aspekte von gesellschaftlicher Ordnung. Alle drei Aspekte sind keine Erfindung der 1930er Jahre, sondern lassen sich auf Ideen und Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert zurückführen. Dabei wäre es notwendig zu untersuchen, inwieweit das sozialdemokratische Volksheim ursprünglich ein konservatives Projekt gewesen ist. Wie sahen eigentlich die gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen aus, aus denen heraus die Volksheim-Vorstellungen erwachsen sind? Darüber besteht eigentlich noch völlige Unklarheit. Zwar werden immer wieder Parallelen zu Key und Kjellén gezogen, aber allein die Behauptung oder Feststellung, daß auch die beiden Personen und ihre Weise der Veranschaulichung ihrer Gesellschaftsvorstellungen durch das Heim, die sozialdemokratische Volksheim-Konzeption vorbereitet hätten, kann die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz von 'folkhemmet' nicht vollständig erklären. Wo waren in den zwanziger und dreißiger Jahren die Widerstände gegen das Konzept, gegen die es sich durchsetzen mußte, oder sich darüber hinaus entwickeln mußte, eventuell unter Einbeziehung der alternativen Elemente? Wie steht es mit den Verlierern (z. B. dem Begriff 'medborgarhemmet')? - ein Teil der noch offenen Fragen, die wichtig sind, das Volksheim als hegemonisches Konzept zu verstehen.

Ebenso offen und wichtig ist die historische Zurückführung der wichtigsten Elemente, um ihre Verankerung, ihr Vorverständnis in der Gesellschaft aufzuklären auch in ihrer metaphorischen Verwendung (Familie, Haus, Heim), und schließlich um das speziell schwedische Verständnis von Kollektivität und Individualität als Basis einer gesellschaftlichen Ordnung zu klären. Beide sind essentiell für das Volksheim-Verständnis und, so scheint mir, werden heute fast willkürlich im Konzept vermischt - je nachdem welche Kritik man am Volksheim äußert oder welche Kritik man ignorieren möchte. Auf welche Traditionen lassen sie sich zurückführen? Eine Beantwortung dieser Frage gibt vielleicht Anhaltspunkte darüber, wieso Staats- und Gesellschaftsbegriff im Schwedischen so austauschbar geworden sind - auch dieses Phänomen muß schließlich irgendwann imaginativ verankert worden sein.

Insgesamt kann eine Beantwortung dieser Fragen eventuell dazu beitragen, einige Bedingungen für die Konstruktion von Wirklichkeit zu verdeutlichen.


Literaturverzeichnis

Adler-Karlsson, Gunnar: Funktionaler Sozialismus. Ein schwedisches Glaubensbekenntnis zur modernen Demokratie. Zug: Bergh, 1967.

Ambjörnsson, Ronny: Samhällsmodern: Ellen Keys kvinnouppfattning till och med 1896. Phil. Diss, Göteborg 1974.

------- (Hg.): Ellen Key. Hemmets århundrade. Urval och inledning av Ronny Ambjörnsson. Stockholm: Aldus, 1976.

-------: Den skötsamme arbetaren. Ideér och ideal i ett norrländskt sågverkssamhälle 1880-1930. Stockholm: Carlsson, 1988.

Bergström, Villy: "Party Program and Economic Policy: The Social Democrats in Governments." In: Misgeld; Molin; Åmark, 1992, 131-173.

Broberg, Gunnar: Gyllene Äpplen. Svensk idéhistorisk läsbok. 2 Bde. Stockholm: Atlantis, 1991.

Broberg, Gunnar; M. Tydén: Oönskade i folkhemmet. Rashygien och sterilisering i Sverige. Stockholm: Gidlund, 1991.

Caldenby, Claes; Åsa Walldén: "Konversationslexikon för samhällsbyggare." In: Ord & Bild. (1977:4), 52-64.

Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990 [= stw 867].

Ekström, Anders: Den utställda världen. Stockholmsutställningen 1897 och 1800-talets världsutställningar. Stockholm: Nordiska Museet, 1994.

Elvander, Nils: "Rudolf Kjellén och nationalsocialismen". In: Statsvetenskapliga Tidskrift (1956:1), 15-41 [= Jahrg. 1959].

-------: Harald Hjärne och konservatism. Konservativ idédebatt i Sverige 1865-1922. Uppsala: Almqwist & Wiksell, 1961.

-------: "Rudolf Kjellén och nationalsocialismen." In: Statsvetenskapliga Tidskrift. 1956:1, 15-41, [Jahrg. 59].

Eriksson, Eva: "Das Heim in Sundborn als schwedisches Einrichtungsideal." In: Carl Larsson: Ausstellungsbuch. Nationalmuseum Stockholm (7.2.-10.3. 1992) und Göteborg Konstmuseum (6.6.-30.9. 1992), 145-156.

Esping-Andersen, Gösta: "The making of a social democratic welfare state." In: Misgeld; Molin; Åmark, 1992, 35-66.

Eyerman, Ron: "Rationalizing Intellectuals." In: Theory and Society. (1985:6) 777-807 [= Bd. 14].

Forsman, Per: Det gamla och det nya bygget. Bilder och betraktelser kring en metafor. Stockholm: Carlsson, 1993.

Forsslund, Karl-Erik: Författaren, folkbildaren, hembygdsvårdaren. Hedemora: Gidlund, 1991.

Franzén, Mats; Eva Sandstedt: Välfärdsstat och byggande. Om efterkrigstidens nya stadsmönster i Sverige. Lund: Arkiv, 1993.

Fredriksson, Gunnar; Dieter Strand; Bo Södersten: Per Albin-linjen. Tre ställningstaganden till en socialdemokratisk tradition. Stockholm: PAN/Norstedt, 1970.

Frykman, Jonas (Hg.): Modärna Tider. Vision och Vardag i folkhemmet. Lund: Liber, 1985.

-------; Orvar Löfgren: Den kultiverade männsikan. Malmö: Liber, 1979.

Gidlund, Gullan: "From popular movement to political party: development of the social democratic labor party organization." In: Misgeld; Molin; Åmark, 1992, 97-130.

Glambek, Ingeborg: "Funksjonalismen. Stil og sosial-arkitektonisk bevegelse." In: Norlin, 1993, 63-76.

Graubard, Stephen R. (Hg.): Die Leidenschaft für Gleichheit und Gerechtigkeit. Essays über den nordischen Wohlfahrtsstaat. Baden-Baden: Nomos, 1988.

Hansson, Per-Albin: Sverige åt Svenskarna; Svenskarna åt Sverige. [1926]; In: Linnel; Löfgren, 1995, 421-432.

-------: Samverkan i svensk politik. En redogörelse för socialdemokratins linje i svensk politik. Stockholm 1940.

Henningsen, Bernd; Bo Stråth: "Die Transformation des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Ende des 'Modells?'" In: Jahrbuch für Politik. (1995:2), 221-246 [= 5. Jg.].

Hentilä, Seppo: "The Origins of the Folkhem Ideology in Swedish Social Democracy." In: Scandinavian Journal of History. no. 3, 1978, 323-345.

Himmelstrand, Ulf; Göran Svensson (Hg.): Sverige - vardag och struktur: sociologer beskriver det svenska samhället. Stockholm: Norstedt, 1988.

Hirdman, Yvonne: Vi bygger landet. Den svenska arbetarrörelsens historia från Per Görtek till Olof Palme. Stockholm: Pogo Pr., 1980.

-------: Att lägga livet tillrätta - studier i svensk folkhemspolitik. Stockholm: Carlsson, 1989.

Isacson, Maths: "Bruket och folkhemmet." In: Häften för Kritiska Studier. (1991:2); 16-24.

Isaksson, Anders: Per Albin. I: Vägen mot folkhemmet. Stockholm: Wahlström & Widstrand, 1985.

-------: Per Albin. II: Revolutionären. Stockholm: Wahlström & Widstrand, 1990.

-------: Per Albin. III: Partiledaren. Stockholm: Wahlström & Widstrand, 1996.

Källström, Staffan: Den gode nihilisten. Axel Hägerström och striderna kring uppsalafilosofin. Kristianstad: Rabén & Sjögren, 1986.

Kälvemark, Ann-Sofie: Reaktionen mot utvandringen. Emigrationsfrågan i svensk debatt och politik 1901-1904. Uppsala: Scandinavian university books, 1972. (= Studia Historica Upsaliensa)

Karlsson, Sten O.: Arbetarfamiljen och det nya hemmet. Om bostadshygienism och klasskultur i Mellankrigstidens Göteborg. Stockholm: Symposion Graduale, 1993.

Key, Ellen: "Om Patriotism. Öppet brev till min vän Verner von Heidenstam." [1897]; In: Linnel; Löfgren, 1995, 239-265.

-------: "Schönheit." [1897/98]; In: dies., 1905, 253-282.

-------:"Skönhet i hemmen." [1899b]; In: Ambjörnsson, 1976, 79-108.

-------: Individualismen och socialismen. Stockholm: Bonniers, 1901.

-------: Samhällsmoderlighet. [1903]; In: Ambjörnsson, 1976, 156-185.

-------: Die Wenigen und die Vielen. Neue Essays. Berlin: Fischer, 1905.

-------: Das Jahrhundert des Kindes. Königstein/Ts.: Athenäum, 1978.

Kilander, Svenbjörn: Den nya staten och den gamla. En studie i ideologisk förändring. Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1991. (= Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Historica Upsaliensia Nr. 164.)

Kjellén, Rudolf: "Fosterlandet. En begreppsanalys." [1899]; In: Linnel; Löfgren, 1995, 303-308.

-------: "Nationalitetsidén." [1898]; In: Linnel; Löfgren, 1995, 276-296.

-------: Ett program. Nationella Samlingslinjer. Stockholm: Geber, 1908.

-------: Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive. Leipzig: Hirzel, 1918.

-------: Der Staat als Lebensform. Berlin: Vowinckel, 1924.

Koblik, Steven (Hg.): Från fattigdom till överflöd. En antologi om Sverige från frihetstiden till våra dagar. Stockholm, Wahlström & Widstrand, 1973.

Koselleck, Reinhardt: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979 [= stw 757].

Larsson, Carl: Das Haus an der Sonne. Leipzig: Langewiesche, 1909 [= Die blauen Bücher].

Larsson, Jan: Hemmet vi ärvde. Om folkhemmet, identiteten och den gemensamma framtiden. Stockholm: Arena, 1994.

Lewin, Leif: Planhushållningsdebatten. Uppsala: Almqwist & Wiksell, 1967.

-------: "Debatten om planhushållningen i Sverige från det första världskriget till våra dagar." In: Koblik, Steven (Hg.): Från fattigdom till överflöd. En antologi om Sverige från frihetstiden till våra dagar. Stockholm 1973, 258-276.

Linnel, Björn; Mikael Löfgren (Hg.): Svenska krusbär. En historiebok om Sverige och svenskar. Stockholm: Bonniers Alba, 1995.

Lundborg, Herman: Svenska folktyper. Bildgalleri, ordnat efter rasbiologiska principer och med en orienterade översikt. Stockholm: Tullberg, 1919.

Lundkvist, Sven: Folkrörelserna i det svenska samhället 1850-1920. Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1977 [= Studia Historica Upsaliensa 85].

Misgeld, Klaus; Karl Molin; Klas Åmark (Hg.): Creating Social Democracy. A Century of the Social Democratic Labour Party in Sweden. Pennsylvania: State Universtiy Press, 1992.

Myrdal, Alva och Gunnar: Kris i befolkningsfrågan. Folkupplagan. Stockholm: Bonniers, 1935.

Myrdal, Alva: Folk och familj. Stockholm: Kooperativa förbundets bokförlag, 1944.

Myrdal, Gunnar: Hur styrs landet? Stockholm: Rabén & Sjögren, 1981.

Nilsson, Jan-Olof: Alva Myrdal - en virvel i den moderna strömmen. Stockholm: Östling, 1994.

Norlin, Bertil (Hg.): Kulturradikalismen. Det moderna genombrottets andra fas. Stockholm: Östling, 1993.

Norlin, Bertil: "Den nya sakligheten. En tankestruktur, dess rötter, förgreningar och litterära förankring." In: ders., 1993, 77-102.

Ohlander, Ann-Sofie: "The invisible child? The struggle over social democratic family policy." In: Misgel; Molin; Åmark, 1992, 213-236.

Råberg, Per G.: Funktionalismens genombrott. En analys av den svenska funktionalismens program 1925-1931. Stockholm: Arkitekturmuseum, 1970.

Rigotti, Francesca: Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik. Frankfurt a. M.: Campus, 1994.

Ruth, Arne: "Die zweite 'Neue Nation': Der Mythos vom modernen Schweden." In: Graubard, 1988, 247-290.

Schüllerquist, Bengt: Från kosackval till kohandel. SAP:s väg till makten. Kristianstad: Tiden, 1992.

Scott, Franklin D.: Sweden. The Nations's History. With an Epilogue by Steven Koblik. Enlarged Edition. Southern Illinois: University Press. Carbandale and Edwardsville, 1988.

Scruton, Richard: A Dictionary of Political Thought. London 1982.

Skoglund, Crister: Vita mössor under röda fanor. Vänsterstudenter, kulturradikalism och bildningsideal i Sverige 1880-1940. Stockholm: Almqvist & Wiksell, 1991.

Stråth, Bo (Hg.): Language and the construction of class identities. The struggle for discursive power in social organisation: Scandinavia and Germany after 1800. (Report from the Disco II Conference 1989 on Continuity and Discontinuity in the Democratisation Process.) Göteborg: Universtiy, Department of History, 1990.

Svensk arkitekturkritik under hundra år. Sammanställd och kommenterad av Peter Sundborg. Stockholm: Arkus, 1993.

Therborn, Göran: "Hur det hela började. När och varför det moderna Sverige blev vad det blev." In: Himmelstrand; Svensson, 1988, 23-53.

-------: "A unique chapter in the history of democracy: the social democrats in Sweden." [1988]; In: Misgeld; Molin; Åmark, 1992, 1-34.

Tilton, Timothy: The Political Theory of Swedish Social Democracy. Oxford: University Press, 1990.

Tingsten, Herbert: Den svenska socialdemokratins idéutveckling 1+2. Stockholm: Aldus/Bonniers, 1967.

Trägårdh, Lars: "Varieties of Volkish Ideologies. Sweden and Germany 1848-1933." In: Stråth, 1990, 25-54.

Wigforss, Ernst: Ur mina minnen. Stockholm: Prisma, 1964.

-------: Vision och verklighet. Ett urval ur Ernst Wigforss politiska författarskap med inledning och kommentar av Ove Sandell. Stockholm: Prisma, 1971.


Fußnoten

1. Vgl. z. B.: Ulf Himmelstrand; Göran Svensson (Hg.): Sverige - vardag och struktur: sociologer beskriver det svenska samhället. Stockholm: Norstedt, 1988.

2. Vgl. z. B.: Bernd Henningsen; Bo Stråth: "Die Transformation des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Ende des 'Modells?'" In: Jahrbuch für Politik. (1995:2), 221-246 [5. Jg.]; Arne Ruth: "Die zweite 'Neue Nation': Der Mythos vom modernen Schweden." In: Stephen R. Graubard (Hg.): Die Leidenschaft für Gleichheit und Gerechtigkeit. Essays über den nordischen Wohlfahrtsstaat. Baden-Baden: Nomos, 1988, 247-290; Jan Larsson: Hemmet vi ärvde. Om folkhemmet, identiteten och den gemensamma framtiden. Stockholm: Arena, 1994; Göran Therborn: "Hur det hela började. När och varför det moderna Sverige blev vad det blev." In: Himmelstrand; Svensson, 1988, 23-53.

3. Vgl.: Reinhardt Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit. Ffm: Suhrkamp, 1979 (= stw 757).

4. Key und Kjellén werden immer wieder als Vorläufer des sozialdemokratischen Volksheimes bezeichnet. In den seltensten Fällen wird aber darauf eingegangen, was sie zu Vorläufern macht, außer der Tatsache, daß der Begriff des Heims in ihrer Terminologie eine Rolle spielt. Hinzu kommt, daß man in der Regel nur vage Andeutungen über ihre Gesellschaftsideale bekommt: Ein Grund mehr, diese beiden in dieser Arbeit ausführlicher zu behandeln.

5. Die Identifikation Per Albin Hanssons mit dem Volksheim und der reformistischen Linie sozialdemokratischer Politik ist in Schweden außerordentlich groß. Dies geht soweit, daß ein Politikstil bzw. -programm mit dem Adjektiv "per-albinistisch" versehen wurde. Vgl.: Gunnar Fredriksson; Dieter Strand; Bo Södersten: Per Albin-linjen. Tre ställningstaganden till en socialdemokratisk tradition. Stockholm: PAN/Norstedt, 1970.

6. Vgl.: Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Ffm: Suhrkamp, 1990, 250 (= stw 867): Jede Form gesellschaftlicher, ökonomischer, sozialer und politischer Organisation existiert als allgemein anerkanntes Symbolsystem. Die Symbole solcher Systeme stehen dabei nicht allein für bestimmte Gedanken und Haltungen sondern haben die Aufgabe sie mit den politischen, sozialen, ökonomischen Strukturen so zu verknüpfen, daß sie innerhalb der Gesellschaft obligatorisch werden. Da diese aus dem kollektiven Erfahrungsschatz heraus begründet werden, gibt es keine neutralen oder beliebigen Symbole. Ausschlaggebend ist, daß sie die Verbindungen zu charakteristischen, vermeintlich idealen Strukturen herstellen: "Wesentlich ist, daß die Welt, wie sie in ihrer Gesamtheit einer Gesellschaft gegeben ist, praktisch, affektiv und geistig in bestimmter Weise erfaßt wird, daß ihr ein artikulierbarer Sinn auferlegt wird, daß Unterscheidungen vorgenommen werden zwischen dem, was Wert hat, und dem, was keinen hat [&133;]. Und wesentlich ist schließlich, daß unterschieden wird zwischen dem was geschehen soll, und dem, was geschehen darf."

7. Die 'bruk-samhällen' Schwedens existierten seit dem 16. Jahrhundert und waren in erster Linie auf die Eisenproduktion spezialisiert. Sie kombinierten Elemente von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Industrieunternehmen, um so ein weitgehend geschlossenes Sozial-System zu schaffen. Alle in den Produktionsprozeß direkt oder indirekt eingebundenen Arbeiter und ihre Familien lebten zusammen auf dem 'bruk'-Gelände, wie in einer Dorfgemeinschaft. Der Betreiber der 'bruk' - der Patron/Herr - war für die umfassende Versorgung seiner Arbeiter verantwortlich. Er sorgte für die materielle Sicherheit aber auch für Schulbildung, Gesundheits- und Altersversorgung. Die klassischen 'bruk-samhällen' wurden im Industrialisierungsprozeß durch moderne Produktionseinheiten abgelöst. Dennoch lassen sich einzelne Elemente der 'bruk'-Organisation und -Mentalität noch bis ins 20. Jahrhundert nachweisen, auch im Volksheim. Vgl. dazu: Maths Isacson: "Bruket och folkhemmet." In: Häften för Kritiska Studier. (1991:2), 16-24; oder auch Ruth, 1988.

8. Zur politischen Metapher vgl.: Francesca Rigotti: Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik. Ffm: Campus, 1994.

9. Vgl. dazu und zum folgenden: Per Forsman: Det gamla och det nya bygget. Bilder och betraktelser kring en metafor. Stockholm: Carlsson, 1993, 119ff.

10. "Die Arbeiter hatten kein Heim, und wußten auch nicht, was ein richtiges Heim war - im bürgerlichen Sinn nämlich, eine von der großen Gesellschaft getrennte Reproduktions- und Privatsphäre." Ebd., 127. Diese, wie auch die folgenden Übersetzungen aus dem Schwedischen sind meine eigenen.

11. "Aber es ist etwas übriggeblieben, das man 'Heimweh' (hemlängtan) nennt. 'Assimilation von bürgerlichen Kulturwerten'? Nein, ein Befreiungsprozeß war die Voraussetzung für das Entstehen eines Arbeiterheims, und gleichzeitig ein Identitätswechsel, als die Arbeiter ihre in der patriachalischen Welt der alten Gesellschaft verankerte Hoffnung aufgaben, und sich auf eine beständige Existenz als Lohnarbeiter einrichteten. Aus dieser Perspektive wird der proletarische Aufbau der Familie als ein Bekenntnis zu einer neuen Gesellschaftszugehörigkeit deutlich." Ebd., 128. (Kursiv im Original)

12. Ebd., 131.

13. Vgl.: Sven Lundkvist: Folkrörelserna i det svenska samhället 1850-1920. Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1977 (= Studia Historica Upsaliensa 85], 45ff.

14. S. dazu ausführlicher später das Kapitel über Moral und Hygiene im Volksheim.

15. "Die Klassen hatten doch trotz allem teilweise gemeinsame Ideale, dadurch daß das Ideal der Mittelklasse einen großen Einfluß auf sie alle ausübte. In dieser Hinsicht kann man deshalb sagen, daß die Mittelklasse der Entwicklung ihren Stempel aufgesetzt hat." Lundkvist, 1977, 195.

16. Yvonne Hirdman: Att lägga livet tillrätta - studier i svensk folkhemspolitik. Stockholm: Carlsson, 1989, 82f. Ähnliches schildert Anders Ekström: Den utställda världen. Stockholmsutställningen 1897 och 1800-talets världsutställningar. Stockholm: Nordiska Museet, 1994, der das Heim als "kompensatorische Gegenbewegung" zur gesellschaftlichen Entfremdung bezeichnet.

17. Das Original Barnets århundrade [1900], die deutsche Übersetzung erschien erstmals 1902. Keys Absicht ist, die Menschen über die "Heiligkeit der Generation" aufzuklären, da von ihr die Zukunft abhänge und aus diesem Grunde ihre Erziehung als gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden müsse.

18. Ronny Ambjörnsson: Samhällsmodern: Ellen Keys kvinnouppfattning till och med 1896. Phil. Diss., Göteborg 1974, 241.

19. Ellen Key: Die Wenigen und die Vielen. Neue Essays. Berlin: Fischer, 1905, 21. Titel des schwedischen Orig. [1895]: Individualism och Socialism.

20."Der Liberalismus hat in seiner Unruhe vergessen, daß die Geschichte uns niemals irgend eine äußere Umgestaltung gezeigt hat, die nicht die Folge einer inneren gewesen wäre, die der Gefühle und Gedanken der Menschen über das, was für sie die Werthe des Lebens und die Voraussetzungen des Glücks bildet. Hat diese innere Umgestaltung nicht stattgefunden, dann folgt der Revolution eine Reaction. Und diese Einsicht macht es, daß die Socialdemokratie immer mehr evolutionär statt revolutionär wird, immer abgeneigter, der Gesellschaft eine Ordnung der Dinge aufzuzwingen." Ebd., 16.

21. Ambjörnsson, 1974, 246.

22. Vgl.: Key, 1905, 38.

23. "Aber die grösste Versuchung für die Mehrzahl, sich ökonomisch missbrauchen zu lassen, hört auf, wenn jeder gegen mässige Arbeit sichere Geborgenheit hat." Ebd., 42.

24. Ebd., 44.

25. Die Bedeutung der Mutter führt auch bei Key zur Beschäftigung mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Key war im eigentlichen Sinne allerdings nie eine "kvinnosakskvinna" ('Eine Frau der Frauensache' - Ronny Ambjörnsson (Hg.): Ellen Key. Hemmets århundrade. Urval och inledning av Ronny Ambjörnsson. Stockholm: Aldus, 1976, 49) sondern betrachtete die Frauenfrage immer nur als Ausgangspunkt für gesellschaftliche Reformen.

26. "Und die Männer beginnen einzusehen, je fester die Gesellschaft organisiert ist, desto unumgänglicher wird das Zusammenwirken zwischen allen ihren Teilen, falls der soziale Organismus wirklich seine Aufgabe - allgemeine Wohlfahrt - erfüllen soll. Sie sehen, daß die neuen Formen von sowohl Staatshilfe wie auch Selbsthilfe, die man nun immer mehr sucht, nicht die wirklichen Bedürfnisse erfüllen können, wenn nicht die Frau mit dem Mann in allen Bereichen zusammenarbeitet und dann bei der Gesetzgebung mitwirkt, wenn es um ihre eigenen Belange und die ihres Kindes geht." Ellen Key: "Samhällsmoderlighet". [1903]; In: Ambjörnsson, 1976, 156-185, 157.

27. Ebd., 163.

28. Ebd., 175: Analog zur Harmonie in der Musik zieht Key das Klavierspiel als Beispiel heran, da dort jeder Finger seine feste Aufgabe habe. Sollte ein Finger nicht seiner Aufgabe nachkommen, entstünde Disharmonie.

29. Ebd., 175. Kursiv im Original.

30. Ebd., 177.

31. John Ruskin (1819-1900) war englischer Kunstkritiker und Sozialreformer, der eine neue Wirtschafts- und Sozialethik vertrat und forderte, im industriellen Produktionsprozeß Menschenwürde, Formschönheit und Qualität zu berücksichtigen. William Morris (1834-1896) ist Begründer der 'arts and crafts movement' und der 'Socialist League' in England. Für Key ist seine Vorstellung der zukünftigen Gesellschaft ohne Privateigentum, in der jeder sich in seiner Arbeit verwirklichen kann eine wichtige Inspirationsquelle. Auch Morris' Auffassung, von der ausschließlich auf gegenseitiger Liebe und Achtung begründeten Ehe und der gesellschaftlichen Bedeutung der Frau sind für Key Inspirationsquelle. A. R. Wallace (1823-1913) war Biologe und versuchte die Ergebnisse der Evolutionsbiologie auf die Entwicklung und Formung von Gesellschaften zu übertragen. In einer sozialistischen Gesellschaft, in der Eheschließungen nicht von ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen bestimmt würden, würde die Auswahl der Ehepartner nach erblichen Anlagen und Eigenschaften zur Vervollkommnung der Nachkommen führen. Eine Idee, die Key besonders in ihrer pädagogischen Schrift Das Jahrhundert des Kindes verarbeitet.

32. "Niemand wird dann für sich oder für Andere die Qual einer hässlichen Gesetzgebung, stumpf machenden Arbeitsbedingungen und unschöne Gesellschaftssitten ertragen können. Das Bedürfniss nach Harmonie zwischen unserer Umgebung und unseren Lebensverhältnissen wird dann so gebieterisch werden, daß die Gesellschaftsgesetze endlich nach den Schönheitsgesetzten umgebildet werden müssen." Ellen Key: "Schönheit." [1897/98]; In: dies., 1905, 253-282, 279f.

33. Vgl.: Key, 1903.

34. Ellen Key: "Om Patriotism. Öppet brev till min vän Verner von Heidenstam." [1897]; In: Björn Linnel; Mikael Löfgren (Hg.): Svensk krusbär. En historiebok om Sverige och svenskar. Stockholm: Bonniers Alba, 1995, 239-265, 254. Ambjörnsson, 1976, weist auf die Einflüsse von Nietzsche auf die Ideen von Key hin.

35. Key vertraut stattdessen auf eine intellektuelle Elite, die die kulturellen Fundamente realisieren und weiterverbreiten sollen. Doch auch darüber läßt Key sich nur sehr unbestimmt aus. Sie macht z. B. keine Angaben darüber, wo diese Elite herkommen könnte und auf welcher Grundlage sie zur Elite wird.

36. Vgl.: Larsson, 1994, 66ff.

37. Vgl.: Ebd., 68.

38. Die Verteidigungsfrage war neben der Wahlrechtsfrage das zweite Thema, das die Nation in ein konservatives und ein reformorientiertes Lager spaltete. Konservative Kräfte verfochten zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Strategie eines militärisch starken Schwedens, während Liberale und Sozialdemokraten anderen politischen Themen, wie der sozialen Frage oder dem Wahlrecht, eine höhere Priorität einräumte. Nach den Parlamentswahlen von 1911 beschloß der neue liberale Staatsminister die vorher gefaßten Aufrüstungspläne auf unbestimmte Zeit auszusetzten, was zu starken Reaktionen innerhalb des konservativen Spektrums, u. a. angeführt von dem populären Sven Hedin, führte. Im Vorfeld des 'bondetågets' veröffentlichten die gegnerischen Lager verschiedene Schriften und Pamphlete. Von der radikalen linken Seite erschien von Zeth Höglund "Det befästa fattighuset" [Das befestigte Armenhaus], wo Schweden als Armenhaus bezeichnet und beschrieben wird, das sich eine teure militärische "Befestigung" leisten kann, aber nichts gegen die herrschende Armut unternehmen will. Höglund formuliert eine marxistische Kritik am Militarismus. Höhepunkt dieser Auseinandersetzung ist die Bauerndemonstration (ca. 31.000 Teilnehmer) und zwei Tage später eine von den Sozialdemokraten organisierte Gegendemonstration (ca. 50.000 Teilnehmer). Vgl. dazu: Franklin D. Scott: Sweden. The Nations's History. With an Epilogue by Steven Koblik. Enlarged Edition. Southern Illinois: University Press, Carbandale and Edwardsville, 1988, 401f. Auf lange Sicht wirkte sich diese Auseinandersetzung positiv für die Streiter des allgemeinen Wahlrechts aus, auch wenn die Liberalen in den nächsten Wahlen starke Verluste in Kauf nehmen mußten.

39. Lars Trägårdh: "Varieties of Volkish Ideologies. Sweden and Germany 1848-1933." In: Bo Stråth (Hg.): Language and the construction of class identities. The struggle for discursive power in social organisation: Scandinavia and Germany after 1800. (Report from the Disco II Conference 1989 on Continuity and Discontinuity in the Democratisation Process.) Göteborg, University, Depatment of History, 1990, 25-54, hebt hervor, daß die Besetzung bäuerlicher Kultur durch die Konservativen ein Weg war, den Volksbegriff für sich zu vereinnahmen und die 'zivilisierte' Form von Volk und dessen Geschichte zu erobern: "[...] a version which would serve the hegemonic ambitions of that class. Thus popular holidays, such as midsommar, sankta Lucia, jul were created or transformed in accordance with the new myth of the peasant and his society. The image was a happy one: everybody was neat and clean, drank moderately, was dressed in folkdräkter, sang folksånger and read folksagor. It was essentially a conservative myth, one in which poverty, dirt, disease and above all, any signs of anti-elite political activity was eliminated."

40. Karl Staaff, der liberale Regierungschef, kennzeichnete 1913 in einer Rede die schwedische Gesellschaft als eine in zwei Nationen gespaltene. Vgl.: Larsson, 1994, 70.

41. Vgl.: Larsson, 1994, Kap. IV und V.

42. "Der konservative Obrigkeitsstaat versuchte eine Belebung seiner Position mit Hilfe des Traums von einer nationalen Wiedergeburt. Diese sollte das Band zwischen dem Volk und dem König zu einem organischen Zusammenhalt für eine neue schwedische Großmachtszeit knüpfen; dieses Mal jedoch auf ökonomischem Gebiet." In: Larsson, 1994, 61.

43. Svenbjörn Kilander: Den nya staten och den gamla. En studie i ideologisk förändring. Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1991. (= Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Historica Upsaliensia Nr. 164.) wertet die Tatsache, daß sich die Jungkonservativen nach der Jahrhundertwende auf das Problem der sozialen Frage konzentrieren, als eine Reaktion auf die Unionsauflösung. Die Auflösung der Union bezeichnete er als ein "Wecksignal für die nationale Aufrüttelung und Sammlung um 'Das Neue Schweden', das sich aus der Erniedrigung erheben muß" (95), um 'innerhalb Schwedens Grenzen, Norwegen zurückzuerobern' (ursprünglich ein Schlagwort der schwedischen Nationalromantik, zur Verarbeitung des Verlusts von Finnland an die Russen). Der konservative Politiker Rudolf Kjellén schreibt 1908: "Die Unionsauflösung wirkte auf uns wie ein Stein, der in das Wasser geworfen wurde: Das Wasser wurde aufgewühlt, es entstanden Ringe rund herum; aber wenn es sich wieder glätten und das Wasser weiterfleißen sollte, als ob nichts passiert wäre, dann sollten uns neue Unglücke geschehen." Rudolf Kjellén: "Fosterlandet. En begreppsanalys." [1908]; In: Linnel; Löfgren, 1995, 303-308, 9.

44. Das Vorbild war Bismarcks Sozialpolitik. Vgl.: Larsson, 1994, 62f.

45. Larsson, 1994, 64.

46. Das Staatsbild war im 19. Jahrhundert von dem Rechtsphilosophen C. J. Boström bestimmt. Es baut auf einer strengen Rechtsordnung auf, der sich die Mitbürger als Untergebene unterwerfen müssen. Gesetze sind Ausdruck der kollektiven Vernunft; die Position des Einzelnen in diesem Gemeinwesen ist bestimmt durch die ihm auferlegten Pflichten. Ergänzt wurde diese Auffassung vom Staat durch die liberalen Ideen von der strikten Trennung von öffentlichen und privaten Aufgaben, so daß es keine entsprechende Verpflichtung des Staates gegenüber seinen Bürger gab, wie etwa die Bekämpfung von Armut.

47. Rudolf Kjellén: Ett program. Nationella Samlingslinjer. Stockholm: Geber, 1908.

48. Ebd.

49. Vgl.: Nils Elvander: Harald Hjärne och konservatism. Konservativ idédebatt i Sverige 1865-1922. Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1961, 257-325.

50. In den Jahren 1820-1930 wanderten insgesamt 1,25 Millionen Schweden aus. Vgl.: Scott, 1988, 366ff.

51. Kjellén, 1908, 33 (meine Hervorhebung).

52. "Es fehlt nur noch ein moderner Blick auf die ökonomischen Dinge. Alles andere besitzen wir bereits. Wir dürfen unseren Nachbarn in nichts länger nachstehen, wir, die wir mehr als diese einen materiellen Aufschwung benötigen und die wir die Natur auf unserer Seite haben in Form von großen unverbrauchten Reserven." Kjellén, 1908, 46. Das Programm enthält außerdem Forderungen zur Sozialpolitik, zu moralischen und religiösen Fragen sowie zur Außenpolitik, auf die ich nicht weiter eingehen werde.

53. S. hierzu Elvander, 1961, 300ff. Elvander deutet an, daß Kjellén in bezug auf seine sozialpolitischen Vorstellungen stark von Molin beeinflußt war.

54. Zit. nach: Ebd., 301.

55. Vgl.: Ann-Sofie Kälvemark: Reaktionen mot utvandringen. Emigrationsfrågan i svensk debatt och politik 1901-1904. Uppsala: Scandinavian University Books, 1972 (= Studia Historica Upsaliensa), 132f.

56. Die Eigenheimbewegung entstand um die Jahrhundertwende. Sie erhielt seit 1904 staatliche Unterstützung für die Einrichtung eines Kreditfonds, mit dem der Erwerb von Grundbesitz bzw. von einem eigenen Haus auch für sozial schwächere Schichten möglich wurde. Sie bemühte sich außerdem um die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion. S. auch: Scott, 1988, 376.

57. Vgl.: Kälvemark, 1972, 194ff. Die Berichte der Untersuchungskommissionen wurden in 20 Bänden in den Jahren 1908-1913 veröffentlicht und boten ein umfassendes Bild von Schweden kurz nach der Jahrhundertwende.

58. Von 1905 bis 1908 in der 2. Kammer; von 1911-1917 in der 1. Kammer.

59. In: Larsson, 1994, 64.

60. Vgl.: Elvander, 1961, 257

61. Veröffentlicht 1916 unter dem Titel Staten som lifsform; in deutscher Übersetzung: Der Staat als Lebensform. Berlin: Vowinckel, 1924 erschienen. Die Elemente des Staates sind das Reich, das Volk, der Haushalt bzw. die Gesellschaft, denen die entsprechenden Politikfelder - Geopolitik, Ethnopolitik, Wirtschafts- und Soziopolitik zugeordnet werden. Übergeordnetes Prinzip ist das Gesetz des Lebens, also die Vergänglichkeit, der auch der Staat unterworfen ist.

62. Vortrag von 1898 "Nationalitetsidén" (Nationalistätsidee). In: Linnel; Löfgren, 1995, 278.

63. Zit. nach: Elvander, 1961, 261.

64. "Schweden ist weit mehr als nur eine geographische Einheit oder eine Anzahl zur Zeit lebender Menschen, die die gleiche Sprache sprechen. Schweden vereinigt alle die tausend unsichtbaren Fäden, die das Jetzt mit dem Vergangenem verbindet. Unser Vaterland ist das Resultat einer langen Geschichte weitergegeben von Generation zu Generation, mit allen Erinnerungen an ein gemeinsames Lebens in guten wie in schlechten Tagen. Mehr als alles andere sind es diese Erinnerungen, die die Nation zusammenhalten, die in der Gegenwart Einheit begründen, die gemeinsamen Wünsche für die Zukunft bestimmen." Kjellén, 1899, 305.

65. Kjellén, 1924, 107.

66. Elvander, 1961, 267.

67. "Es ist diese Vereinigung des Naturwesens der Nation und der Staatsvernunft, die das Vaterland in dessen hohen verpflichtendem Sinne bildet als ein neues persönliches Individuum in der Welt mit höherem Existenzrecht als es für uns einzelne Menschen gilt." Kjellén, 1898, 290.

68. Zit. nach: Elvander, 1961, 280.

69. "Was wir am Kollektivismus schätzen ist nicht die Masse sondern die Organisation, will sagen den Organisator." Kjellén in: Nya Dagens Allehanda vom 7. 8. 1915; zit. nach: Ebd.

70. Vgl.: Elvander, 1961, 288.

71. Zumal er Frauen weiterhin das Wahlrecht verweigern und die Stimmen so gewichten wollte, daß Bauerninteressen vor der "Masse der Arbeiter" geschützt seien: "Er annektierte zu nationalistischem Zweck das bedeutungsvolle Wort Demokratie ohne die grundlegenden demokratischen Prinzipien zu akzeptieren." Elvander, 1961, 283. In Kjelléns Zyklustheorie der Staatsformen führen Parteiwesen und Parlamentarismus zum Ende der Demokratie, da sie schlußendlich Mißbrauch von Freiheit und Gleichheit nach sich zögen und den Ruf nach Ordnung und Gerechtigkeit hervorbrächten, die nun wieder nur von einem "Prinzipal bzw. Cäsar" geschaffen werden könnten. Der "Prinzipal" entspringe unbewußt und unmittelbar dem Volkswillen, d. h. er komme aus der Mitte des Volkes und würde von ihm getragen: "Er mußte seine Macht direkt auf dem Volk aufbauen und ihm die Illusion geben, das es selbst die eigentliche Macht besäße." Elvander, 1961, 287. Kjelléns Staatsverständnis weist starke Ähnlichkeiten mit dem nationalsozialistischen Staatsbild auf. Sogar den Begriff des Nationalsozialismus verwendet er in seiner Theorie. Elvander geht dieser Verbindung an anderem Ort nach: "Rudolf Kjellén och nationalsocialismen". In: Statsvetenskapliga Tidskrift. (1956:1), 15-41 [= Jahrg. 59].

72. Kjellén, 1924, orientiert sich bei Robert von Mohl: Die Gesellschaft ist die Zusammenfassung aller jener natürlichen Interessensphären, "die nach der Forderung der Kultur und dem Gesetz der Arbeitsteilung die Staatsbürger in kleinere Gruppen innerhalb ein und desselben staatlichen Rahmens zusammenschließt: Gemeindebürger und Gemeindefremde, Gebildete und Ungebildete, Arme und Reiche, Gewerbetreibende und Beamte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, verschiedene Arten von Arbeitern und dergleichen. Die Gesellschaft ist also eine reale Vielheit von einander widerstreitenden Interessen, während das nationale Volk eine natürliche Einheit von gleichgearteten Individuen ist." Vgl.: Elvander, 1961, 150f.

73. Ebd., 155.

74. "Und wir brauchen uns nicht anzustrengen, um diesen neuen Schößling aus dem verschütteten Bauplatz aufsprießen zu sehen. Rings um uns siedet und braust es von jungem Leben, das hervordringen will. Organisch und frei, wie Pflanzen im Frühling der Natur, schießen soziale Gebilde eines Typus auf, für den das Ideal des Liberalismus am allerwenigsten paßt. Das ist das Vereinswesen oder die Assoziation." Ebd., 155.

75. Ebd., 157.

76. Ebd., 159.

77. Ebd., 162.

78. Zeile aus einem Lied der Arbeiterbewegung: "Vi är tusenden, som bygger landet/ Vi bar det fram i nöd och strid,/ i trots och längtan, i svält och armod./ Nu bygger vi den nya tid." [Wir sind Tausende, die das Land bauen/ Wir bringen es hervor in Not und Streit,/ im Trotz und in der Hoffnung, in Hunger und Armut./ Nun bauen wir die neue Zeit.]. Zit. nach Yvonne Hirdman: Vi bygger landet. Den svenska arbetarrörelsens historia från Per Görtek till Olof Palme. Stockholm: Pogo Pr., 1980.

79. Alva och Gunnar Myrdal: Kris i befolkningsfrågan. Folkupplagan. Stockholm: Bonniers, 1935.

80. Es waren die ersten vollständig demokratischen Wahlen in Schweden.

81. Das Ereignis gibt Anders Isaksson in seiner Biografie von Hansson wieder: Per Albin. III: Partiledaren. Stockholm: Wahlström & Widstrand, 1996, 184f. Er bezeichnet diesen Augenblick als die Geburtsstunde der 'Per Albin-Linie'.

82. Per Albin Hansson: Sverige åt Svenskarna; Svenskarna åt Sverige. [Schweden den Schweden. Die Schweden für das Schweden] [1926]; abgedruckt in: Linnel; Löfgren, 1995, 421-432. Der Titel kann wieder als direkter Angriff auf die Konservativen begriffen werden. Hansson benutzt die alte konservative Parole gegen die Massenemigration, um den Nationsbegriff weiter für die Sozialdemokratie zu erobern. Die Broschüre wird eingeleitet mit einer Erinnerung an einen Wahlkampfauftritt von 1924, bei dem Sozialdemokraten das erste Mal das Vaterland hochleben ließen. Isaksson datiert diese Szene auf das Jahr 1921 und zitiert dabei aus Zeitungsausschnitten, vielleicht war Hanssons Erinnerungsvermögen etwas getrübt - bei der Datierung auf 1924?

83. Ebd., 422.

84. "Wenn der Arbeiter weiß, daß er in Zeiten, in denen er keine Arbeit hat, die Not vom Heim fernhalten kann, dann wird er ein Gefühl der Sicherheit und der Verwurzelung entwickeln, das sich befruchtend auf das Gesellschaftsbewußtsein auswirken wird." Ebd., 428.

85. "So lange die ökonomische Macht in den Händen einiger weniger liegt, so lange wird das Volk über keine effektive Kontrolle über die für seinen Wohlstand wichtigen Produktionsmittel verfügen, so lange hat die politische Demokratie es nicht vermocht, sich zu einer sozialen und ökonomischen Demokratie zu entwickeln, die die Voraussetzung dafür ist, daß man behaupten kann, Schweden gehört allen Schweden." Ebd., 430.

86. Dieser Redebeitrag ist inzwischen so oft zitiert, daß es mir anhand der zugänglichen Literatur weder möglich war nachzuvollziehen, in welchem Zusammenhang er gehalten wurde - also welches Problem im Parlament behandelt wurde; noch ließ sich feststellen, wie ausschnitthaft die Zitate jeweils sind. Die längste und zusammenhängendste Fassung habe ich gefunden in: Hirdman, 1980, 255.

87. Ebd.

88. Ebd.

89.Das 'Haus' - eine denkbare Alternative zum 'Heim' - ist dagegen viel konkreter und kälter. Es steht für ein Bauwerk, eine Konstruktion von Gesellschaft, die eher ihre
Funktionalität betont. Auch dies ist ein Aspekt des Volksheimes; doch dazu später mehr. Zur politischen Metaphorik vgl.: Rigotti, 1994.

90. Zit. nach Isaksson, 1996, 187. Sonst zu Forsslund vgl.: Karl-Erik Forsslund: Författaren, folkbildaren, hembygdsvårdaren. Hedemora: Gidlund, 1991. Trädgårdh, 1990, weist darauf hin, daß Forsslund auf die bäuerlichen Traditionen zurückgreift, indem er die folkloristischen Elemente des Bauernkultes in die von ihm gegründete Volkshochschule der Arbeiterbewegung in Brunnsvik integrierte und somit für ihre Verankerung in der schwedischen Arbeiterbewegung sorgte: "Nonetheless, the common ideal, that of the 'educated worker' came to incorporate the folklig romanticism of Forsslund. Brunnsvik and other People's High Schools attended by workers, came to serve as a school of democracy and worker self-confidence, but it also became an ideological crossroads, a place wher socialist and folkliga world views and discourses came in contact." (39, Hervorhebungen im Original)

91. Rigotti, 1994, weist darauf hin, daß die Familie schon immer sowohl metaphorisch als auch im konkreten Sinn in der politischen Sprache gebraucht wurde. Das gleiche kann man wohl auch für das Heim feststellen.

92. "Die Modernisierung des Heims war ein Teil der Modernisierung der Gesellschaft, die gleiche wissenschaftliche Rationalität, die die Industrie prägte, soll nun auch die Pflege des Heims prägen." Isaksson, 1996, 187. Dies spiegelt sich später deutlich in der Gestaltung, der gesellschaftlichen Moral und Hygiene wider. S. dazu weiter hinten.

93. Vgl.: Ebd., 188. Rigotti, 1994, 77ff., weist darauf hin, daß Familienmetaphern hauptsächlich zwei gesellschaftliche Organisationsformen ausdrücken - die hierarchische durch Vater-Sohn-Beziehung und die vertikale unter Brüdern. Hanssons Volksheim spricht eindeutig von Brüderlichkeit. Rigotti macht allerdings deutlich, daß dieses Bild der brüderlichen Harmonie bei politischen Metaphern in der Regel die Konflikthaftigkeit dieser Beziehung ausgespart wird. Hinzu kommt, daß häufig 'vergessen' wird, daß auch Brüderlichkeit erst verständlich wird, wenn sie in Beziehung zum Vater betrachtet wird (auch Brüder haben einen Vater!), da sie gegenüber ihren Eltern Verpflichtungen haben, und daß in der Vorstellung von Brüderlichkeit "allmählich die privaten Eigenschaften der Individuen grundlegend mißachtet" werden.

94. "Fest steht, daß sich die Sozialdemokratie während der gesamten zwanziger Jahre in einem Zustand ideologischer Orientierungslosigkeit befand, der erst aufgelöst werden konnte, als man in den ersten Jahren der dreißiger Jahre die neuen Ideen über die Rolle des Staates zur Lösung für die Beschäftigungsprobleme entwickelte." Fredriksson u. a., 1970, 27.

95. Die Verteidigungsfrage war bestimmt von Auseinandersetzungen über Abrüstung in der schwedischen Armee und die Neuregelung der Wehrpflicht. Diese Diskussionen sind zwar wichtig für die Etablierung der SAP als parlamentarische und regierungsfähige Partei, aber doch zu weit vom Volksheim entfernt, so daß ich im folgenden nicht mehr darauf eingehen werde.
Ich benutze im folgenden die Begriffe Sozialisierung und Nationalisierung synonym, wenn von sozialdemokratischer Programmatik die Rede ist, da sich in der von mir bearbeiteten Literatur eine konfuse Vermengung der beiden Begriffe abspielt. Sozialisierung ist doch der am häufigsten verwendete Begriff, dennoch wird nicht immer klar, ob nicht doch eigentlich von Verstaatlichung die Rede ist. Wenn ich von Vergesellschaftung bzw. Verstaatlichung spreche, meine ich die jeweils verschiedenen Politik-Konzepte.

96. "The committee's charge was to examine the conditions for, and the suitability of, a transfer into public ownership or public control of natural resources, or of means of production that were of great importance to the nation's economy, or that were otherwise thought suitable for social management." Timothy Tilton: The Political Theory of Swedish Social Democracy. Oxford: University Press, 1990, 90. Vgl. auch: Villy Bergström: "Party Program and Economic Policy. The Social Democrats in Government." In: Klaus Misgeld; Karl Molin; Klas Åmark (Hg.): Creating Social Democracy. A Century of the Social Democratic Labour Party in Sweden. Pennsylvania: State University Press, 1992, 131-174. Bergström behandelt in einem Abschnitt die Abweichungen zwischen Parteiprogramm und Untersuchungsdirektiv und die Uneinigkeit innerhalb der Partei über die Sozialisierungsfrage. Auffallend ist, daß die SAP den Sozialismus zu diesem Zeitpunkt nur noch als technisches Problem zu betrachten schien, dessen Lösungsmöglichkeiten gründlich untersucht werden müßten, und nicht mehr als das Ergebnis einer historischen Entwicklung. Die Kommission beendet ihre Arbeit im übrigen nach 15 Jahren ohne zu einem verwertbaren Ergebnis gekommen zu sein.

97. "Die zwanziger Jahre waren schwer für die Sozialdemokraten. Die SAP war gelähmt durch ihre eigene Unfähigkeit, eine resolute Richtungswahl zu treffen. Das provisorische Versprechen war eingelöst worden und die Wähler sagten Nein zu dem Zukunftsprojekt (Sozialisierung), das die Sozialdemokraten deshalb in Erwartung der nächsten Wahlen in der Schublade liegen ließen." Bengt Schüllerquist: Från kosackval till kohandel. SAP:s väg till makten. Kristianstad: Tiden, 1992, 63.

98. Vgl. dazu: Larsson, 1994, 99ff. Vgl. außerdem dazu Seppo Hentilä: "The Origins of the Folkhem Ideology in Swedish Social Democracy." In: Scandinavian Journal of History. (1978:3), 323-345, der auch Karleby als denjenigen bezeichnet, der die theoretische Rechtfertigung für die spätere Volksheim-Ideologie geliefert habe. Karleby findet nur sehr geringe Beachtung in anderen Auseinandersetzungen mit sozialdemokratischer Ideologie oder Ideenentwicklung, wie in den Standardwerken von Herbert Tingsten: Den svenska socialdemokratins idéutveckling 1+2. Stockholm: Aldus/Bonniers 1967; Leif Lewin: Planhushållningsdebatten. Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1967, oder Tilton, 1990. Hentilä entwickelt auch eine etwas komplexere Erklärung für die Überwindung marxistischer Ideologie in der schwedischen SAP. Während die anderen (Tingsten, Lewin) von einer eher gradlinigen Entwicklung ausgehen, in der die eine Ideologie oder Idee von einer anderen abgelöst wird (Tingsten), bzw. die eine marxistische Ideologie praktisch umgesetzt wird (Lewin), erklärt Hentilä die Entwicklung von revolutionärer Programmatik zu reformistischer Praxis anhand eines drei-Stufen-Modells, in dem der Glaube an die 'historische Vorbestimmung' (predestiny) von der globalen Lösung losgelöst wird und in Schweden schließlich einen nationalen Inhalt bekommen hat: 'folkhemmet'.

99. Zit. nach: Larsson, 1994, 101.

100. Vgl.: Larsson, 1994, 108f.: "Die zentrale Aufgabe der Arbeiterpartei war nach der Auffassung Karlebys, das Proletariat wieder in die nationale Gemeinschaft integrieren: 'eine im tieferen Sinn wirklich gesellschaftsbewahrende Aufgabe'." Die Arbeiterklasse wurde nicht nur für 'gesellschaftsfähig' sondern auch als einzig gesellschaftsbewahrende Kraft erklärt, während gleichzeitig die bürgerlichen Parteien diskreditiert wurden und als 'Gefahr' für die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung bezeichnet wurden.

101. Die zwanziger Jahre waren in Schweden politisch ähnlich turbulent wie in Deutschland. Es gab keine stabilen Regierungsverhältnisse; Minderheitsregierungen und Koalitionen wechselten ständig. Die SAP stellte in dieser Zeit drei Regierungen: 1920; 1921-1923; 1924-26 (in der Regel Minderheitsregierungen).

102. "Wenn man von der Gesellschaft als dem neutralem Vermittler spricht, so glaube ich, wird man Opfer eines Aberglaubens, nämlich dem, daß in einem sozialen Konflikt eine neutrale Gesellschaft existieren könne. Was ist die offizielle Gesellschaft, meine Herren, anderes als ein Ausdruck für gewisse bestehende ökonomische Machtverhältnisse, die die Gesellschaft in festem Griff hält. Es entsteht nichts anderes als eine leere und trügerische Ideologie, wenn man eine Art Neutralität der Gesellschaft versucht zu konstruieren [...], die aus sozialer Sicht zu Nichts führt und die dennoch über dem Ganzen schweben soll als die unparteiische, göttliche und absolute Vernunft. Nein, meine Herren, daran glaube ich nicht [...]" Arthur Engberg, Chefredakteur der Parteizeitung "Social-Demokraten" im Parlament (AK 1924), zit. nach Schüllerqvist, 1992, 56.

103. Die Wahl wurde im Wahlkampf von den bürgerlichen Parteien als eine Richtungsentscheidung hingestellt, wobei in erheblichem Maße Ängste bei der Bevölkerung vor dem Einzug russischer Verhältnisse nach einem sozialdemokratischen Wahlsieg geschürt wurden.

104. Schüllerqvist schildert die Auseinandersetzung über die zukünftige Parteilinie als einen 'Kampf' um Strukturen und parteiliche Organisation. Entscheidend war die Stellung der Gewerkschaften zur Partei, bzw. die Bindung der Gewerkschaften an die Parteilinie. Die Phase, in der diese Entscheidung getroffen wurde, war die zwischen der "Kosackvalet" (1928) und der Vereinbarung mit der Bauernpartei über eine Zusammenarbeit (1932). Es standen sich eher 'staatsfreundliche', auf Zusammenarbeit ausgerichtete, reformistische 'folkpartister' den eher klassenkämpferischen Ansichten entgegen.

105. Schüllerqvist, 1992, 76.

106. Die Artikel waren zeitlich und strategisch aufeinander abgestimmt. Näheres zu "Hanssons folkpartikampanj" in Schüllerqvist, 1992, 119ff. Gleichzeitig setzte sich Hansson auch bei den Gewerkschaften durch und konnte sie an sich binden.

107. Vgl. auch Trägårdh, 1990, 42ff.

108. Hansson 1931 in einer Rede, zit. in: Schüllerqvist, 1992, 142.

109. Die beiden Parteien einigten sich über ein Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und für Zuwendungen an die Landwirtschaft, wie garantierte Abnahmepreise sowie die Monopolisierung des Heimmarktes für inländische Produkte.

110. Allerdings nur in Form einer Duldung oder Tolerierung durch die Bauernpartei.

111. Im Schwedischen 'planhushållning' (Planwirtschaft), von Lewin als Politikstrategie zur Reform der Gesellschaft folgendermaßen beschrieben: "Aber durch die neue Arbeitslosigkeitspolitik - ergänzt mit erhöhtem staatlichen Einfluß über das Kreditwesen und die Rationalisierung der Wirtschaft - sollte man nach und nach den Kapitalismus umwandeln und dessen Beschäftigung und Effektivität steigern können." Leif Lewin: "Debatten om planhushållningen i Sverige från det första världskriget till våra dagar." In: Steven Koblik (Hg.): Från fattigdom till överflöd. En antologi om Sverige från frihetstiden till våra dagar. Stockholm: Wahlström & Widstrand, 1973, 258-276,

112. Ernst Wigforss: Vision och verklighet. Ett urval ur Ernst Wigforss politiska författarskap med inledning och kommentar av Ove Sandell. Stockholm: Prisma, 1971, 76f. Zitat aus: "Har vi råd att arbeta?" (Können wir uns Arbeit leisten?), Wahlbroschüre 1932.

113. Die Kontrolle der Wirtschaft meint hier nicht Macht über die Eigentumsverhältnisse sondern Kontrolle der Produktion. Außerdem wird sie der Gesellschaft stellvertretend für den/die Staatsbürger zugewiesen, nicht dem Staat. Es läßt sich leider nicht feststellen, ob diese ständige Vermengung von Staat und Gesellschaft im sozialdemokratischen Sprachgebrauch evt. Programm gewesen ist. Vieles deutet darauf hin, wie auch die Begriffskombination von 'Volk' und 'Heim'.

114. Wigforss, 1971, 77.

115. Ebd., 91: "Personlig frihet och ekonomisk organisation" (Persönliche Freiheit und ökonomische Organisation). Artikel aus Tiden 1946.(Hervorhebung im Original)

116. Wigforss, ebd.

117. Wigforss [1928], zit. nach: Tilton, 1990, 53.

118. Wigforss, 1971, 117.

119. Vgl.: Gösta Esping-Andersen: "The making of a social democratic welfare state." In: Misgeld; Molin; Åmark, 1992, 35-66, 38.

120. Ebd., 39.

121. "Democracy is a form of social soexistence on the basis of equality, with equal rights for adult citizens to participate in public decisions, with equal rights for everyone to express his opinion, with equal rights for everyone to protection and care in various respects, and with the same obligation for every citizen to serve the public and common welfare to the best of his strength and ability. It is the only form within which a people can live its life in a way worthy of human beings, civilized and free." Hansson [1933], zit. nach: Tilton, 1990, 130.

122. "Ich glaube nämlich an das Volk, seine gesunden Instinkte und sein Vermögen, sein Schicksal zu guter Letzt in die eigenen Hände nehmen zu können. Darum glaube ich auch, daß in einer nicht weit entfernten Zukunft, die Sammlung der Unterdrückten verwirklicht werden wird, die den tragenden Grund für eine starke Volkspolitik begründen wird, empfänglich für die Schwierigkeiten und Bekümmernisse des Volkes, bereit die Gesellschaftsreform zu verwirklichen und durch die Umsetzung der Demokratie in allen Bereichen, die alten Parolen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu strahlender Wirklichkeit werden zu lassen." Hansson, Rede zum 1. Mai 1930, zit. nach Fredriksson u. a., 1970, 9.

123. Hansson's Reichstagsrede von 1935, zit. nach: Fredriksson u. a., 1970, 30.

124. "Es wäre vielleicht ein Grund, daß wir allmählich anfangen sollten versuchen zu verstehen, daß man gleichzeitig gemeinsam handeln und die Unterschiede bewahren kann, daß es nicht notwendig ist, die Diskusssionen über den täglichen Bedarf zu komplizieren mit den Ängsten über das, was in der Zukunft geschehen wird. Selbst Sie auf der bürgerlichen Seite sind doch wohl nicht solche Kinder, daß Sie wirklich glauben, daß wir Sie plötzlich mit etwas reingelegt haben sollten, was Sie nicht wollten." Hansson, 1935, in: Fredriksson u. a., 1970, 135.

125. Ebd., 136.

126. Isaksson, 1996, 65ff.

127. Z.B. Gunnar Myrdal: Hur styrs landet? Stockholm: Rabén & Sjögren, 1981.

128. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Kris i befolkningsfrågan ist Bevölkerungspolitik der überall gängige Begriff. Er wird erst nach Ende des zweiten Weltkrieges durch den Begriff Familienpolitik ersetzt, nachdem 'Bevölkerungspolitik' durch die Nazis diskreditiert worden war. Vgl. dazu Ann-Sofie Ohlander: "The invisible child? The struggle over social democratic family policy." In: Misgel; Molin; Åmark, 1992, 213-236, 215ff.

129. A. u. G. Myrdal, 1935, 11.

130. Ebd., 14.

131. Sie machen allerdings auch eine egoistische Grundhaltung für die geringe Geburtenrate verantwortlich. Ihre empirischen Untersuchungen haben gezeigt, daß gerade wohlhabende Eheleute weniger Kinder haben als die weniger gut gestellten. Vgl. z. B. 204.

132. Ebd., 17.

133. "Schlechte Gewohnheiten müssen zurechtgerückt werden, die unwissenden aufgeklärt, die verantwortungslosen aufgeweckt werden. Hier ist Raum für eine umfassende gesellschaftlich organisierte Volkserziehungs- und -propagandaaktion, die - um dann von Nutzen zu sein, wenn sie am dringendsten benötigt wird - intensiv und pochend sein und alle möglichen Kanäle zu den Eltern ausnutzen muß, die sonst nur geringe Verbindungen mit der sozialen Außenwelt haben." Myrdals, 1935, 226.

134. "[...] in Zukunft wird es in sozialer Hinsicht nicht gleichgültig sein, was die Menschen mit ihrem Geld machen: Welchen Wohnungsstandard sie halten, welche Art von Nahrung und Kleidung sie kaufen und besonders in welchem Maße der Konsum der Kinder akzeptiert wird. Die Tendenz entwickelt sich in jedem Fall hin zu einer sozialpolitischen Organisation und Kontrolle, nicht nur der Einkommensverteilung in der Gesellschaft sondern auch der Verbrauchergewohnheiten der Familien." Ebd., 203.

135. Hirdman verweist im Zusammenhang mit Myrdal'scher Ingenieurskunst darauf, daß der passendere Begriff 'soziale Maschinisten' wäre, 12, FN 4. Zum Technikaspekt der Volksheim-Politikauffassung s. ausführlicher: Punkt 4.

136. Vgl.: Tilton, 1990, 163.

137. Rigotti, 1994, nennt drei Eigenschaften von Metaphern, die sie politisch bedeutend machen können: Ihre ästhetische Anziehungskraft (ornamentale Dimension), ihre Fähigkeit emotionale Bindungen bei den Lesern/Hörern zu wecken (evokative Dimension), ihre Fähigkeit politische Bedeutungen zu erschaffen (konstitutive Dimension). Die beiden erstgenannten Dimensionen von Metaphern wirken direkt emotionalisierend und verbindend. Sie stehen für oberflächliche, evt. kurzfristige Bindungen, sind leicht austauschbar und eher kurzlebig. Sie sind dafür aber auch einfach zu erzeugen und aufgrund ihrer Unkompliziertheit leicht eingänglich. Wohingegen die konstitutive Dimension einer politischen Metapher in der Regel erst nach längerer Lebensdauer Wirkung zeigt, da die Verbindung zu einem politischen Bekenntnis erst aufgebaut werden muß. Dafür wird sie dann auch wesentlich tiefer verwurzelt und bleibt so im Erfolgsfall langlebiger - bis hin zur Identifikation der Metapher mit einem politischen Ziel oder Programm.

138. Vgl.: Hirdman, 1989, 95ff.

139. Wigforss spricht sich für Planung aus, als den zu diesem Zeitpunkt geeigneteren Weg gesellschaftlichen Umbaus. Auf lange Sicht will er Eigentum allerdings an die Gesellschaft übertragen. Vgl. z. B. Vortrag "Socialismen i Socialdemokratin." In: ders., 1971, 109-124. Gunnar Adler-Karlsson: Funktionaler Sozialismus. Ein schwedisches Glaubensbekenntnis zur modernen Demokratie. Zug: Bergh, 1967, bezeichnet diese Form der Wirtschaftsorganisation als 'funktionalen Sozialismus': Nicht die gesamte Produktion bzw. das gesamte Privateigentum wird verstaatlicht sondern nur diejenigen Funktionen des Eigentums, die in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden.

140. Er entwickelt diesen Gedanken der provisorischen Utopien das erste Mal in einem Vortrag "Sozialismus - Dogma oder Arbeitshypothese" 1925. Vgl. dazu Forsman, 1993, 226; s. dazu auch Tilton, 1990, 57.

141. Vgl. dazu: Isaksson, 1996.

142. Indizien sind die Einrichtung neuer, sozialdemokratischer oder gewerkschaftlicher Behörden ("ämbetsverk"), wie AMS 1947; das 'Aufziehen' einer neuen akademischen Elite, für die Politik zum Beruf wird (vgl. dazu im folgenden Kapitel die Ausführungen zum 'Ingenieur') und das Aufstellen einer "Armee" von Sozialarbeitern, Arbeitsvermittlern, Ärzten, Krankenschwestern und Lehrern: "[...] aber die wohlfahrtstaatliche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik des Wohlfahrtsstaates besorgte der Sozialdemokratie einen ganz und gar hegemonischen Sektor, in gewissen Maße auch im Bildungsbereich." Isaksson, 1996, 66.

143. Die Integration von Staat und Gesellschaft zu einem gemeinsamen Ganzen wird in den fünfziger/sechziger Jahren konsequent unter dem Schlagwort 'starka samhälle' - dt.: starke Gesellschaft, aber nichts anderes als die Forderung nach dem starken Staat (= Ausbau des öffentlichen Sektors) - weitergeführt: "[...] die 'starke Gesellschaft' war besser als der starke Staat, [sie] beinhaltete eine Dimension von übergreifender Gemeinschaft, die unter demokratischer Verfassung das Volk mit dem Staat vereinte." (Isaksson, 1996, 68).

144. Ausstattung meint hier die symbolische Verankerung der Volksheim-Politik.

145.Raum meint hier sowohl den privaten als auch den öffentlichen Raum.

146. S. auch Kapitel 2, sowie Key, 1897/98 und 1899.

147. Drei elementare Regeln zeichnen bei Key, 1899 die Ausstattung eines 'schönen Heims' aus: 1. Jedes seiner Einrichtungsgegenstände muß funktional sein. Schönheit bei Key ist auch immer zweckmäßig, während Zweckmäßigkeit nicht automatisch schön ist. 2. Der Raum muß Ausdruck der Persönlichkeit des/der darin Lebenden sein. 3. Alle Einzelteile müssen sich harmonisch zu einer Einheit zusammenfügen, am besten in einem mittelern Maß.

148. Vgl.: Ekström, 1994, 255.

149. Schwedisch Ett hem; eine Auswahl des Zyklus erschien in mehreren Auflagen auch in Deutschland unter dem Titel Das Haus an der Sonne.

150. Carl Larsson: Das Haus an der Sonne. Leipzig: Langewiesche, 1909 (= Die blauen Bücher), 12.

151. Vgl. z. B. Eva Eriksson: "Das Heim in Sundborn als schwedisches Einrichtungsideal." In: Carl Larsson: Ausstellungsbuch. Nationalmuseum Stockholm (7.2.-10.3. 1992) und Göteborg Konstmuseum (6.6.-30.9. 1992), 145-156 und Claes Caldenby; Åsa Walldén: "Konversationslexikon för samhällsbyggare." In: Ord & Bild. (1977:4), 52-64, ordnen Larssons Haus und Keys Vorstellungen vom Heim unter die Kategorie "das Haus als Kunstwerk", das ein Schlagwort der schwedischen Handwerksvereinigung war und das Wohnideal zur Jahrhundertwende umschrieb.

152. "Über den Inhalt der Schaukästen hinaus und neben der expliziten Rhethorik und den programmatischen Ideen bot das Ausstellungsgelände seinen Besuchern die symbolische Artikulation einer besonderen Gesellschaftsordnung." Ekström, 1994, 204.

153. Ebd., 205.

154. Nationale Identifikation ist z. B. ein Aspekt, den Key hervorhebt: "Und kein einziger der Hunderttausenden, die durch die Ausstellung gingen, blieb völlig unberührt von dem nationalen Solidaritätsgefühl. Alle verstanden, das dies ihr gemeinsames Eigentum, der gemeinsame Stolz war; alle trafen sich in der Gewißheit: Dies hat mein Volk gemacht, dieser Arbeitsruhm ist meiner, so groß sind die Möglichkeiten meines Volkes, so reich die Natur meines Landes, so stark und begabt ist meine Nation." Key, 1897, 247.

155. Ruth, 1988, 272.

156. Bertil Norlin (Hg.): Kulturradikalismen. Det moderna genombrottets andra fas. Stockholm: Östling, 1993, 77.

157. Jan-Olof Nilsson: Alva Myrdal - en virvel i den moderna strömmen. Stockholm: Östling, 1994, 167.

158. "Die Ausstellung war ein Ausdruck für Optimismus, Zukunftsglauben, Internationalismus, ewigen Frieden, Demokratie und Gemeinschaft aller Menschen, den Glauben an den Kollektivismus. Es ging nicht nur die Frage um eine Ausstellung sondern um ein Glaubensfrage [&133;] Das alles kam einem vor, wie eine Straße, die direkt in die Zukunft führte. Man war schon in der Urbs, der neuen Stadt des Menschen." Ivar Lo Johansson zit. nach Nilsson, 1994, 190.

159. Per G. Råberg: Funktionalismens genombrott. En analys av den svenska funktionalismens program 1925-1931. Stockholm: Sveriges Arkitekturmuseum, 1970, zieht eine Parallele zu den Ausstellungen von 1897 und 1909, die ebenfalls stark im öffentlichen Interesse standen und zu starken Diskussionen anregte. Vergleichbare Veranstaltungen im Zeitraum zwischen 1909 und 1930 hatten eher den Charakter von Ausstellungen für ein ausgesuchtes Fachpublikum. Vgl. 150ff.

160. Vgl.: Ebd.

161. Architektur ist ein ausgesprochen guter Indikator für politische und soziale Veränderungen in einer Gesellschaft. Die Architekturgeschichte ist nicht nur die Geschichte des Bauens, der sichtbaren Veränderungen von Zeit, sonder immer auch die Geschichte der begleitenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein sehr anschauliches Beispiel für die gesellschaftliche Bedeutung von Architektur bietet eine Sammlung schwedischer Architekturkritik, in: Svensk arkitekturkritik under hundra år [1993].

162. Gregor Paulsson, schwed. Architekturkritiker 1928 in: Kritisk Revy, zit. nach: Ingeborg Glambek: "Funksjonalismen. Stil og sosial-arkitektonisk bevegelse." In: Norlin, 1993, 63-76, 68.

163. Råberg, 1970, 51.

164. Das Verhältnis Individuum-Kollektiv wird jeweils von der entgegengesetzten Perspektive betrachtet. Die Problematisierung dieses Verhältnisses ist demnach keine Erfindung des modernen Projektes, wie Nilsson (1994, 180) behauptet sondern ein ständig wiederkehrender Konflikt, der sich jeweils unterschiedlich löst - je nachdem welche Seite das Übergewicht erhält.

165. Ästhetik spielt bei Kjellén eine untergeordnete Rolle. Gesellschaftspolitisch ist die kulturelle und geistige Entwicklung Schwedens für ihn mehr als genug ausgeschöpft, notwendig ist es jetzt vielmehr, das Selbstbewußtsein der Nation zu erhöhen: "Wissenschaft und schöne Künste, intellektuelle und ästhetische Werte, Verstand und Gefühl, davon haben wir genug und übergenug. Was uns fehlt, ist der moralische Wille und nationale Selbstachtung. Wir haben mehr Befähigung zu denken als Kraft zu handeln. Die frische Gesichtsfarbe der Entschlossenheit ist verblaßt gegenüber dem kranken Nachdenken. Unser Volk ist psychisch überbaut: Es hat hohe Türme, aber einen schwachen Grund. Dies ist die Diagnose, die einer Kur bedarf." In: Kjellén, 1908, 4. Allerdings setzt er Ästhetik selbst als Stilmittel in seinen Schriften ein: Die Beschreibungen seines Staats-Organismus sind eine große Ode an das Leben und die Natur. Diese Art der Bejahung des Lebens birgt auch eine Art von Ästhetik, im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung, in sich. Auch Wortwahl kann Ästhetik vermitteln, zumal die bei Kjellén nicht zufällig sein dürfte. Die von Kjellén benutzten Worte strahlen eine große Naturverbundenheit aus, suggerieren Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit seines politischen Systems.

166. Åhrén, 1926 zit. nach: Nilsson, 1994, 186.

167. Vgl.: Nilsson, 1994, 187: "Die Bestandteile der Gesellschaft können sich sicherlich unterscheiden, aber nicht gegeneinander wirken. Alles sollte sich ja 'einem stolzen Plan' unterwerfen. In diesem Weltbild war Nivellierung nichts negatives sondern der einzige mögliche Weg, um die Teile in Harmonie mit dem Ganzen zu bringen." S. dazu auch Caldenby; Walldén, 1977, 54f.

168. Vgl.: Ebd. Ausführlicher zu diesen Elementen in den beiden folgenden Kapiteln.

169. Zit. nach: Glambek, 1993, 72.

170. Ebd.

171. Zur Überschrift "Individen och massan [...]" wird das Bild von einer Menschenmasse, aus der ein Mensch in den Bildvordergrund hervorgehoben ist, gezeigt. Dazu gehört folgender Begleittext: "Das Persönliche oder das Allgemeingültige? Qualität oder Quantität? - eine unlösbare Fragestellung, denn wir können genauso wenig vom Faktum der Kollektivität loskommen wie von der Forderung des Individuums nach einem selbständigen Leben. Das Problem unserer Tage heißt: Quantität und Qualität, Masse und Individuum. Es ist notwendig, dieses auch im Bereich der Baukunst und der Kunstindustrie zu lösen." Zit. aus: Nilsson, 1994, Bild nr. 2. (Hervorhebungen im Original.)

172. Aus acceptera; zit. nach: Nilsson, 1994, 194.

173. In der Folge der Stockholm-Ausstellung erscheinen neben acceptera noch zwei weitere Propagandaschriften, die sich mit dem Funktionalismus als sozialpolitischer Idee auseinandersetzten: Gustav Näsström: Svensk funktionalism [1930], Gotthard Johansson Funktionalism i verkligheten [1931]. Vgl. dazu: Råberg, 1979, 224ff.

174. Hansson zieht 1936 in ein Reihenhaus funktionalistischer Bauweise ('funkis') ein. Nilsson, 1994, 191, deutet diese Tatsache als symbolischen Einzug der Sozialdemokratie in die Moderne: "Der Funktionalismus war nun definitiv die Architektur des Volksheimes. Das schwedische Volksheim war nicht länger eine rote kleine Hütte mit weißen Ecken. Und es lag nicht mehr länger in der Provinz Dalarna. Es war nun ein Wohnviertel am Rande der Stadt."

175. Die Aufteilung der Wohnräume nach Funktionen bedeutet z. B. die völlige Umstellung der bisherigen Wohngewohnheiten, ganz besonders in bezug auf die Küche, der ausschließlich Haushaltsfunktionen vorbehalten waren, im Gegensatz zur traditionellen Nutzung auch als Wohnraum. Auf ähnliche Weise werden auch Stadträume eingeteilt nach dem Modell der 'ABC-Gesellschaft', in der die Stadt aufgeteilt wird nach Freizeit-, Arbeits- und Erholungsbereichen. Vgl. dazu Larsson, 1994, 198ff. oder ausführlicher Sten O. Karlsson: Arbetarfamiljen och det nya hemmet. Om bostadshygienism och klasskultur i Mellankrigstidens Göteborg; Stockholm: Symposion Graduale, 1993.

176. Nilsson, 1994, 164. G. Myrdal bezeichnet die radikale Sozialpolitik auch als die "planhushållnings-" Variante der Sozialpolitik. Vgl. auch Larsson, 1994, Kap. 6.

177. Das Ehepaar Myrdal hatte enge Kontakte zu den funktionalistischen Architekten, mit denen sie in verschiedenen Projekten zusammen arbeiteten, z. B. Gunnar Myrdal mit Uno Åhrén in einer Untersuchung der Wohnverhältnisse in Göteborg, Alva Myrdal plante mit Sven Markelius zusammen ein Kollektivhaus, in dem sie ihr Wohn- und Gesellschaftsideal verwirklicht sah. Vgl. dazu und zum folgenden Larsson, 1994, 84f. Außerdem Nilsson, 1994; Hirdman, 1989 und Råberg, 1970, zu der personellen Verknüpfung der ästhetischen und politischen Projekte.

178. "[...] es war die Orientierung der Architekten zum sozial Experimentellen kombiniert mit wissenschaftlich bestimmten und zielrationalem Handeln, das mit der Orientierung der politischen Ökonomie hin zur sozialen Ingenieurskunst zusammenfiel." Larsson, 1994, 185. S. auch: Crister Skoglund: Vita mössor under röda fanor. Vänsterstudenter, kulturradikalismen och bildningsideal i Sverige 1880-1940. Stockholm: Almqvist & Wiksell, 1991, der den Generations- und Mentalitätswechsel aus dem Jugendverband der Sozialdemokraten (SSU) heraus verfolgt. Er weist u. a. auf die Einflüsse des Austro-Marxismus und Otto Bauer hin und zieht nicht nur ideologische Parallelen sondern macht auch auf Gemeinsamkeiten im Bereich der Architektur (z. B. die Bauprojekte in den Arbeitervierteln Wiens) aufmerksam.

179. "The planned reconstruction of society. The phrase was used, for example, by the American jurist Roscoe Pound to denote the rule of law in a democratic society, but has often been thought to have rather sinister overtones. Hence it is contrasted with piecemeal (social) engineering (by Popper), and with social architecture, the first expressing hostility to the totalitarian, the second hostility to the utilitarian, implications of the phase. A variant is the 'behavioural engineering' advocated by B. F. Skinner." Stichpunkt 'social engineering' in: Richard Scruton: A Dictionary of Political Thought. London 1982, 432.

180. Alva Myrdal über soziale Ingenieure: "Sie müssen nun die Stufe vom bloßen Registrieren von Fakten und Analysieren von Kausalzusammenhängen zum Aufstellen rationaler Pläne für zweckmäßige Veränderungen nehmen. Eine derartige konstruktive Ingenieurskunst ist im Grunde genommen angemessener in Schweden als in einem anderen Land. Die Wissenschaftstheorie, die dahinter steht - nämlich daß man ein System relevanter Werteprämissen neben einem System beobachteter Fakten zuläßt - ist faktisch in Schweden ausprobiert worden." zit. nach Hirdman, 1989, 12. S. auch: Alva Myrdal: Folk och familj. Stockholm: Kooperativa förbundets bokförlag, 1944, Kap. VII, wo sie das Programm ausführlicher beschreibt.

181. "Unsere Gedanken fließen nun allzeit über das in Dezenien abgelagerte Doktrinenfossil, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht - meist so, als wenn wir es nicht wüßten. Dessen tote Gedanken trüben wie Bodensatz unsere Vorstellungen und Ansichten. Durch einen Rückblick kann man rational aussieben und trennen. Darin liegt der eigentliche Wert einer historischen Orientierung. Sie soll uns von der Toten Macht über unsere Leben befreien." Myrdals in "Kris i befolkningsfrågan" zit. nach Hirdman, 1989, 99.

182. Vgl.: Ebd., 100.

183. Ebd., 97. Nilsson, 1994, gibt in seiner Biografie von Alva Myrdal einen sehr umfassenden und detaillierten Einblick in dieses intellektuelle Milieu Schwedens der 30er und 40er Jahre. Für G. Myrdal sind Soziologen zu sehr mit den Menschen beschäftigt und Volkswirte aufgerieben zwischen den gegensätzlichen politischen Interessen. Architekten dagegen zeichnen und bauen nach exakten Plänen und steuern auf diese Weise die Umgebung und Lebensformen der Menschen. Genau das hatten die Myrdals mit ihrer prophylaktischen Sozialpolitik aus Kris i befolkningsfrågan vor. S. auch Forsman, 1993, 206.

184. Nilsson, 1994, 157.

185. Ebd., 158. Zum Aufklärungs-/Erziehungsaspekt des Volksheimes im nächsten Kapitel mehr.

186. Vgl.: Skoglund, 1991, 225ff.

187. Den sozialen Ingenieuren werden Merkmale wie Sachlichkeit, Objektivität und der unsentimentale Blick auf das Dasein sowie die Ablehnung alles Metaphysischen zugewiesen. Dies wird im allgemeinen auf den Einfluß Axel Hägerströms und seine Philosophie zurückgeführt. S.: Skoglund, 1991, 200ff. Ausführlich zum Einfluß Hägerströms, besonders auf Gunnar Myrdal bei Staffan Källström: Den gode nihilisten. Axel Hägerström och striderna kring uppsalafilosofin. Kristianstad: Rabén & Sjögren, 1986. Nilsson, 1994 weist auch ausführlich auf Einflüsse von Max Weber und Auguste Comte hin. Der Rahmen dieser Arbeit läßt leider keine weiteren Vertiefungen zu.

188. Soziales Ingenieurwesen paßt ebensogut in die konservative Ideenwelt Kjelléns, der auch Expertenregierungen und Elitensteuerung fordert. Der Unterschied liegt in der Frage, wer die steuernden Experten sein sollen und wo die Grenzen ihres Einflusses gezogen werden sollen. Sowohl Nilsson, 1994 als auch Forsman, 1993 weisen darauf hin, daß G. Myrdal in jungen Jahren Kjellén gelesen und ihn rezipiert hat.

189. Ron Eyerman: "Rationalizing Intellectuals." In: Theory and Society. (1985:6), 777-807, 780, [= Bd.14].

190. Ebd., 786.

191. Yvonne Hirdman zählt in einem Zeitraum von 1934 bis 1956 dreiunddreißig Veröffentlichungen der Bevölkerungskommissionen auf, in denen es z. B. um wohnungssoziale und -hygienische Fragen, um Mutter- und Kinderpflege, um Familienbesteuerung, Sterilisierung, Abtreibung und Volksgesundheit geht.

192. Hirdman, 1989, 153.

193. Vgl. auch zum folgenden: Hirdman, 1989, 157.

194. Zit. nach: Ebd., 157.

195. Nilsson, 1994, 203.

196. Ebd.

197. Forsman, 1994, 156ff.

198. Ebd.

199. Ronny Ambjörnsson: Den skötsamme arbetaren. Ideér och ideal i ett norrländskt sågverkssamhälle 1880-1930. Stockholm: Carlsson, 1988, 269.

200. Die geläufige Übersetzung ist Strebsamkeit, Ordentlichkeit.

201. Vgl. dazu Larsson, 1994, 160f. und Ambjörnsson, 1988, 261ff.

202. Vgl. zum folgenden: Forsman, 1994, 230ff.

203. Doch: "Dieser 'samförstånd' wird genauso schnell von Tabuvorstellungen überlagert, wie die sozialen Konventionen der Dorfgesellschaften." Forsman, 1994, 231.

204. Hier ergänzen sich die Vorstellungen der Arbeiter und der sozial-liberalen Kreise um Key. Die Maßstäbe des "moralischen Baus" stammen aus den bürgerlichen Idealen: "Es gibt keinen großen Unterschied zwischen der Bildungsbotschaft, die von den philantrophisch beeinflußten Volksbildern, wie Ellen Key, gepredigt wurden [&133;] und den Ideen zur Bildung, die von unten aus den Abstinenzler- und Arbeiterbewegungen herauswuchsen. Die philantrophischen und volkstümlich beeinflußten Bewegungen näherten sich einander an." Ambjörnsson, 1988, 268. Bildung als Haltung, Attitüde und Bildung als strategisches Mittel vermengen sich.

205. Nach Beendigung des zweiten Weltkrieges beginnt für die schwedischen Sozialdemokraten eine längere Phase, in der sie gestützt auf eine parlametarische Mehrheit ihre Pläne durchsetzten konnten. Zuvor war die SAP immer noch zur Rücksichtnahmen vor dem bürgerlichen Koalitionsparter gezwungen, was sich sowohl auf die Definition der Politikziele als auch auf die Methoden der Umsetzung auswirkte.

206. Forsman, 1994, 236.

207. Isacsson, 1991 zieht die Parallelen bis in die Kultur der paternalistischen Bruk-samhälle, die in das moderne Volksheim der SAP übernommen wurde.

208. Forsman, 1994, 241.

209. Nilsson, 1994, 66.

210. Der ethische Hygiene-Diskurs beginnt in Schweden schon zum Ende des 19. Jahrhunderts als Teil des skötsamhets-Ideals. In mehreren Hundert Schriften und in Bildungsveranstaltungen werden hygienische Richtlinien vermittelt. Eine bedeutende Person in diesem Diskurs war Elna Tenov/Elsa Törne, die von Nilsson, 1994 als eine wichtige Vorgängering Alva Myrdals bezeichnet wird.

211. Vgl. z. B.: Nilsson, 1994, 229 oder Larsson, 1994, 155. Myrdal übersieht, daß die Grenze zwischen Ein- und Unterordnung dermaßen dünn ist, daß diese Unterscheidung eigentlich nur idealtypisch in der Abstraktion möglich ist. In der sozialen Praxis verwischt sie zusehends. Zumal Myrdal auch Sanktionen vorsieht, um die Einordnung zu erleichtern - bevor es ein pathologischer Fall wird. Als die angemessene Form der Sanktion bezeichnet sie die Isolierung.

212. Jonas Frykman; Orvar Löfgren (Hg.): Modärna Tider. Vision och Vardag i folkhemmet. Lund: Liber, 1985, 75.

213. Allerdings mit unterschiedlichen Absichten und Konsequenzen in den verschiedenen Ländern. In Schweden waren rassenhygienische Untersuchungen nie mit der Begründung von rassischer Über- oder Unterlegenheit verbunden. Es ging mehr um den Menschen als solchen, was allerdings nicht verhinderte, daß auch hier Kategorien von Menschen geschaffen wurden und eine Art von Auslese stattfand. Vgl zu diesem Thema. z. B.: Herman Lundborg: Svenska folktyper. Bildgalleri, ordnat efter rasbiologiska principer och med en orienterade översikt. Stockholm: Tullberg, 1919; außerdem Gunnar Broberg; M. Tydén: Oönskade i folkhemmet. Rashygien och sterilisering i Sverige. Stockholm: Gidlund, 1991, Frykman; Löfgren, 1985. Noch eine Anmerkung zur Ergänzung der drei Ausdrucksformen des Volksheimes: Auf der Stockholm-Ausstellung von 1930 war eine Abteilung dem rassenhygienischen Aspekt gewidmet.

214. Nilsson, 1994, 243ff. Als Vorbild des Kollektivhauses verweist Nilsson auf das amerikanische Familienhotel. Vgl. dazu auch Caldenby; Walldén, 1977.

215. Alva Myrdal konnte sich wohl nicht vorstellen, daß diese Einbindung auf sehr "heimische" Weise geschah: Die Frauen übernahmen nun im gesellschaftlichen Auftrag weitgehend die Funktionen, die sie in den Familien auch schon hatten.

216. Allerdings blieb es das einzige seiner Art. Die Experementierphase wurde nie überwunden, auch weil eine Verankerung dieser Idee bei dem Durchschnitts-Schweden nie gelang.

217. Kjelléns ausgesprochen deterministische Geschichtsauffassung schließt eine visionäre Ausmalung der Zukunft aus, sie ist ja vorbestimmt. Seine zeitgestalterischen Absichten gelten der Vorbereitung seines Ziels.