Exkursion 2019
Nordmanie in der Normandie?
Kulturelle Identitäten und der Mythos „Wikinger”
(2.–9. Juni 2019)
Zum ersten Mal in der Geschichte des Nordeuropa-Institutes führte uns die Reise von Berlin aus gen Süden, in die Normandie. Die Exkursion wurde von der Mediävistik ausgerichtet und durch den Fachteil Kulturwissenschaften ergänzt. Sowohl die Exkursion als auch der dazugehörige Kurs erfreuten sich sehr großer Beliebtheit, so dass wir mit insgesamt 24 Mitgliedern des NI (Studierende und als Begleitpersonen Philipp Bailleu, Friederike Richter und Paul Greiner) mit Kleinbussen gen Süden rollten. Die Exkursion wurde durch den gleichnamigen Kurs „Nordmanie in der Normandie? Kulturelle Identitäten und der Mythos ‚Wikinger‘“ vorbereitet, durch zwei Filmabende ergänzt (u.a. Aki Kaurismäkis Le Havre) und schloss mit einer Studienkonferenz ab. Themen im Kurs und auf der Exkursion waren u.a. mittelalterliche höfische Literatur wie die vom Altfranzösischen ins Altnordische übersetzten Lais der Marie de France ( Strengleikar), der Mythos „Wikinger“ in Populärkultur, kulturelles Gedächtnis und kollektive Identitäten sowie mittelalterliche Darstellungen aus französischer Perspektive zur Geschichte der Normandie (u.a. Abbo von Saint-Germain-des-Prés Bella parisiacæ urbis sowie Dudo von St. Quentins De moribus et actis primorum Normanniae ducum).
▼ Nordmanie in der Normandie?
Schon der Name des Reiseziels lässt die Bedeutung dieser Region für Skandinavist*innen erahnen: Ein Teil der (späteren) Normandie vermachte der westfränkische König Karl III. der Einfältige 911 dem Wikingeranführer Rollo (Hrólfr) im Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte als Lehen. Ein Grund soll gewesen sein, dass der König sich erhoffte, dass dieser ihm weitere über das Fluss-System anlandende plündernde Wikinger vom Hals halten würde. Die sich mit Rollo in der Normandie niedergelassenen Wikinger hätten sich mit der dort ansässigen Bevölkerung schnell u.a. durch Christianisierung und Erlernen der Sprache akkulturiert. Die Nachfahren von Rollo/Hrólfr wurden später Herzöge der Normandie, und einer, Wilhelm der Eroberer, fiel von der Normandie aus mit Schiffen 1066 nach England ein und wurde dann zum englischen König gekrönt. Bis heute wird in der Normandie mit Verweisen auf diesen Teil der Geschichte Identitätspolitik betrieben oder ein lokaler Exzeptionalismus ausgedrückt. So verwendet z.B. der Fußballverein SM Caen seit 2016 einen bärtigen Wikinger (mit Hörnerhelm!) als neues Vereinslogo.
▼ Nach Süden!
Wir fuhren mit drei Kleinbussen aus Berlin los und legten jeweils auf der Hin- und Rückfahrt einen Übernachtungsstopp in Belgien (Gent bzw. Mons) ein. Übernachtet haben wir dort in Hostels, in Frankreich ansonsten auf Campingplätzen in sogenannten Mobile Homes direkt an der Seine (in Jumièges) und in Ferienwohnungen in Surtainville auf der Halbinsel Cotentin. Letztere lagen direkt am Strand, der viele morgens und abends zum Spaziergang oder Baden anzog. Wir haben uns – mit allen, die wollten – morgens zum Morgensang auf der Düne getroffen, um Lieder verschiedener skandinavischer Sprachen zu singen.
▼ Des Deux Amants
Der erste Tag in der Normandie führte an der Seine zum Hügel der zwei Liebenden und nach Rouen. Vom Hügel der zwei Liebenden bei Pîtres erstreckt sich ein großartiger Ausblick auf die sich windende Seine. Dieser Fluss war auch der Zugang für Wikinger, die mit ihren Schiffen mehrfach bis nach Paris vordrangen. Auf diesem Hügel spielt auch das dramatische Geschehen des Tveggja elskanda lioð aus den Strengleikar. Da dieses bereits aus dem Kurs bekannt war, haben wir es in mittelalterlicher Tradition mündlich in situ einander erzählt.
▼ Rollo in Rouen
Rouen hat für Reisende mit einem Interesse an mittelalterlichen Ereignissen einiges zu bieten, so ist hier u.a. Jean d’Arc hingerichtet worden. In der Kathedrale von Rouen soll nicht nur der norwegische König St. Óláfr helgi getauft worden sein, sondern hier liegen auch u.a. Rollo und Richard Löwenherz begraben. An Rollo erinnert die Rue Rollon in der Innenstadt, aber auch eine Granitstatue nahe der Kirche St. Ouen. Eine Kopie dieser Statue aus Bronze ist 1911 zum 1000-jährigen Jubiläum der Normandie als Dank nach Ålesund in Norwegen verschenkt worden, eine weitere Kopie steht in Fargo (North Dakota, USA).
Es ist unklar, ob Rollo norwegischer oder dänischer Herkunft ist, je nachdem, welche Textgrundlage befragt wird. Ebenfalls im Jahr 1911 schenkte deshalb der dänische Carlsberg-Fond einen Abguss des großen Runensteins von Jelling an Rouen, der heute direkt neben der erwähnten Rollo-Statue steht und ein wunderbares Beispiel für widersprüchliche mittelalterlicher Textgrundlagen und deren späteren nationalen Inanspruchnahmen darstellt.
▼ Klosterruine Jumièges
Am zweiten Tag besuchten wir die Klosterruine Jumièges und fuhren an der Seine entlang in das pittoreske Honfleur. Direkt an der Seine gelegen ist die Benediktinerabtei, die 841 von Wikingern gebrandschatzt und später im 11.–13. Jahrhundert wiederaufgebaut und restauriert wurde und heute nur noch als Ruine erhalten ist.
▼ Kulturelle Erinnerung und Invasionen in Bayeux
Der folgende Tag sollte für die meisten der eindrücklichste werden. Am Vormittag besuchten wir das Museum des sogenannten Teppichs von Bayeux, der Hauptattraktion für unsere mediävistische Exkursionsgruppe, auf die sich die meisten schon lange vorher gefreut hatten. Dabei handelt es sich um einen fast 70 Meter langen gestickten „Comic-Strip“ aus dem 11. Jahrhundert, der in vielen Szenen die Eroberung Englands durch die Normannen 1066 darstellt. Neben blutigen Schlachtszenen mit Toten und abgetrennten Körperteilen, befinden sich darauf auch Szenen, die die Vorbereitung sowie die Kanalüberquerung mit Schiffen zeigen. Diese Darstellungen haben viele fasziniert und vor allem in der Zusammenschau mit Darstellungen und dem Gedenken an eine weitere Invasion (diesmal nicht jen- sondern diesseits des Ärmelkanals) viele zum Nachdenken angeregt: Wir waren am Tag vor dem 75. Jahrestag des D-Days (6. Juni 1944) in Bayeux, wo die Gedenkfeierlichkeiten bereits voll im Gange waren. Zahlreiche Veteranen waren nach Bayeux gereist, und noch viel mehr Personen waren für ein Re-Enactment in Alliiertenuniformen und –fahrzeugen unterwegs und campierten in der Nähe, das ganze Stadtbild sowie das der nahe gelegenen Landungsstrände war davon maßgeblich geprägt. Am Nachmittag besuchten wir das zweite große Museum in Bayeux, das Musée Mémorial de la Bataille de Normandie und am Abend den Pointe Du Hoc (einen der Orte, an dem die Alliierten als erste mit einer kletternden Spezialeinheit gelandet waren). Der Heroismus der Darstellungen, die Vermarktung („D-Day Kekse“ u.Ä.) und der touristische Umgang („Selfies“ mit den Re-Enactment-Darstellenden) hallten noch lange nach und führte immer wieder zum Nachdenken über diese unterschiedlichen Darstellungen und Gedenken an Invasionen und Krieg.
▼ Mont-Saint-Michel
Am nächsten Tag fuhr schon ein Teil der Gruppe morgens los, um die Abtei Mont-Saint-Michel zu besuchen, die bis heute Ziel von Pilgerreisenden sind. Am Nachmittag, als die Gezeiten es zuließen, begaben wir uns selbst in mittelalterlicher Manier zu Fuß auf eine Pilgerwanderung mit einem Guide zu dieser auf einem Felsen im Wattenmeer gelegenen Anlage. Diese Wanderung war seitens der Natur für alle das intensivste Erlebnis: Der Wind frischte zu einem ausgewachsenen Sturm auf, und ein Wolkenbruch ergoss sich in einer derartigen Heftigkeit über uns, dass wir alle froh waren, in modernen Regenjacken und nicht in der Mode des Mittelalters aufgebrochen zu sein.
▼ Wandern auf Cotentin
Den nächsten Tag verbrachten wir auf der Halbinsel Cotentin, einige spazierten am Strand, und ein anderer Teil der Gruppe wanderte an der Steilküste entlang mit Blick auf die Kanalinseln Jersey, Guernsey und Alderney. Die Etymologie einiger Ortsnamen auf Cotentin zeugt noch heute aufgrund ihres altnordischen Ursprungs von der Geschichte der Normandie. Den Abend verbrachten wir am Strand, u.a. mit einer Kvöldvaka (Lesung), bei der wir den altschwedischen Ritterromans Hertig Fredrik av Normandie (aus Eufemiavisorna) lasen, und erprobten uns im aus dem europäischen Mittelalter überlieferten, aber nur noch auf den Färöern praktizierten Kettentanz in einer der engen Ferienwohnungen; die ausgewählte Ballade Ólafur Riddararós hat vermutlich französische Ursprünge.
▼ Amiens und Küren der Hofskald*innen
Auf der Rückfahrt hielten wir in Amiens, um die Kathedrale Notre Dame zu besuchen, die die Herzen von Mediväist*innen höherschlagen lässt. Es ist eine der hochgotischen Kathedralen Frankreichs ist und ein beeindruckendes Beispiel mittelalterlicher Baukunst des 13. Jahrhunderts, dazu gehört das höchste Mittelschiffgewölbe und die beeindruckende Westfassade. Am letzten Abend der Exkursion war endlich Zeit, die Hofskald*innen zu küren! Die Studierenden hatten während der Autofahrten skaldische Gedichte auf die Exkursion verfasst und trugen diese in einem Wettbewerb vor. Die Gedichte waren so toll, dass alle feierlich den Titel „Hofskald*in“ verliehen bekamen, bevor wir am nächsten Tag über die Autobahn zurück nach Berlin rollten.