Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Exkursion 2022

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Text:
Charlotte Steinert
Fotos: Charlotte Andres, Tim Hager, Malina Hannemann, Ivy Kräuter, Doerte Linke, Tomas Milosch, Anna-Mariya Mushak, Alva Reifenstein, Ralph Tuchtenhagen, Tabea Ylä-Outinen

Samische Identität und Revitalisierung:
Exkursion nach Sápmi 2022

(7.–18. Juni 2022)

Her går sola aldri ned. Aus den Boxen wummert ein Sommerlied, das zwei Mitarbeitende des NRK Sápmi, des samischen Radiosenders Norwegens, produziert haben.

Hier, das ist in Sápmi. Das samische Gebiet erstreckt sich von Norwegen über Schweden und Finnland bis in den Osten Russlands. Am 07. Juni 2022 im norwegischen Tromsø angekommen, wechseln wir zwischen drei Ländern hin und her. Die Erinnerung, dass wir eine Grenze passiert haben, kommt in Form von Straßenschildern oder SMS unserer Mobilfunkprovider. Während nationale Grenzen für uns kaum mehr Bedeutung haben, ist der Einfluss, den sie auf die Sami hatte und haben, umso größer. Sami sind die indigene Bevölkerung Skandinaviens und als solche durch die Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte indigener Völker (ILO 169) anerkannt.

Foto: Sørstraumen⁩, ⁨Troms⁩, ⁨Norwegen
Sørstraumen⁩, ⁨Troms⁩, ⁨Norwegen⁩

Norwegen hat diese Konvention ratifiziert, Finnland und Schweden nicht – wieder einmal zeigt sich, welche Bedeutung nationale Grenzen weiterhin haben, denn die Anerkennung durch die ILO bedeutet unter anderem zusätzliche Rechtssicherheit.

Auf dem Gebiet, in dem wir uns befinden, litten samische Menschen unter einer brutalen Assimilierungspolitik skandinavischer Regierungen. Samische Kinder wurden in Internaten unterrichtet, in denen es ihnen verboten wurde, ihre Muttersprachen zu sprechen und erfuhren Gewalt. Diese strukturelle Diskriminierung, die Sami auf den verschiedenen Staatsgebieten erfahren haben, wird seit einigen Jahren in sogenannten Wahrheitskommissionen aufgearbeitet. Damit einhergehend wandeln sich Bildungseinrichtungen von Orten erzwungener Assimilierung und Gewalterfahrungen zu einem Ausgangspunkt für Revitalisierung: Hier lernen viele Sami die Sprache(n), die ihren Familien genommen wurden. Darüber wollen wir mehr erfahren – und machen uns auf eine zehntägige Reise, die uns von Tromsø über Kautokeino und Karasjok bis nach Alta führt.

Foto: Zentrum für Samische Studien
Zentrum für Samische Studien

Unsere Exkursion beginnt in Tromsø und startet an der Universität: Im Zentrum für Samische Studien erfahren wir mehr über die Geschichte der norwegischen Sami und diskutieren über aktuelle Forschungstraditionen, internationale Zusammenarbeit und aktuelle Gesetzgebung. In der Bibliothek dürfen wir einen Blick in die Sondersammlungen werfen – und erfahren mehr über die Darstellungen von Sápmi und den Bewohner:innen. Außerdem erhalten wir eine Führung einer der größten Sammlungen von nordnorwegischer Kunst.

Diese fristet ein fast verstecktes Dasein in Universitätsgebäuden, wird aber sukzessive digitalisiert, damit sie für mehr Interessierte zugänglich ist.

Foto: Sámi allaskuvla – Guovdageaidnu/Kautokeino
Sámi allaskuvla – Guovdageaidnu/Kautokeino

In Kautokeino ist die Muttersprache der meisten Menschen, die hier leben, Samisch. Dadurch, dass das gesamte Gebiet offiziell bilingual ist, ist samisches Leben sehr präsent. So auch in der 1989 gegründeten Universität. Hier ist Samisch Lehr- und Verwaltungssprache. Gegründet wurde die Hochschule, um dem Mangel an samischsprachigen Lehrer:innen zu begegnen. Mittlerweile gibt es hier viele verschiedene Studiengänge, von Duodji, dem traditionellen samischen Handwerk, bis hin zu Kommunikation und Filmwissenschaften – und der erste Doktorand schreibt aktuell an seiner Dissertation. Selbstverständlich auf Samisch. Dass Sprache mehr ist als nur ein Mittel zur Verständigung, wird hier deutlich. Sprache ist Identität – und gleichzeitig auch nicht.

Denn nicht alle Sami sprechen Samisch: Die Gründe dafür sind höchst unterschiedlich, finden sich aber häufig in Gewalterfahrungen durch staatliche Institutionen. Samischsein an Sprachkenntnissen festzumachen, ist also eine Position, die viele Menschen ausschließt und ihnen einen Teil ihrer Identität abspricht.

Foto: Sameting
Sameting

Deswegen können Abgeordnete des Sameting, dem samischen Parlament, die Sprache, in der sie ihre Wortbeiträge leisten möchten, frei wählen: Alles wird direkt in verschiedene Sprachen (neben samischen Sprachen auch Norwegisch) simultanübersetzt. Mit ihrer Arbeit bringen die Abgeordneten des Sameting samische Perspektiven in einen norwegischen und auch einen globalen Kontext ein. Das Sameting arbeitet eng mit den samischen Parlamenten der anderen skandinavischen Länder zusammen und pflegt auch über den Atlantik hinaus einen regen Austausch mit indigenen Bevölkerungsgruppen. Wir haben die Ehre, die Präsidentin des Sameting, Silje Karine Muotka, zu treffen. Sie berichtet von einem Gesetzesvorhaben, dem handlingsplan mot samehets. Aus einem kurzen Hallo wird eine flammende Rede – denn obwohl Silje und ihre Mitstreiter:innen bereits viel erreicht haben, gibt es noch viel zu tun. Diesen Eindruck bestätigt auch unser Besuch im NIM, dem norwegischen Institut für Menschenrechte. Vieles, mit dem sich die Mitarbeitenden beschäftigen, dreht sich um Landnutzungsrechte von Sami – ein Thema mit großem Konfliktpotenzial.

Foto: Lunsj (FeFo) – laks, elg og rein
Lunsj (FeFo) – laks, elg og rein.

In Lakselv sind wir beim Finnmarkseiendommen (FeFo) eingeladen. Diese Organisation verwaltet das Land und die natürlichen Ressourcen der Region. Dabei richtet sie sich nach dem Finnmark-Gesetz, das in enger Zusammenarbeit mit dem samischen Parlament und dem Rat der Provinz Finnmark ausgearbeitet wurde. Das Finnmark-Gesetz verfolgt das Ziel, den Boden und die natürlichen Ressourcen ausgewogen und ökologisch zu bewirtschaften. Damit sichert die FeFo auch die Grundlage für die samische Kultur, die Rentierzucht, die Nutzung der offenen Landschaft, die Nahrungsmittelproduktion und das soziale Leben.

Nach zehn Tagen sind wir wieder zurück in Tromsø. Voller Eindrücke, vieler Antworten aber auch vieler neuer Fragen. Denn auch wenn die Exkursion vieles von dem, was wir im Seminar mit Marie-Theres und Dörte besprachen, lebendig gemacht hat, ist diese Reise für einige von uns ein Ansporn, sich weiterhin mit Sápmi und samischen Perspektiven auseinanderzusetzen. Auf dem Weg zurück nach Berlin erleben wir das erste Mal seit zehn Tagen wieder einen Sonnenuntergang. In Sápmi? Går sola aldri ned.

Foto: Sommarøy – Hillesøya
Sommarøy – Hillesøya

An dieser Stelle bedanken wir uns noch einmal an alle, die diese Exkursion möglich gemacht haben. Vielen Dank an Dörte Linke, Katarzyna Mandau-Klomfaß und Ralph Tuchtenhagen. Und natürlich auch vielen Dank an Tomas Milosch für die Organisation und an Marie-Theres Federhofer. Nach vier Jahren in Berlin wird sie zurück nach Tromsø gehen – den Eindruck, den wir dort bekommen haben, ist, dass die Uni es dort kaum abwarten kann. Danke, dass wir mit euch allen gemeinsam diese Zeit erleben konnten.

Neben den beschriebenen Stationen wurden wir bei NRK Sápmi, im Polarmuseum, in Juhls Silberschmiede und im Museum von Alta willkommen geheißen. Vielen Dank!