Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Humboldt-Universität zu Berlin | Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät | Nordeuropa-Institut | INSTITUT | Aus der Fachgeschichte | Eine kurze Geschichte der Skandinavistik an der Berliner Universität Unter den Linden von Hans-Jürgen Hube

Eine kurze Geschichte der Skandinavistik an der Berliner Universität Unter den Linden von Hans-Jürgen Hube

In der Geschichte der nordischen Studien in Deutschland spielte Berlin1 neben Kiel2 und Greifswald3 keine unwesentliche Rolle. Schon im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Berliner Universität beschäftigten sich mehrere Gelehrte mit dem Norden. So betrieb der aus Schmiedeberg in der Uckermark stammende Friedrich Heinrich von der Hagen (1780-1856), seit 1810 Professor in Berlin, Edda-Studien. 1812 ließ er in Berlin Lieder der älteren Edda erscheinen und behandelte in seinem Jahrbuch für deutsche Altertumskunde auch nordische Themen.

Intensiver waren die nordischen Studien des Historikers Friedrich Rühs (1781-1820), der 1810 Professor in Berlin wurde. Rühs studierte bei August Ludwig von Schlözer in Göttingen und wurde 1802 Privatdozent in Greifswald, wo er als schwedischer Untertan von Gustav IV. Adolf eine delikate Aufgabe erhielt: 1802 war in London von dem Italiener Joseph Acerbi eine Schwedenreise veröffentlicht worden, in der der Schwedenkönig als engstirnig beschrieben und beschuldigt wurde, das geistige Leben seines Landes durch Zensur niederzuhalten. In Schweden sann man über Mittel nach, wie man die Wirkung dieser Reisebeschreibung in Europa neutralisieren könnte, zumal eine deutsche Übersetzung vorbereitet wurde. Rühs war der »Berater« der Berliner Ausgabe, die 1803 in der Voßschen Buchhandlung erschien. Er tilgte alle Angriffe gegen Schweden, blieb zwar ungenannt, ist aber der »sachkundige Gelehrte«, den das Titelblatt erwähnt. Rühs übersetzte auch eine Gegenschrift zu Acerbis Schwedenreise, Carl Gustaf af Leopolds Briefe über Schweden und Schwedens neueste Verhältnisse. Veranlaßt durch Acerbis Reisen (1804). Außerdem legte er die Werke Gustavs III. (»Verdeutscht von F. Rühs«) in drei Bänden vor; sie erschienen in Berlin 1805-08. Wie fleißig er war, geht auch daraus hervor, daß er Leopolds Vermischte prosaische Schriften (Rostock, Leipzig 1805) übersetzte.

Nach seiner Berufung nach Berlin intensivierte Rühs seine skandinavischen Forschungen. Schon in Göttingen hatte er eine Skandinavien-Schrift verfaßt, an der Friedrich David Gräter4 aber ein Zuviel an Deklamation und ein Zuwenig an Untersuchung kritisierte. Später verfaßte er eine Schwedische Geschichte, die 1823 ins Schwedische übersetzt und von dem Historiker Erik Gustaf Geijer gerühmt wurde. 1812 gab Rühs in Berlins Realschulbuchhandlung, noch vor den Gebrüdern Grimm, die Edda, nebst einer Einleitung über die nordische Poesie und Mythologie [...] heraus, woraus sich der bekannte Edda-Streit5 entwickelte. Noch fehlte es ihm offenbar an genügend Kenntnissen des Altnordischen, für das allerdings erst ein Jahr zuvor der Däne Rasmus Rask mit seiner Anleitung ein wirksames Hilfsmittel geschaffen hatte. Rühs Gewährsmann war der dänische Edda-Forscher Rasmus Nyerup, den er 1810 in Stockholm besucht hatte und dessen dänischen Text er in seiner Prosa-Edda benutzte. In Berlin zählte Rühs zum Kreis der Patrioten um Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher. Er war auch mit Karl Asmund Adolphi (1771-1832) gut bekannt, dem Sohn eines Konrektors der Stockholmer Deutschen Schule. Adolphi wurde wie Rühs 1810 Professor in Berlin. Im Kreis des aus Greifswald stammenden Verlegers Georg Andreas Reimer (1776-1842) fand Rühs das Vertrauen des Historikers und Politikers Barthold Georg Niebuhrs, der ihn zur Mitarbeit am Preußischen Correspondenten bewegte; 1817 wurde Rühs sogar Historiograph des Preußenstaates6. Nach dem Übergang Greifswalds an Preußen (1815) schrieb er in einem fingierten Brief sehr kritisch über die »Schwedenzeit«. Rühs starb 1820 auf einer Reise in Florenz, gepflegt von seinem Neffen, dem Wolgaster Karl Gustav Homeyer (1795-1874), der in Greifswald und Berlin in Rühs Haus gelebt hatte. 1815 übersetzte Homeyer Kolderup-Rosenvinges Dänische Rechtsgeschichte und betonte in der Vorrede, ganz im Sinne von Rühs, wie notwendig nordische Studien an der Universität in Berlin seien7.

Das Interesse am germanisch-nordischen Altertum wurde nicht zuletzt durch Jacob und Wilhelm Grimm (1785-1863 bzw. 1786-1859) geweckt, die nach ihrer fristlosen Entlassung in Göttingen und anschließender Landesverweisung (»Göttinger Sieben«) seit 1841 Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften waren mit der Erlaubnis, an der Berliner Universität Vorlesungen zu halten.8 Mit dem germanisch-nordischen Altertum beschäftigte sich auch Hans Ferdinand Maßmann (1797-1874), Professor in Berlin seit 1846, der sich im Zusammenhang mit seinen ausgedehnten gotischen Studien auch mit nordischen Themen auseinandersetzte. Wie damals üblich, bezog auch der Altphilologe Karl Lachmann (1793-1851) das nordische Altertum in seine Vorlesungen ein. Dasselbe gilt für Moriz Haupt (1805-1874), der 1853 Lachmanns Lehrstuhl übernahm. Seit 1859 verzichtete er jedoch weitgehend darauf, Altnordisches zu behandeln, denn 1858 war Karl Müllenhoff (1818-1884), der in Kiel, Leipzig und Berlin studiert hatte, als ordentlicher Professor nach Berlin berufen worden. Unter seinen zahlreichen Publikationen findet man Arbeiten Zur Runenlehre (1862), die Festgabe für G. Homeyer (1871), Germania antiqua (1883). Seine Heldensagen (1866-1870, 5 Bde) bezogen auch Nordeuropa ein.

Wilhelm Scherer (1841-1886) setzte in seinen Arbeiten am Rande auch die nordische Forschungsausrichtung fort, aber die Skandinavistik löste sich damals noch nicht von der Germanistik. Doch noch vor der Gründung des Germanischen Seminars (1887) in Berlin sollte die Skandinavistik ihren ersten Hauptvertreter, der sich ausschließlich mit nordischen Themen befaßte, in Gestalt des aus Dänemark stammenden Julius Hoffory (1855-1897) erhalten. Hoffory kam im Wintersemester 1883; seit 1887 gehörte er neben Erich Schmidt, Edward Schröder und Max Roediger zu den ersten Lehrern des neuen Instituts. Hoffory hielt seine Übungen in dem »mäßig großen« Zimmer in der Dorotheenstr. 5-6 ab, wo als Grundstock Müllenhoffs Bibliothek stand9. Der Bestand an nordischen Werken war nach Andreas Heuslers Auskunft, der 1886-1887 zu Hofforys Studenten zählte, dürftig. Die Isländer-Sagas waren nur unvollständig vorhanden, auch von den nordischen Rechtsbüchern fehlte manches. Schüler Hofforys waren neben Heusler auch Max Hirschfeld, Bernhard Kahle und Wilhelm Ranisch.

Aus Aarhus stammend, hatte Hoffory 1873-1878 in Kopenhagen bei dem Skalden-Kenner Konrad Gíslason und Karl Verner studiert. 1879 ging er nach Straßburg, wo Scherer 1872 das Germanische Seminar gegründet hatte. Offenbar durch dessen Vermittlung gelangte er nach Berlin. In der Allgemeinen Deutschen Biographie ist zu lesen, daß Hoffory in der Edda-Forschung eher Anregendes als Abschließendes vorlegte. Er gab Edda-Studien (1889) und Die Lieder der alten Edda. Deutsch durch die Brüder Grimm (1885) heraus und erwarb sich Verdienste um die Pflege skandinavischer Literatur. 1888 publizierte er Werke Ludvig Holbergs in deutscher Übersetzung, versehen mit einem kenntnisreichen Kommentar10. Er übersetzte Henrik Ibsens Frau vom Meere und Edward Brandes' Besuch, gründete die »Nordische Bibliothek« und regte Berliner Verlage und Bühnen zur Beschäftigung mit skandinavischer Literatur an. 1892 mußte er, unheilbar krank, eine Anstalt aufsuchen, wo er 1897 - dreiundvierzigjährig - starb.

Nordische Lehraufgaben übernahm auch Karl Weinhold (1823-1901), der - schon im Pensionsalter - seit Ostern 1889 für Müllenhoff Ordinarius geworden war. Zu Weinholds Arbeiten zählen Altnordisches Leben (1856), Die Sagen von Loki (1848) und Über den Mythos vom Wanenkrieg (1890). Weinhold stand in Berlin der »älteren Abteilung« vor, verlangte selten Schriftliches und hatte eine Vorliebe, so Robert Petsch, für Edda-Studien. Er stand ganz in der Lachmann-Grimm-Tradition. Auch im Proseminar las man bei Weinhold isländische Texte. Gustav Roethe (1869-1926) setzte diese altnordischen Übungen zwar zeitweise fort, überließ aber vieles den eigentlichen »Nordisten«. Für Niedners Bellman-Ausgabe (1909) schrieb er ein deutschnationales Vorwort.

Andreas Heusler (1865-1940) prägte fast ein Vierteljahrhundert die Berliner Skandinavistik. Geboren in Arlesheim bei Basel, war er seit 1890 Privatdozent in Berlin, wurde 1894 außerordentlicher Professor und 1913 ordentlicher Professor und Direktor des Germanischen Seminars. Er behandelte die Edda, hielt nordische Sprachübungen ab und gab unter anderem heraus: Isländergeschichten (1897, 1913), Codex Regius (1902), Eddica Minora (1903), Heldensagen (1904), Lied und Epos im germanischen Sagengedicht (1905), Altisländisches Elementarbuch (1913), dazu sein Standardwerk Die altgermanische Dichtung. Als Direktor beantragte er seit 1913 beträchtliche Summen zur Anschaffung nordischer Buchbestände.

Als man 1916 in die »geräumigen Säle« des Ostflügels der Universität zog, konnte die »Nordische Abteilung« bereits eine Wand »für sich« füllen, und zwar in einem der »hohen Bücherräume mit ihren Galerien«11. Im November 1918, als das Heer zurückströmte, mußte Heusler erleben, wie das Seminar in ein »Soldatenquartier« umgewandelt wurde und man sich im ungeheizten, verwüsteten Hörsaal 300 bei Roethe versammelte. 1919 ging Heusler - vierundfünfzigjährig - nach Basel.

In der Universitätspraxis wurde, wie betont, vornehmlich das Altnordische gepflegt, während die Kenntnis moderner nordischer Sprachen weniger vermittelt wurde. Sprachlektoren konnten jedoch auch nach Gutdünken Lehrveranstaltungen zur modernen Literatur veranstalten. In diesen Jahren wurde spezifisch Nordisches nur an vier Universitäten gelehrt: in Kiel (seit 1864), in Berlin (seit 1883), in Leipzig (seit 1889) und in Heidelberg (Privatdozentur 1892, Lehrauftrag 1901). Andernorts ging das Nordische, oft auch mit jahrelangen Abständen, nur selten über zweistündige Übungen hinaus.12 An neuerer Literatur wurden nur Ibsen, Holberg und Esaias Tegnérs Fritjofsaga gelegentlich behandelt. Zwischen 1900 und 1910 gab es zwar zwölf »nordische« Dissertationen, davon sieben allein in Leipzig, aber keine einzige »neuskandinavische« Dissertation. Aus der zitierten Übersicht geht außerdem hervor, daß es nur wenige neuskandinavische Lektorate gab: Schwedisch sehr früh in Kiel, Berlin (1907, für mehrere Sprachen), Jena (1913), Rostock (1918), Hamburg (1919)13.

Berlins Skandinavistik ist nach dem Weggang Heuslers zunächst durch Gustav Neckel (1878-1940) geprägt worden. In Wismar geboren, war er zunächst Privatdozent in Breslau (1908), ging 1911 als außerordentlicher Professor nach Heidelberg und erhielt 1920 den nordistischen Lehrstuhl in Berlin. Mit einem Lehrstil, der als konservativ beschrieben worden ist, gab er Einführungen in die altnordische Sprache und Literatur. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war die Edda-Forschung. Aber bereits 1921 legte er Studien über Ibsen und Bjørnstjerne Bjørnson, 1923 über altnordische Literatur und 1925 über altgermanische Kultur vor. Seine Edda-Ausgaben (1914, 1926, 1927) wiesen ihn als Fachmann aus.

1927 kam es zur Dreiteilung des Germanischen Seminars in die Neuere Sprachwissenschaftliche, die Altgermanisch-nordische und die Literaturwissenschaftliche Abteilung. Neckel übernahm als Leiter die »Altgermanisch-nordische Abteilung«, baute sein Betätigungsfeld aus und hielt Lehrveranstaltungen ab u.a. zum Västgötalag, aber auch zu Georg Stiernhielm und zu Knut Hamsun. Eine seiner Vorlesungen vor 1933 hieß "Recht und Sittlichkeit der Germanen" (1931/32), und die Richtung seiner Lehrveranstaltungen machte seinen geistigen Standort deutlich: manche warfen ihm großdeutsches Denken vor. Neckels Mitarbeiter war Hans-Friedrich Rosenfeld, 1926 Oberassistent, 1928 Privatdozent, 1931 außerordentlicher Professor. Bis zu seinem Weggang nach Turku (1932) hielt auch er altnordische Übungen ab.

Seit Beginn der zwanziger Jahre wirkte in Berlin auch ein Schwede, Carl David Marcus (1879-1940), als Sprachlehrer und Dozent für neuere nordische Literatur. Noch in Schweden hatte er Arbeiten über Goethe (1907), Erik Gustaf Geijer (1911) und Tegnér (1914) vorgelegt, selbst Dramen verfaßt und sich mit Strindbergs Dramatik beschäftigt. Als jüdischen Germanisten in Berlin 1933 die Entlassung drohte, kam er dieser im August durch eine Kündigung zuvor und verließ Berlin. 1934 wurde er Gymnasiallehrer in Östersund.

Nach 1933 hatte Neckel weitere Assistenten, so unter anderen Annie Heiermeier, Hans Midderhoff und Gerhard Schwarzenberger. 1935 verließ Neckel Berlin und ging nach Göttingen, worauf Julius Petersen kommissarisch die Berliner Skandinavistik leitete. Seit 1936 übernahm Hans Kuhn (1899-1988) in Berlin Neckels Lehrveranstaltungen. Kuhn war in Marburg (1931) und Köln (1933) gewesen und hoffte in Berlin auf eine ordentliche Professur. Als aber Neckel am 1. November 1937 auf seinen Platz in Berlin zurückkehrte, ging Kuhn für drei Jahre als außerordentlicher Professor nach Leipzig. Am Germanischen Seminar verstärkte sich in diesen Jahren die nationalsozialistische Ausrichtung von Forschung und Lehre, und die zu Beginn der dreißiger Jahre noch recht häufigen Gastvorträge skandinavischer Gelehrter hörten fast auf.

Als Neckel 1940 mit zweiundsechzig Jahren starb, war für Kuhn der Weg frei. 1941 wurde er ordentlicher Professor in Berlin. Am 21. Januar 1942 schrieb er an die Verwaltung, bei der Übernahme seines Lehrstuhls für Nord- und Altgermanische Philologie habe er festgestellt, daß die nordischen Buchbestände sehr lückenhaft seien. Seit 15 Jahren habe man keine nordische Zeitschrift mehr bezogen. Seine beantragten 3000 RM wurden ihm sofort bewilligt. Kuhn wurde am 3. November 1942 geschäftsführender Direktor des Germanischen Seminars. Er setzte seine Lehrveranstaltungen bis 1945 fort, wenn auch unter sehr erschwerten Bedingungen. Brandbomben hatten den Ostflügel der Universität zerstört, glücklicherweise waren die Buchbestände vorher ausgelagert worden; man zog in den Marstall um. Am 24. März 1945 richtete Kuhn laut Verwaltungsakte ein Schreiben an die Universität: »Durch die Luftangriffe der letzten Zeit sind die Räume des Seminars für Dt. Volkskunde, in denen sich auch das Germ. Seminar befindet, beschädigt worden [...]. Ich bitte darum, wenn möglich, Kräfte zur Beseitigung der Schäden zur Verf. zu stellen«. Darauf antwortete noch im April 1945 (!) der Verwaltungsdirektor: »Zum Schreiben vom 24.3., eingegangen am 3.4.: Kräfte zur Beseitigung von Fensterschäden stehen mir leider nicht zur Verfügung«14. So endete dieses Kapitel der Geschichte der Berliner Skandinavistik.

Als 1946 die Berliner Universität wiedereröffnet wurde, war unter den Germanisten in der Dorotheenstraße 85 (später Clara-Zetkin-Straße 1), wohin man umgezogen war, kein Skandinavist mehr im eigentlichen Sinne. Kuhn erhielt 1946 eine Professur in Kiel; Assistenten oder Sprachlektoren waren nicht mehr vorhanden. Nordische Themen wurden in diesen frühen Jahren nur gelegentlich von Gelehrten wie Wilhelm Wißmann und Werner Simon behandelt. Zu den wenigen alten Lehrern, die Kenntnisse des Nordischen besaßen, gehörte Erich Schönebeck, der vorwiegend Seminare zur deutschen Sprachgeschichte abhielt, aber auch eine Arbeit über Strindberg vorgelegt hat. Anfangs waren von der sowjetischen Militäradministration weder Schwedisch noch andere skandinavische Sprachen als Lehrfächer zugelassen. Nachdem jedoch am 2. Dezember 1947 eine Schwedisch-Lehrerlaubnis für Greifswald erteilt worden war, konnte auch in Berlin Sprachunterricht in Schwedisch stattfinden, zunächst von Mitarbeitern wie August Oberreuter, der auch bekannte skandinavische Autoren herausgab. Den Skandinavistik-Lehrstuhl in Berlin übernahm dann 1950 Leopold Magon (1887-1968), der zuvor viele Jahre in Greifswald als Professor für neuere Skandinavistik tätig gewesen war. Zu den Arbeiten dieses kenntnisreichen Literaturwissenschaftlers, der 1917 als Privatdozent in Münster begonnen hatte und seit 1928 Professor in Greifswald war, gehören Schriften über die deutsch-skandinavischen Kulturbeziehungen 1750-1850, unter anderem sein vielgerühmtes Buch über die Klopstockzeit in Dänemark. In Greifswald gab Magon die Nordischen Studien (1928-1945) und die Nordische Bibliothek (1928-1933) heraus. Für zahlreiche übersetzte Werke der skandinavischen Literatur zeichnete er als Herausgeber, so versah er Bände wie Skandinavische Erzähler von Andersen bis Strindberg (1961) oder Strindberg (1963) mit ausführlichen Nachworten und Kommentaren und bemühte sich darüber hinaus um deutsche Ausgaben von Alexander Kielland, Jonas Lie und anderen skandinavischen Autoren.

cz1
Foto:
Das Gebäude Clara-Zetkin-Str. 1
heute: Dorotheenstr. 1

Um Magon sammelte sich in Berlin bis zu seiner Emeritierung 1955/1956 ein Kreis von 15-20 Studenten. Magon war jedoch nicht nur Skandinavist; er hielt auch solide und vielbeachtete Vorlesungen zur deutschen Klassik. In den Jahren 1951-1962 war er Abteilungsleiter an der Berliner Akademie. Magon setzte sich für die Berufung Sveinn Bergsveinssons ein, der 1907 in Aratunga (Island) geboren wurde und 1988 in Berlin starb. Nach einer Tätigkeit am Spracharchiv Braunschweig (1940-1944) und als Lektor auf Island (1947-1948) kam Bergsveinsson 1953 als Gastprofessor an die Humboldt-Universität, wurde hier 1963 Professor mit Lehrauftrag und 1972 Professor für ältere Skandinavistik. Mit ihm entwickelte sich auch der isländische und dänische Sprachunterricht in Berlin. 1941 hatte Bergsveinsson mit seinem Buch Grundfragen der isländischen Satzphonetik Anerkennung gefunden 15 .

Seit 1956 verlagerte sich das Zentrum der DDR-Skandinavistik allmählich nach Greifswald. Hatte es zuvor noch skandinavische Abteilungen bzw. Unterricht in nordischen Sprachen in Leipzig, Halle, Jena, Rostock und Berlin gegeben, so kam es nunmehr zu Umstrukturierungen. Nordistik-Studenten im Hauptfach wurden in den Folgejahren nur noch in Greifswald ausgebildet; die Skandinavistik-Nebenfachausbildung blieb jedoch in Berlin die gesamte Zeit weiter bestehen.

Die Periode 1956-1974 der Humboldt-Skandinavistik wurde durch Gerhard Scholz (geb. 1903, em. 1968) und den bereits genannten Bergsveinsson geprägt. Am 1. Dezember 1960 wurde Scholz als Leiter der nordischen und niederländischen Abteilung im Rahmen der Germanistik berufen; er übernahm zugleich den Lehrstuhl für Neuere Skandinavistik. Er hatte in Tübingen, Heidelberg und Breslau studiert, wurde 1933 als Antifaschist verhaftet und emigrierte über Prag 1938 nach Schweden, wo er publizistisch arbeitete, Bekanntschaft mit Brecht knüpfte und unter anderem als Dozent am Sozialwissenschaftlichem Institut Stockholm arbeitete.

Nach dem Krieg kehrte Scholz nach Deutschland zurück und wirkte zunächst als Professor und Direktor der klassischen Stätten in Weimar (1949-1953), lehrte danach in Leipzig und kam dann nach Berlin. Er hatte Kontakt zu zahlreichen Gelehrten in Skandinavien und betätigte sich an führender Stelle in der damaligen »Deutsch-Nordischen Gesellschaft«. Seine Publikationen betrafen Fragen der Sprachsoziologie, Strindberg, Lagerlöf u. a., später auch Goethes Faust. 1965 initiierte er an der Universität »Tage der schwedischen Literatur« und wirkte als Vizepräsident der »Deutsch-schwedischen Gesellschaft«. Gut in Erinnerung blieben seine Friedensvorlesungen, in denen er u. a. am Beispiel von Strindbergs berühmter Friedensnovelle pazifistische Fragen in der Zeit des Kalten Krieges behandelte.

In den sechziger und siebziger Jahren wurde der nordische Sprachunterricht an der Humboldt-Universität kontinuierlich fortgeführt. 1967 erschien Bergsveinssons Isländisch-deutsches Wörterbuch, das dazu beitrug, daß sich die isländischen Studien in Berlin bis zu Bergsveinssons Emeritierung 1974 fortsetzten. Aber auch danach hielt er noch für einige Jahre Lehrveranstaltungen zum Isländischen und Dänischen ab. Der Schwedisch-Unterrricht hingegen wurde vor allem durch Klaus Möllmann (geb. 1926) gegeben. Er hatte 1946-1951 in Greifswald Nordistik studiert; später arbeitete er als Sprachlehrer und literarischer Übersetzer in Berlin, zunächst mit Lehrauftrag, seit 1972/1973 in fester Anstellung. Zahlreich sind seine Editionen skandinavischer Literatur, seine Kommentare und Nachworte zu skandinavischen Autoren und seine Übersetzungen, wobei seine Strindberg- und Martinson-Übersetzungen besonders hervorzuheben sind. In einer Reihe von Anthologien vermittelte er den ostdeutschen Lesern die klassische und moderne Literatur Skandinaviens.

Die damalige Ausbildung konzentrierte sich vor allem auf Schwedisch und skandinavische Landeskunde; Kurse in Dänisch und Isländisch wurden jedoch auch abgehalten. Jährlich nahmen 20-40 Studenten daran teil, betrachteten viele Germanistik-Studenten diese »Nebenfachausbildung« doch als Ergänzung ihres sprachwissenschaftlichen Studiums.

Die Gründung der »Sektion Germanistik« zu Anfang der siebziger Jahre brachte auch eine organisatorische Neuformierung der Skandinavistik in Berlin. Nachdem die dritte Hochschulreform (1968/1969) zunächst das Skandinavische an weiteren DDR-Universitäten (außer Greifswald) fast nivelliert hatte, wurden etwa seit 1974 auch in Berlin trotz Schwierigkeiten wieder verstärkt skandinavische Studien betrieben. Dadurch war es auch für den Verfasser dieses Artikels (geb. 1933), der selber an der Humboldt-Universität Germanistik, Altphilologie und Nordistik studiert hatte, möglich, in Berlin zu arbeiten (seit 1. September 1974). Er hatte zuvor als Lehrer, literarischer Übersetzer und wissenschaftlicher Oberassistent in Greifswald (1968-1974) gewirkt. Zu seinen Arbeiten zählen Übersichten zur Sprachsituation und den Nationalsprachen in Skandinavien und zur finnlandschwedischen Literatur, außerdem gab er ein Schwedisch-deutsches Wörterbuch (zusammen mit Rosemarie Kamrath) heraus wie auch Werke zahlreicher skandinavischer Autoren, die er zum Teil selbst übersetzte und kommentierte.

Im Rahmen der Germanistik wurden seit 1974 jährlich sogenannte »Diplom-Studenten« in kleineren Sprachgruppen in einer Art Schwedisch-Nebenfachausbildung betreut. Seit 1975 wurden für einen kleinen Interessentenkreis Vorlesungen zur skandinavischen Literatur und Landeskunde gehalten. In größeren Abständen sind auch Lehrveranstaltungen zur nordischen Sprachgeschichte und zum Altnordischen abgehalten worden. Zeitweilig wurde der Schwedisch-Unterricht von dem muttersprachlichen Lektor Jan Olsson erteilt.

Zu Beginn der achtziger Jahre wurde in Berlin die Skandinavistik zusammen mit der Niederlandistik und Indogermanistik in einem gesonderten Bereich innerhalb der Germanistik neu formiert. Neben den üblichen Sprachkundigenprüfungen, wie die DDR-Regelungen sie vorsahen, konnten auch Prüfungen in anderen Teilbereichen des Faches abgelegt und Diplomarbeiten in Skandinavistik geschrieben werden. Davon machten unter anderem russische, polnische und ungarische Germanistikstudenten Gebrauch. Verstärkung erhielt der Lehrkörper 1983 durch Tomas Milosch, der in Berlin und Greifswald seine Nordistik-Ausbildung absolviert hatte und in Berlin als wissenschaftlicher Assistent für Sprachwissenschaft arbeitete; zeitweilig arbeitete auch Kathrin Herrmann in der Schwedisch-Ausbildung. Unmittelbar nach der Wende wurde von den Skandinavisten an der Humboldt-Universität und an der Freien Universität ein gemeinsames Papier entworfen, das die Fusion der beiden Fächer an der Humboldt-Universität und die Gründung eines Nordeuropa-Institutes vorschlug, das nunmehr seit 1994 besteht.

 

Eine kurze Geschichte der Humboldt-Universität



Anmerkungen

  1. Aus Jahresbericht des Nordeuropa-Institutes 1993. Gekürzte und aktualisierte Fassung eines früheren Aufsatzes: Hube, H.-J.: Die Nordistik und das Berliner Germanische Seminar. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe, 36. Jg, Heft 9, 1987. - S. 794-800.
  2. Klose, O.: Die nordische Professur in Kiel. In: De libris. Bibliofile breve til Ejnar Munkgsgaard. Kopenhagen, 1940. - S. 56 ff.; Vogt. N. H: Die Gründung der Germanistik, der Deutschen und Nordischen Philologie an der Universität Kiel. In: Festschrift zum 275jährigen Bestehen der Christian- Albrechts-Universität Kiel. Leipzig, 1940. - S. 295 ff.
  3. Ausführlicher Magon, L.: Die Geschichte der nordischen Studien und die Begründung des Nordischen Instituts. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-nordischen kulturellen Verbindungen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Festschrift 11, 1956. - S. 237-272; Comolle, H., Menger, K. und H. Mittelstädt: Zu Geschichte und Perspektiven der sprachwissenschaftlichen Nordistik und Fennistik in Greifswald. In: Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte, 187: Berlin, 1988. - S. 142-154.
  4. Schwarz, I. und F. D. Gräter: Ein Beitrag zur Geschichte der germanischen Philologie und zur Geschichte der deutsch-nordischen Beziehungen. Greifswald, 1937. - S. 111.
  5. Hube, H.: Edda-Übersetzungen. Der Grimmsche Eddastreit mit Friedrich Rühs und die Anfänge der Berliner Nordistik. In: Sprache, Mensch und Gesellschaft: Werk und Wirkungen von Wilhelm von Humboldt und Jacob und Wilhelm Grimm in Vergangenheit und Gegenwart. Protokollband III zur Internationalen Humboldt-Grimm-Konferenz Berlin, 22.-25. Oktober 1985 (= Berichte der Humboldt-Universität, 7. Jg., 1/1987). Berlin, 1986. - S. 64-70.
    Vgl. Lenz, M.: Die Geschichte der Universität Berlin. Bd. 1, Halle, 1910. - S. 497, 503, 515.
  6. Zu Rühs in Berlin vgl. Bahner, W. und W. Neumann: Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung. Berlin, 1985. - S. 219, 222 u. 227.
  7. Ausführlicher bei Seitz, G.: Die Brüder Grimm - Leben und Werk. München, 1984; von Bedeutung auch: Briefwechsel der Gebrüder Grimm mit nordischen Gelehrten. Berlin, 1885.
  8. Das Germanische Seminar der Universität Berlin. Festschrift zu seinem 50jährigen Bestehen. Berlin; Leipzig, 1937. - S. 8f.
  9. Holberg L.: Ausgewählte Komödien. Hrsg., kommentiert u. aus dem Dän. übertragen von H.-J. Hube, Rostock, 1986. - S. 364ff.
  10. Das Germanische Seminar der Universität Berlin: a.a.O. - S. 9.
  11. Magon, L.: a.a.O. - S. 262.
  12. Schwedentum an deutschen Universitäten. Gedenkschrift für Dr. Wolrad Eigenbrodt. Jena, 1922.
  13. Verwaltungsakte »Germanisches Seminar« 1945. Universitätsarchiv Humboldt-Universität zu Berlin.
  14. Beiträge zur nordischen Philologie. Sammelpublikation in honorem Sveinn Bergsveinsson (23.10.1907 - 17.10.1988) Hrsg. v. Milosch, T. u. H. Mittelstädt. In: Linguistische Studien, a.a.O. - S. 2-7.