Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Antje Wischmann
Verdichtete Stadtwahrnehmung. Untersuchungen zum literarischen und urbanistischen Diskurs in Skandinavien 1955-1995, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2003, 489 S., ISBN 3-8305-0361-X

In dieser Arbeit wird untersucht, ob die Stadtthematik in der skandinavischen Literatur des Zeitraums 1955-95 eine Erneuerung der Schreibweisen hervorgerufen hat. Ein veränderlicher Darstellungsgegenstand erfordert ständig neue Formen der Bearbeitung - so die grundlegende These, die sich für die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 und des Modernismus in besonders plastischer Weise nachvollziehen läßt: Großstadt wirkt innovierend und 'bricht' den Realismus des 19. Jahrhunderts auf. Um dem komplexen Darstellungsgegenstand Stadt gerecht werden zu können, sind nicht nur formalästhetische Innovationen gefragt, sondern auch thematische Kompetenzerweiterungen.

Aber läßt sich ein solches Fortschrittsdenken auf die Stadtliteratur übertragen, nachdem die Urbanisierung in der postindustriellen Ära ihren Charakter verändert hat und die Paradoxe innerhalb der Modernisierungsprozesse immer deutlicher hervortreten? Sind nicht zudem die Bilder, Texte und Medien der Stadt noch größeren Veränderungen unterworfen als die städtische Erfahrungswelt selbst? Um das Erneuerungspotential der Stadtliteratur vom Beginn des Prosa-Modernismus bis in den Postmodernismus auszuloten, widmet sich diese Untersuchung Texten, die sich in der Zeit von 1955 bis 1995 mit Stockholm, Kopenhagen, Oslo und Helsinki auseinandergesetzt haben. Auf dem Wege des Textvergleichs kann gezeigt werden, daß diese vier Hauptstädte nicht nur 'Orte des Fortschritts' oder 'innovative Milieus' sind, sondern auch in exemplarischer Weise Schauplatz von u. a. gesellschaftlichen, ökonomischen oder städtebaulichen Krisen und Konflikten. Neben ästhetischen Erneuerungen in der skandinavischen Stadtliteratur lassen sich neue thematische Schwerpunkte und ideologische Tendenzen beobachten, die sich in Reaktion auf die sozialen und politischen Herausforderungen des städtischen Lebens herausgebildet haben. Die Vielfalt koexistierender Darstellungsformen, die sich nicht notwendig zu überbieten suchen, macht dabei deutlich, daß ein Innovationsgebot nicht zwingend ist und daß es keine Anhaltspunkte für eine fortwährende 'Optimierung der Stadtliteratur' gibt.

Daß es in der zeitgenössischen Literatur überhaupt noch eine Stadterzählung als eigenes Erzählmuster geben kann, wurde von Klaus Scherpe angezweifelt, wenn auch nicht ausgeschlossen: "Die noch mögliche Stadterzählung ist Forschungsarbeit im Sinne der Strukturierung der urbanen Komplexität. Der literarische Großstadterzähler wird zum Urbanisten." (Scherpe: "Nonstop nach Nowhere City?", 1998, S. 14). Die Autoren und Autorinnen sind inzwischen nicht nur mit dem vorausgehenden stadtliterarischen Kanon, sondern auch mit dem jeweils aktuellen Stand der Debatte über Urbanität und städtischen Wandel vertraut. Im Gegenzug haben sich die Urbanisten die Ausdeutung der Stadt als textanaloges Produkt zu eigen gemacht. Doch sollte man es nicht bei der Feststellung bewenden lassen, daß sich beide Diskurse immer mehr angleichen und daß eine Hybridisierung sämtlicher Genres stattfindet. Es gilt auch, die narrativen Konsequenzen der Überschreitung zu untersuchen und den literarischen als einen seine Tradition reflektierenden Diskurs und als einen Metadiskurs isoliert zu betrachten.

Vieles deutet in der Tat darauf hin, daß gerade der interdiskursive Austausch mit verschiedenen urbanistischen Spezialdiskursen eine eigene Stadterzählung herauszubilden vermag, die sich von anderen thematisch definierten Erzählungen maßgeblich unterscheidet. Demnach ist zu überprüfen, ob Erneuerungen vorzugsweise durch Austauschbeziehungen mit urbanistischen Texten ermöglicht werden und ob weitere erneuerte Verfahren nachweisbar sind. Die aus Diskursüberschreitungen und Text-Text-Relationen hervorgegangenen Impulse sind seit etwa Mitte der 1980er Jahre ebenso bedeutsam wie die Ansprüche der sich fortlaufend verändernden und medial angereicherten städtischen Erfahrungswelt. Aus dem intensiven grenzüberschreitenden Austausch leitet sich das spezifische Merkmal der 'Pluridiskursivität' ab, welche allerdings - Döblins Berlin Alexanderplatz beweist es - ihre Ursprünge bereits im klassischen Modernismus hat.

Um diese Fragestellung zu bearbeiten, wurden neun skandinavische Kulturzeitschriften ausgewertet und ein umfassendes literarisches und urbanistisches Textkorpus untersucht. Aus den Zeitschriften wurden sämtliche Hinweise auf die Primärtexte gewonnen, die in den Intensivanalysen erörtert werden: Es sind Texte der schwedischen Autoren Per Anders Fogelström (1917-1998) und Ulf Eriksson (*1958), der dänischen Autoren Steen Eiler Rasmussen (1898-1990), Sven Holm (*1940) und Kirsten Thorup (*1942) sowie des norwegischen Autors Jan Kjærstad (*1953). Die ausgewählten Autoren vertreten die sich aus der Zusammenschau entwickelnden Fragestellungen in sowohl individueller als auch paradigmatischer Weise. Es werden nationalliterarisch bekannte Autoren (z. B. Fogelström, Thorup, Kjærstad) berücksichtigt, aber auch in Vergessenheit geratene oder marginalisierte Verfasser.

 

[Habilitationen am Nordeuropa-Institut]