Mehr Spaß mit Schwedinnen?
Funktionen eines deutschen Heterostereotyps
Arbeitspapiere "Gemeinschaften"
Gedruckt mit Unterstützung des
Jubiläumsfonds der Schwedischen Reichsbank
Band 3
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© 1996 Stephan Michael Schröder
Layout und Satz: Stephan Michael Schröder
Einbandgestaltung: Silke Schröder, Ulm
Humboldt-Universität zu Berlin
Berlin 1996
ISBN: 3-932406-04-4
Mehr Spaß mit Schwedinnen?
Funktionen eines deutschen Heterostereotyps
1
Schwed(inn)en sind promiskuitiv - so das stereotype deutsche Wissen über den Nachbarn im Norden. Dieses Stereotyp, das sich in der Bundesrepublik erst in den sechziger Jahren durchsetzte, ist nicht als eine Pauschalisierung der Tatsache zu verstehen, daß die sexuelle Liberalisierung in Schweden damals weiter vorangeschritten war, sondern vielmehr Ausdruck einer ambivalenten Haltung zum schwedischen Wohlfahrtsstaat. Für die Analyse dieses Heterostereotyps wird - in Übereinstimmung mit dem 'linguistic turn' in den Sozialwissenschaften - ein generalisierbares semiotisches Modell entworfen, mit dessen Hilfe zwischen referentiell-denotativen, rhetorischen und symbolischen Funktionen von Stereotypen differenziert werden kann.
"Mehr Spaß mit Schwedinnen", lockt eine Kleinanzeige für Telefonsex in einem Pankower Wochenblatt. In Mel Brooks Film The Producers (USA 1967) stellt ein Broadwayproduzent eine schwedische Sekretärin an, die leichtbekleidet beständig eine Aura von Promiskuität verbreitet. "Die besten Liebesgeschichten schreiben immer noch die Schweden", weiß auch der Klappentext von Neue schwedische Liebesgeschichten zu berichten, eine in den Siebzigern erschienene Sammlung
teils derb-deftiger, teils zärtlich stimmungsvoller erotischer Erzählungen[, die] das im Grunde uralte Thema so originell und phantasiereich [variieren], daß selbst Kenner der Materie noch oft das Staunen lernen! Blutjunge Mädchen und ältere Herren, Jägersmann und Jägersfrau, Graf und Magd, Gigolo und Millionärin - sie lieben sich frisch und fröhlich, durchaus nicht immer nur zu zweit und manches Mal auch ganz anders als allgemein üblich.Soweit die metaphorisch etwas bemühte Verheißung des Klappentextes. Susan Sontag attestierte den Schweden bereits 1969 "post-puritan sexual mores";3 Roland Huntford meinte, daß "die sexuelle Lasterhaftigkeit der Schweden [&133;] eine der tiefverwurzelten Legenden über den Norden sei", sah das Land aber auch prompt selbst in einer beständigen "Wolke von depressio post coitus".4 Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. "Wir haben seltsame Trinkgewohnheiten und wir kopulieren fleißig, bevor wir in großem Ausmaß Selbstmord begehen, nachdem wir eine schreckliche Menge Steuern bezahlt haben", so faßte der Schauspieler Erland Josephson 1987 ironisch das ausländische Bild von Schweden zusammen.5 Kein Zweifel: die angebliche schwedische Promiskuität ist stark heterostereotypenverdächtig, wenn man für die Definition eines Stereotyps heuristisch die Definition Quasthoffs akzeptieren mag:
&09;Also bitte keine falsche Prüderie. Liebe und Sex werden hier als fröhliches Spiel, als schönster Zeitvertreib ohne Rücksicht auf Tabus unverkrampft und sinnenfroh vorgeführt. Die schwedischen Autoren (und Autorinnen!) verstehen es meisterhaft, unschuldig-natürlich, charmant, liebevoll und vor allem witzig zu erzählen, dabei jedoch durchaus nicht zimperlich. Und so gekonnt, daß auch der literarisch Anspruchsvollere voll auf seine Kosten kommt. Delikate schwedische Sexhappen für aufgeschlossene und vorurteilslose Feinschmecker!2
Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Gruppe von Personen bestimmte Eigenschaften ab- oder zuspricht.6
Die angebliche schwedische Promiskuität (oder sei es auch nur sexuelle Freizügigkeit) gehört längst zum (west-)deutschen kulturellen Gedächtnis über das Nachbarland Schweden. Aber wie ist es zu diesem Bild gekommen, und wie ist es zu interpretieren? Handelt es sich wirklich um eine - eventuell stereotype - Reflexion schwedischer Wirklichkeit? Aber welcher Wirklichkeit? Und wenn es sich um ein Heterostereotyp handelt, welche Funktion erfüllt dieses?
Promiskuität oder auch nur sexuelle Freizügigkeit gehörte bis in unser Jahrhundert hinein nicht zu den kulturspezifischen Eigenschaften, die man den Schweden oder den Skandinaviern nachzusagen pflegte. Tacitus schrieb in seinem rezeptionsmächtigen De origine et situ Germanorum Liber (98 n. Chr.) über die Germanen:
quamquam severa illic matrimonia, nec ullam morum partem magis laudaveris. nam prope soli barbarorum singulis uxoribus contenti sunt [&133;]. ergo saepta pudicitia agunt, nullis spectaculorum inlecebris, nullis conviviorum irrationibus corruptae. litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant. paucissima in tam numerosa gente adulteria [&133;].7
Tacitus selbst war allerdings nie in Germanien gewesen; seine Aussagen über das Liebesleben der Germanen sind daher ebenso stereotypenverdächtig wie die Äußerungen des Aufklärers Montesquieu über die Sittlichkeit der Skandinavier in seinem De l'Esprit des lois (1748). Hier lancierte er seine vieldiskutierte Klima-Theorie, wonach Gesetze, Staatsformen und Sitten vom Klima abhängig sind (ohne daß er dadurch ein deterministisches Erklärungsmodell implizieren wollte). Deutlich in Abhängigkeit von Tacitus bemerkt er im vierzehnten Buch über die Völker in den nördlichen Zonen:
Dans les climats du nord, à peine le physique de l'amour a-t-il la force de se rendre bien sensible. [&133;] Dans les pays du nord, une machine saine et bien constituée, mais lourde, trouve ses plaisirs dans tout ce qui peut remettre les esprits en mouvement: la chasse, les voyages, la guerre, le vin. Vous trouverez dans les climats du nord des peuples qui ont pen de vices, assez de vertus, beaucop de sincérité et de franchise. Approchez des pays du midi, vous croirez vous éloigner de la morale même [&133;].8
Trunksüchtig seien sie, so Tacitus über die Germanen und Montesquieu über die Völker in den nördlichen Zonen, aber Promiskuität wird wahrhaftig nicht unterstellt. Die Engländerin Mary Wollstonecraft hingegen, die tatsächlich in Schweden war, führte in ihrer berühmten Reisebeschreibung aus dem Jahr 1796, Letters written during a Short Residence in Sweden, Norway, and Denmark (bereits 1800 ins Deutsche übersetzt), wortreiche Klagen über "the total want of chastity in the lower class of women"9 in Schweden, für die Liebe nichts sei als "merely an appetite, to fulfill the main design of nature, never enlivened by either affection or sentiments"10 . Prinzipiell ist Wollstonecraft eine Anhängerin der Montesquieuschen Klimatheorie, aber wie läßt sich mit dieser das ausschweifende Sexualleben von Frauen erklären, die nach ihrer Beschreibung frühzeitig fett werden, sich nicht durch schöne Formen auszeichnen und durchweg verdorbene Zähne haben? Wollstonecraft muß dafür ein zweites, antirousseausches Erklärungsmodell einführen, wonach im Zivilisationsprozeß Triebe fortschreitend besser beherrscht (Freud würde sagen: unterdrückt) werden. Kein Wunder also, daß in einem Land, wo es Menschen gibt, "who remain so near the brute creation"11 und die eigentlich nur "half alive beings"12 seien, auch kein hohes sittliches Niveau zu erwarten ist. Der Montesquieuschen Konstante 'Klima' wird also eine Variable 'Zivilisation' beigesellt, der natürlichen Bedingtheit des Menschen die Notwendigkeit einer kulturellen Entwicklung. Wenn Wollstonecraft also das Lotterleben der schwedischen Landbevölkerung tadelt, so kritisiert sie nicht etwas spezifisch Schwedisches, sondern lediglich eine zivilisatorische Unterentwicklung.
Aussagen zur spezifisch schwedischen Sexualität finden sich bei Wollstonecraft nicht, ebensowenig wie im 19. Jahrhundert bei Gelegenheiten, wo man sie durchaus hätte erwarten können, so bei der Rezeption moralisch anstößiger schwedischer Literatur aus der Sittlichkeitsfehde 13 des sog. Modernen Durchbruchs. In Schweden hatten z.B. sowohl August Strindbergs Giftas (1884; dt. als Die Verheirateten (1889) und zusammen mit der Erzählsammlung Giftas II (1886) auch 1910 unter dem Titel Heiraten) - und hier insbesondere die Erzählung "Dygdens lön" ("Lohn der Tugend") - als auch Ola Hanssons Sensitiva Amorosa (1887; dt. 1892 unter dem gleichen Titel) viel moralisch-sittliche Empörung ausgelöst. Die deutschen Rezensionen zu den Übersetzungen der Werke 14 verhalten sich zwar keineswegs unkritisch zu den Erzählungen, doch eine (gar stereotype) Zuschreibung des vermeintlich unsittlichen Inhaltes zu Schweden und seinen Bewohnern findet sich nirgendwo, und nur in zwei Rezensionen von insgesamt 16 wird überhaupt ein Zusammenhang zwischen der Herkunft der Autoren und dem anstößigen Inhalt hergestellt. So wird in einer Rezension zwar explizit darauf hingewiesen, daß Strindberg Schwede sei und daß in Giftas "Anstand, Geschmack, Kunst des Ausdrucks [&133;] längst überwundene Stufen" seien,15 doch sei sein Werk eben gerade nicht typisch schwedisch. Diese etwas überraschende Argumentationsvolte begründet der Kritiker damit, daß Strindberg im Ausland lebe und eine "fremde, verpflanzte Kultur", nämlich den französischen Naturalismus mit dem namentlich genannten Zola als Frontmann, in die nordische Novellistik gebracht habe: "Wenn das Unanständige mit Bedacht nachgeahmt wird, wird es schamlos."16 Und ein Kritiker von Hanssons Sensitiva Amorosa schwadroniert zwar über die Beziehung der Erzählsammlung zu "jenem geheimnisvollen Rapport zwischen Mensch und Naturumgebung", über die "Heimathssäfte" oder auch über die Befruchtung durch die "spendende Mutterscholle", aber der Bezug gilt hier nicht etwa Schweden, sondern zum einen Hanssons Heimatprovinz Schonen, zum anderen den 'Nordländern' allgemein.17
Auch im 20. Jh. war es zunächst keineswegs selbstverständlich, Schweden bzw. Schwedinnen mit Promiskuität zu assoziieren, auch wenn z.B. Ellen Keys Propaganda für die 'freie Liebe' auch im deutschsprachigen Raum rezipiert wurde. Im deutschen Kollektivbewußtsein blieb Promiskuität - wie schon en passant in der Strindberg-Rezension erkennbar war - weiterhin eine welsche Angelegenheit. 1931 läßt Kurt Tucholsky in seiner Erzählung Schloß Gripsholm den Ich-Erzähler über Französinnen formulieren, diese hätten
eine leichte Neigung zu Kapricen, die seien aber vorher einkalkuliert, und sie hätten pro Stück meist nur einen Mann, den Mann, ihren Mann, der auch ein Freund sein kann, natürlich - und dazu vielleicht auch anstandshalber einen Geliebten, und wenn sie untreu seien, dann seien sie es mit leichtsinnigem Bedacht.18
Das heterostereotype Wissen über Schweden wird hingegen so zusammengefaßt: "Wenn die Leute in Deutschland an Schweden denken, dann denken sie: Schwedenpunsch, furchtbar kalt, Ivar Kreuger, Zündhölzer, furchtbar kalt, blonde Frauen und furchtbar kalt."19 "Die Weiber [sind] aus Holz", notierte Tucholsky ergänzend in seinem Tagebuch.20
Der Umschwung in der (west)deutschen Auffassung schwedischer Sexualität zeichnet sich erst in den fünfziger Jahren ab, als die schwedische Filmindustrie mit für die damalige Zeit so freizügigen Filmen wie Arne Mattssons Hon dansade en sommar (1951; dt. als Sie tanzte nur einen Sommer) oder Ingmar Bergmans Sommaren med Monika (1952; dt. als Die Zeit mit Monika)21 im Ausland große Erfolge feierte und zur "Keimzelle filmischer Aphrodisiaka"22 wurde. "Stockholm produziert gepflegte, gut photographierte Filme mit predigenden Pastoren und nackten Frauen"23 , so faßte der Filmwissenschaftler Sadoul 1957 den 'Schwedenfilm' zusammen; "Nacktbaden plus Sozialkritik"24 , sekundierte Gunter Groll. Betrachtet man die Rezeption z.B. von Hon dansade en sommar im deutschsprachigen Raum,25 so wird der fast durchgängige Hinweis auf die antimodernen, 'natürlichen' Züge schwedischer Sexualität deutlich, mittlerweile jedoch rousseauisch wieder ins Positive gewendet, so wenn "der Eindruck einer großstädtischen Überzivilisation ferngerückten Welt"26 beschworen wird. Nur eine einzige Rezension bezieht sich explizit auf den Zusammenhang zwischen Schweden und der Darstellung erotischer bzw. sexueller Inhalte, jedoch ohne jede weitere Erläuterung:
Es liegt im Wesen des schwedischen Menschen und in seinem Charakter, dass er Probleme der Beziehungen zwischen Mann und Frau viel freier (weil für ihn natürlich und selbstverständlich) behandelt, als andere Nationen.27
Was hier bereits anklingt, wird im Lauf der nächsten zwanzig Jahre zur heterostereotypen Gewißheit, wie sie 1969 vom größten deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter der Überschrift "Frei von Tabus" zusammengefaßt wurde:
Rauschgift und Pornographie, Gefängnisse ohne Türen und Mädchen ohne Moral, Langeweile und kurze Röcke, heiße Liebe und kühle Menschen - das ist das Bild des Durchschnittsdeutschen von Schweden.28
Das Bild der promiskuitiven Schweden und besonders Schwedinnen ist also ein recht neues, in der Bundesrepublik Deutschland vor allem seit den sechziger Jahren nachweisbares. Indiziert es aber tatsächlich eine deutliche Differenz im Sexualverhalten zwischen Deutschen und Schweden oder zumindest eine deutlich andere Umgangsweise mit Sexualität im skandinavischen Nachbarland?
Im allgemeinen wird diese Frage bejaht, und es mangelt nicht an Argumenten, warum das Heterostereotyp tatsächlich eine gewisse Referentialität besitze. Historiker und Ethnologen argumentieren, daß man sogar schon seit Jahrhunderten von einer spezifischen skandinavischen bzw. spezifisch schwedischen Entwicklung im Hinblick auf Sexualitätsausübung sprechen muß. Hertoft macht vor allem zwei historische Phänomene für die Tradition vorehelicher Beziehungen in den skandinavischen Ländern verantwortlich: das sog. 'Nachtfreien', also der ritualisierte Besuch junger Männer im Schlafzimmer unverheirateter Frauen, sowie die spezifische Funktion der Verlobung im alten nordischen Recht, die als Erlaubnis zur Aufnahme sexueller Beziehungen galt.29 Wollstonecraft als Augenzeugin schrieb über die sexuellen Aktivitäten junger Paare im Spannungsfeld zwischen säkularen Verlobungs und kirchlichen Eherechten:
Young people, who are attached to each other, with the consent of their friends, exchange rings, and are permitted to enjoy a degree of liberty together, which I have never noticed in any other country. The days of courtship are therefore prolonged, till it be perfectly convenient to marry: the intimacy often becomes very tender: and if the lover obtains the privilege of a husband, it can only be termed half by stealth, because the family is wilfully blind.30
An Kirchenbüchern ab dem 18. Jahrhundert läßt sich entsprechend belegen, daß bis ins 20. Jahrhundert hinein ca. die Hälfte der Bräute auf dem Lande zum Zeitpunkt der Hochzeit entweder schwanger war oder bereits Kinder hatte.31
Der Nexus zwischen Sexualität und kirchlichen Sexualnormen war also, so die Behauptung, in Schweden eigentlich schon immer erodiert - eine Entwicklung, die sich dann mit der großen Sittlichkeitsfehde im sog. Modernen Durchbruch und im Kulturkampf der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts fortsetzte, der in vielem ein Kampf um eine selbstbestimmte Sexualität war.32 Die Rationalisierung der Sexualpolitik, wie sie bereits im Hägerströmschen Wertenihilismus angelegt ist, wurde vor allem vom 1933 gegründeten, sozialistischen wie psychoanalytischen Überzeugungen verpflichteten Riksförbundet för sexuell upplysning (Reichsverbund für sexuelle Aufklärung) vorangetrieben, der einen großen Einfluß auf die Sexualpolitik im Wohlfahrtsstaat erhielt. 1938 wurde die Aufklärung über Verhütungsmittel erlaubt, im selben Jahr gab es ein erstes Abtreibungsgesetz (allerdings ohne soziale Indikation), 1955 wurde in allen Schulen der obligatorische Sexualunterricht eingeführt. Letzteres wurde weltweit mit Aufmerksamkeit registriert; "Den svenska synden" ("die schwedische Sünde") wurde zu einer feststehenden Formel. Die zwischen 1962 und 1965 mit großem Engagement und Eifer geführte sog. sexliberale Debatte und auch ein gewisses internationales Sendungsbewußtsein schwedischerseits trugen ein übriges zu der Überzeugung des westlichen konservativen Auslandes bei, die Schweden hätten das Geheimnis der Sexualität profaner Funktionalität ausgeliefert, hätten Sexualität funktionalisiert als hedonistisches Prinzip, während die Liberalen Schweden als Musterfall einer fortschrittlichen Sexualpolitik priesen und fragten, "ob es sich lohnt, sexualpolitisch 'viele Schweden' zu schaffen"33 .
Ist vor diesem Hintergrund das ausländische Bild der vergleichsweise sexuell freizügigen, evtl. gar promiskuitiven Schweden also gerechtfertigt, ist es die Reflexion eines tatsächlichen Unterschiedes im Sexualverhalten?
Erstaunlich ist zunächst, daß die Schweden selbst dem Sexuellen kaum einen Stellenwert einräumen. Um Selbstcharakterisierung gebeten, tauchte das Adjektiv "sexiga" bei einer für die Gesamtbevölkerung repräsentativen Untersuchung 1985 erst auf Platz 29 auf, das waren weniger als 0,5% der Nennungen.34 Ohnehin fragt man sich, wie die Beschreibung des 'modalen'35 Schweden bei Daun als jemand, der Gefühle am liebsten nicht zeigt und ansonsten scheu, unabhängig, konfliktvermeidend, ehrlich, schwermütig, sachlich und ernst ist, mit dem Bild fröhlich kopulierender Schweden zusammenpassen soll. Allerdings können diese soziologischen Erkenntnisse kaum als Gegenbelege gewertet werden. Der Hinweis auf das Fehlen einer schwedischen Selbsteinschätzung als sonderlich sexuell belegt nur, daß das Sexuelle nicht als Problem empfunden wird - ohne daß man eine Aussage darüber treffen kann, ob dies aufgrund einer 'liberalen' Einstellung zur Sexualität, einer funktionierenden Unterdrückung des Sexuellen oder eines anästhesierten bzw. unterentwickelten Körperbewußtseins der Fall ist, also z.B. als Folge jener "physical inhibitedness", welche die amerikanische Essayistin Susan Sontag den Schweden 1969 attestierte (und die ihrer Ansicht nach der Grund ist, warum die Pornoindustrie dort so floriere)36 . In jedem Fall ließe sich darauf verweisen, daß die Eigencharakterisierung der Schweden kaum von Interesse ist, denn es handelt sich ja eben um ein Heterostereotyp, das sich also mit Differenzen zwischen Kulturen auseinandersetzt. Aber gibt und gab es wirklich nennenswerte Differenzen im Sexualverhalten?
Die angeblich typisch skandinavisch-schwedische Tradition vorehelicher Beziehungen, selbst wenn man wie Hertoft vorsichtig lieber "von graduellen als von prinzipiellen Unterschieden" im Hinblick auf z.B. den deutschsprachigen Raum spricht,37 kann in keiner Weise ein Argument für eine historische Referentialität des Stereotyps von den promiskuitiven Schweden sein:
1) Der Geschlechtsverkehr, der aus dem Nachtfreien und der Verlobung folgen kann, ist zwar als vorehelich, keinesfalls aber als freizügig oder promiskuitiv zu bewerten.38 Die Mißachtung der kirchlichen Normen für die Aufnahme von geschlechtlichen Beziehungen ist nicht gleichbedeutend mit der Abwesenheit anderer, ebenso strikter sozialer Normen; das Nachtfreien wie die sexuellen Rechte nach einer öffentlichen (!) Verlobung waren sozial streng geregelt, und die Einhaltung der Regeln wurde vom Kollektiv überwacht. Wollstonecraft bemerkte so in ihrer Reisebeschreibung im Anschluß an ihre oben zitierte Schilderung der sexuellen Rechte von Verlobten:
It happens very rarely that these honorary engagements are dissolved or disregarded, a stigma being attached to a breach of faith, which is thought more disgraceful, if not so criminal, as the violation of the marriage vow.39
2) Eine komparative Analyse schwedischer und anderer europäischer illegitimer Geburtsziffern 40 zeigt deutlich, daß vorehelicher Geschlechtsverkehr als - wenn auch nicht notwendige 41 - Folge des sog. 'European Marriage Pattern' (frühe Geschlechtsreife, hohes Heiratsalter) in Europa wie Nordamerika weit verbreitet war.42 Zu den Räumen mit traditionell hohen Illegitimitätsraten zählt zwar auch der skandinavische Raum, er wird aber noch deutlich übertroffen vom Ostalpenraum; Wien z.B. hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Anteil an unehelichen Geburten von über 50%.43 Bayern hatte im ganzen 19. Jahrhundert einen Prozentsatz der unehelichen Geburten bei 20%;44 nicht erfaßt ist in dieser Zahl der Anteil der Bräute, die bei der Eheschließung bereits schwanger waren. Die besondere Funktion der Verlobung gab es bis in die Neuzeit hinein nicht nur in Skandinavien, sondern ebenso im englischen, nordamerikanischen, französischen, portugiesischen usw. Raum.45 Und auch das Nachtfreien war, z.T. unter anderem Namen ('Kiltgang' in der Schweiz, 'Fensterln' in Österreich, 'Nightcourtship' usw.), in Zentraleuropa, im Baltikum, in Wales, im westlichen Frankreich usw. verbreitet.46
3) Schließlich ist noch zu fragen, ob ein Untersuchungsraum wie 'Schweden' überhaupt eine sinnvolle Strukturierungseinheit ist. Regionale Unterschiede, Stadt-Land-Unterschiede sowie soziale Differenzierungen werden solchermaßen nivelliert. In Schweden z.B. gibt es starke Unterschiede zwischen den Illegitimitätsziffern in Stockholm und in jenen Landstrichen, die von freikirchlichen Bewegungen geprägt wurden. Sozialhistoriker lehnen daher solche großräumigen Untersuchungsgebiete als wenig geeignet für die Untersuchung von Ursachen für eventuelle Differenzen ab.47
Die angebliche schwedische Tradition freizügigen Umgangs mit Sexualität läßt sich also komparatistisch als Mythos enthüllen, der vielleicht auch dem Umstand geschuldet ist, daß dieses Thema in Schweden von der Forschung früh und umfangreich aufgearbeitet worden ist.48 Gab es aber dann wenigstens im hier hauptsächlich interessierenden Zeitraum, grob gesagt den sechziger Jahren, nennenswerte Differenzen zwischen dem westdeutschen und schwedischen Sexualverhalten? Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich die Ergebnisse der in den sechziger und siebziger Jahren florierenden Sexualwissenschaft heranziehen, die sich mit viel Aufwand um eine Operationalisierbarkeit des Sexualverhaltens bemüht hat.49 Die Antworten auf drei, hoffentlich exemplarische Fragen sollen zumindest tendenziell Aussagen über einen signifikanten Unterschied zwischen dem schwedischen und dem deutschen Sexualverhalten erlauben.
Die erste Frage betrifft das Durchschnittsalter für das Sexualdebüt, das sog. Medianalter. In den vierziger Jahren lag dieses in Schweden bei 17,3 Jahren für Männer und 18,3 für Frauen,50 Ende der sechziger Jahre dann bei 17,2 Jahren für Männer und 18,1 für Frauen,51 jeweils bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Für die Bundesrepublik Deutschland liegen für die Zeit Ende der sechziger Jahre schichtenspezifische Untersuchungen über Arbeiter- und Studentensexualität vor; nach diesen Untersuchungen lag das sog. Medianalter für Arbeiter bei 18,4, Arbeiterinnen 18,8,52 Studenten 22,3 und für Studentinnen gar bei 22,8 Jahren 53 . Die schwedische Untersuchung vom Ende der sechziger Jahre differenzierte nur nach 'niedriger' und 'hoher' Ausbildung; die respektiven Werte für das Medianalter betrugen 17,4 und 18,2 Jahre.54
Die zweite Frage betrifft die Verbreitung und Akzeptanz vorehelicher Koituserfahrungen. Für die Geburtsjahrgänge 1935 bis 1950 ermittelte man in Schweden einen Prozentsatz von 83% der Männer und sogar 86% der Frauen, die voreheliche Koituserfahrungen hatten.55 Dies korrespondiert mit der Tatsache, daß 92,9% der Befragten die Aufnahme sexueller Beziehungen für akzeptabel hielten, wenn man miteinander verlobt sei, 83,5% immerhin noch, wenn man auf längere Sicht zusammen sei. Für Befragte mit niedriger Schulausbildung lag die Quote ein wenig geringer, nämlich bei 92,8% resp. 82,9%.56 Diese Werte lassen sich in Beziehung setzen zu den Ergebnissen einer Umfrage unter bundesdeutschen Arbeitern und Arbeiterinnen. Hier lagen die Werte sogar noch höher: 99% bejahten die Frage, ob ein Mann mit seiner Verlobten Geschlechtsverkehr haben dürfe, 97% fanden, daß dies auch umgekehrt für die Verlobte gelten müsse. Liebe ohne Verlobung reichte immerhin noch 92% (in bezug auf Männer) bzw. 91% (in bezug auf Frauen) der Befragten, um eine sexuelle Beziehung einzugehen.57
Die dritte Frage schließlich richtet sich auf die Art der Partnerbeziehung beim ersten Koitus. 1964 wurde für Schweden ermittelt, daß 52% der Männer und 90% der Frauen mit dem bzw. der Verlobten oder einem festen Freund bzw. einer festen Freundin schliefen;58 in der bundesdeutschen Untersuchung zur Arbeitersexualität waren dies 49% der Männer und 79% der Frauen.59
Nun sind die Erhebungsmodalitäten dieser Zahlen nicht immer vergleichbar, und man darf auch zu Recht die Frage stellen, ob die Fixierung auf den soziologisch so schön zu operationalisierenden Koitus nicht wichtige Aspekte des Sexualverhaltens vernachlässigt. Deutlich ist jedenfalls geworden, daß das Medianalter für diesen Zeitraum zwar in Schweden etwas früher liegt, ansonsten aber die Daten soziologisch keine prinzipiellen Unterschiede im Sexualverhalten zwischen der Bundesrepublik und Schweden in den sechziger Jahren feststellen lassen.60 Also kein Mief in der verklemmten Adenauer und Koalitionszeit im Gegensatz zur frischen Brise eines unverkrampften Umganges mit Sexualität im Wohlfahrtsstaat. Und auch von schwedischer Promiskuität kann keine Rede sein: 72,3% der Befragten hatten 1969 fünf oder weniger Koituspartner bzw. partnerinnen im ganzen Leben, bei den angeblich ach-so-wilden Schwedinnen unter 30 waren es sogar 87,5%.61 Dazu paßt dann auch, daß noch 1965 in der sogenannten 'Sexnummer' von Ord & bild ein Sozialwissenschaftler den Lesern meinte versichern zu müssen, daß andere Stellungen als die Missionarsstellung keineswegs pervers seien.62
An dieser Stelle könnte man stehenbleiben in der Untersuchung: das Bild der freizügig-promiskuitiven Schweden ist als Stereotyp, als unzulängliche, ja strenggenommen unzutreffende Pauschalisierung entlarvt worden. Der Diskurs über Sexualität war im Schweden der sechziger Jahre sicherlich öffentlicher, rationalistischer als in der Bundesrepublik, ganz in Übereinstimmung mit dem funktionalistischen schwedischen Gesellschaftsideal, aber tatsächliche Differenzen im Sexualverhalten, die den Erfolg des Heterostereotyps zufriedenstellend erklären können, gibt der empirische Befund nicht her. Nicht zuletzt der Vergleich mit Dänemark wirft die Frage auf, warum es nicht auch ein entsprechendes deutsches Stereotyp über Dän(inn)en gibt.
Eine referentiell-denotative Stereotypenforschung, die das Stereotyp naiv durch Semantisierung dekodiert, wäre mit diesem Ergebnis hochzufrieden: das Heterostereotyp ist als Verformung eines referentiellen Sachverhaltes entlarvt worden, die wissenschaftlichen Ansprüchen auf Wahrheit nicht standhalten kann. Gegen eine solche Stereotypenforschung lassen sich jedoch einige Einwände erheben:
-
li>In methodologischer Hinsicht läßt sich gegen
die referentielle Stereotypenforschung einwenden, daß es
eben zum Wesen des Stereotyps gehört, daß es auf einer
unzulässigen Vereinfachung basiert. Ist daher nicht die referentielle
Stereotypenforschung, welche die denotative Referenz eines Stereotyps
untersucht, um anschließend eindrucksvoll zu demonstrieren,
wie dieser Sachverhalt verfälscht im Stereotyp wiedergegeben
wird, nicht nur intellektuell langweilig, sondern im eigentlichen
Sinne sogar unwissenschaftlich? Wird die referentielle Stereotypenforschung
nicht notwendig zur gutgeschmierten Dekonstruktionsmaschine, die
sich damit einer möglichen Widerlegbarkeit entzieht? Referentielle
Stereotypenforschung mag politisch wichtig sein, aber kaum wissenschaftlich,
denn sie hat sich von ihrem Untersuchungsgegenstand, den per definitionem
awissenschaftlichen Stereotypen, in einer Art und Weise affizieren
lassen, die sie einem wissenschaftlichen Diskurs entzieht.
- In sprachphilosophischer bzw. kommunikationswissenschaftlicher
Hinsicht läßt sich gegen die referentielle Stereotypenforschung
einwenden, daß sie von einem naiven Sprachverständnis
ausgeht, nämlich von der Überzeugung, daß Sprache
Wirklichkeit direkt zu repräsentieren vermag. Im Zeitalter
tertiärer (Massen)Medien findet der Kontakt mit dem Fremden
vor allem aber über Medien statt, die Wirklichkeit beeinflussen,
wenn nicht gar konstruieren:
De facto gibt es heute für die meisten Menschen in westlichen Kulturkreisen nur noch einen sehr kleinen Teil von Wirklichkeit, der tatsächlich unmedial oder von unserer Medienerfahrung ganz und gar ungeprägt wahrgenommen wird. Ansonsten beruht unsere Wirklichkeitssicht auf medial von anderen bereits vorgefilterten Wirklichkeiten; an die Stelle der eigenen Erfahrungen von Welt und ihrer Verarbeitung ist inzwischen die Erfahrung bereits bearbeiteter, aufbereiteter Welt getreten: die Sekundärverarbeitung.63
Pointiert gesagt ist der obige historische und soziologische Befund eigentlich belanglos, denn wieviel Prozent der Bevölkerung kommen schon direkt mit schwedischem Sexualverhalten in Berührung? Wieviel Prozent hingegen werden mit Heterostereotypen schwedischer Sexualität in Massenmedien aller Art konfrontiert? Haben vor allem der 'Schwedenfilm' und schwedische Pornographie nicht eigentlich weit mehr zur Genese und Verbreitung des Heterostereotyps beigetragen als z.B. die Rezeption der schwedischen Sexualpolitik in der 'seriösen' Presse? Die Antwort auf diese Frage muß eindeutig 'ja' lauten, doch die Konsequenzen aus diesem 'ja' sind weniger eindeutig. Denn führen Heterostereotypen dann in Massenmedien ein von Referentialität abgekoppeltes Eigenleben? Und ist der Begriff des 'Schwedenfilms', wie er durch die Filmgeschichten geistert, nicht bereits selbst ein Stereotyp? Gemeint ist hiermit ein Filmtypus, der Sexualität und Sauberkeit zu vereinen verstand und somit als Bindeglied zwischen den FKK-Filmen und Nudies, die den nackten Körper um den Preis seiner scheinbaren Entsexualisierung entdeckten, einerseits und dem erotisch-pornographischen Film andererseits dienen konnte.64 Auffällig ist jedoch in filmgeschichtlichen Darstellungen, daß der 'Schwedenfilm' zwar als eingeführtes Etikett für Überschriften gut ist, ansonsten aber wohlweislich vom skandinavischen Sexfilm geschrieben wird.65 Nicht zu vergessen war es auch Dänemark (und nicht etwa Schweden), das durch die Freigabe der Text (1968) und Bildpornographie (1969) eine Freizügigkeit demonstrierte, die weltweit einmalig war und auch weltweit rezipiert worden ist.66 Der Hinweis auf den 'Schwedenfilm' zur Erklärung des Heterostereotyps von den promiskuitiven Schweden liefert also nur eine Scheinantwort, die sofort eine weitere Frage nach sich ziehen muß, nämlich wieso sich das Stereotyp vom 'Schwedenfilm' eigentlich durchsetzen konnte, z.B. in Konkurrenz zu einer theoretisch ja ebenso möglichen Bezeichnung 'Dänenfilm'.
- In stereotypologischer Hinsicht läßt sich schließlich gegen die referentielle Stereotypenforschung einwenden, daß ihr ein ebenso naives Verständnis von Stereotypisierung zugrunde liegt: die Überzeugung nämlich, daß Stereotypisierung 'nur' auf mangelhafter Information bzw. Reflexion beruhe und daher beseitigbar sei. Dies ist ein Erbe der aufklärerischen Vorurteilskritik, die ein wichtiges Anliegen des bürgerlichen Emanzipationsstrebens war.67 Das Vorurteil galt den Aufklärern als ein 'Vor-urteil' oder 'Pre-judice', also als eine Aussage, die durch Kritik in ein wahres Urteil zu überführen sei. Kant bestimmte Vorurteile entsprechend als "vorläufige Urteile, in so fern sie als Grundsätze angenommen werden",68 und führte diese auf den Mangel an Überlegung zurück, weshalb Nachahmung, Gewohnheit und Neigung Einfluß auf die (Vor)Urteilsbildung erhielten.69 In der Frage, ob Vorurteile potentiell immer in begründete Urteile überführt werden können, ist Kant sich allerdings schon unsicher, denn wo Nachahmung und Gewohnheit gemeinsam ein Vorurteil entstehen lassen, kann der Mensch "schwerlich" davon geheilt werden. Der "Hang zum passiven Gebrauch der Vernunft",70 den Kant hier den Menschen unterstellt, Ausdruck des psychologisch-anthropologischen Charakters seiner Vorurteilskritik, transzendiert allerdings strenggenommen schon die aufklärerische Zuversicht in die Transformierbarkeit und Entbehrlichkeit von Vorurteilen. Denn wenn Vorurteile anthropologisch bedingt sind, ist es dann nicht sinnvoller, von ihrer Existenz auszugehen und stattdessen zu untersuchen, was sie im Kommunikationsprozeß leisten,71 was sie z.B. über denjenigen aussagen, der sie benutzt?
Nach der - weiterhin aufklärerischen - Politisierung des Vorurteils im 19. Jahrhundert 72 wurden in der Forschung des 20. Jahrhunderts vor allem seine wissenssoziologischen, denkökonomischen und sozialpsychologischen Funktionen betont. Markiert wurde diese neue Reflexivität des Vorurteils auch terminologisch: an die Seite des 'Vorurteils' trat 1922 erstmals das 'Stereotyp'73 . Während das Vorurteil die Einstellung gegenüber einem bestimmten Kollektiv bezeichnet, ist das Stereotyp die semiotische Konkretisierung dieser Einstellung.74 An die Stelle eines Begriffes, der dem juristischen Diskurs entstammt und Wahrheit als Telos impliziert, tritt partiell ein Begriff aus dem technisch-industriellen Diskurs, der sich Selbstzweck genug ist.
Die 'ständige Wiederholung eines Musters' (so die Übersetzung von 'Stereotyp') ist zwar minimierbar, aber letzten Endes unumgänglich, denn sie liegt in der Natur menschlicher Erkenntnis. Und wenn es - so Gadamer - kein Verstehen geben kann, das frei von Vorurteilen ist 75 (was wiederum im Umkehrschluß bedeuten könnte, daß es auch kein Vorurteil gibt, das frei vom Verstehen ist), gilt es, die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Stereotypen sozusagen zu transzendentalisieren, also nach den Bedingungen und Möglichkeiten ihres Wirkens zu fragen.
In traditionellen Gesellschaften beruhen Stereotypisierungen, so ist zu vermuten, tatsächlich zunächst auf mangelnder Information. Hinzu tritt supplementär ihre psychosoziale Funktion: durch Abgrenzung gegenüber dem 'Fremden', dem 'Außen' helfen sie, das 'Innen', das eigene System zu konstituieren, eine Identität auszubilden. Da diese Identität durch Differenzbildung entsteht und man sich selbst kaum negative Eigenschaften zuschreiben wird, sind folglich vornehmlich sozialpsychologisch motivierte Heterostereotypisierungen negativ oder höchstens ambivalent.
Diese Reduktion von Außenweltkomplexität durch den Aufbau eigener, systeminterner Komplexität, zu der das Stereotyp beitragen kann, erhielt in der als anomisch empfundenen Moderne eine neue Bedeutung. Der Schriftsteller Kurt Pinthus schrieb 1925:
Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder! Trotz sicherlich erhöhter Reizbarkeit sind durch diese täglichen Sensationen unsere Nerven durchtrainiert und abgehärtet wie die Muskulatur eines Boxers gegen die schärfsten Schläge. [&133;] Man male sich zum Vergleich nur aus, wie ein Zeitgenosse Goethes oder ein Mensch des Biedermeier seinen Tag in Stille verbrachte, und durch welche Mengen von Lärm, Erregungen, Anregungen heute jeder Durchschnittsmensch täglich sich durchzukämpfen hat, mit der Hin und Rückfahrt zur Arbeitsstätte, mit dem gefährlichen Tumult der von Verkehrsmitteln wimmelnden Straße, mit Telephon, Lichtreklame, tausendfachen Geräuschen und Aufmerksamkeitsablenkungen. [&133;] Wie ungeheuer hat sich der Bewußtseinskreis jedes einzelnen erweitert durch die Erschließung der Erdoberfläche und die neuen Mitteilungsmöglichkeiten: Schnellpresse, Kino, Radio, Grammophon, Funktelegraphie. Stimmen längst Verstorbener erklingen; Länder, die wir kaum dem Namen nach kennen, rauschen an uns vorbei, als ob wir selbst sie durchschweiften.76
In modernen Gesellschaften ist das Problem nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an Information und Sinneseindrücken. Lippmann, der im selben Jahrzehnt wie Pinthus' obige Beschreibung des 'modernen' Daseins den Begriff des Stereotyps schuf, vermerkte zu dessen Funktion:
Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, wir definieren erst und schauen dann. In dem großen, blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat.77
Die Gefahren von Stereotypisierung werden hier keinesfalls verschwiegen, aber es wird auch deutlich, daß Stereotypen in dem "großen, blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt" denkökonomisch und wissenssoziologisch notwendig sind, damit die Kontingenz der modernen Welt nicht zur Lähmung des Individuums durch Informationsüberflutung führt. Stereotypen sind, so Lippmann, eine Art geistiger Kurzschrift, die einem das Gefühl für den Zusammenhang erhält, zumal wenn man auf Unbekanntes, Fremdes trifft. Stereotypisierungen erlauben so die kulturelle Konstruktion von kollektiven Identitäten, die an Stelle der althergebrachten, zerfallenden treten und uns als Möglichkeiten dienen können, die Komplexität der Welt für uns zu reduzieren - sozialpsychologische und denkökonomische Funktion des Stereotyps sind in der Moderne miteinander verschränkt. Stereotypisierung ist folglich eine vielleicht bedauerliche, in jedem Fall aber wohlgeeignete Form, mit der Anomieproblematik als dem zentralen Problem der Modernisierung umzugehen.
Entsprechend richtet sich die Aufmerksamkeit der funktionalistischen Stereotypenforschung nur noch supplementär auf die vermeintliche denotative Referenz eines Stereotyps (in unserem Beispiel also auf das schwedische Sexualverhalten); stattdessen wird das Stereotyp vordringlich als ein Kommunikat begriffen, dessen Entstehung, Entwicklung und Funktion im Kommunikationsprozeß in pragmatischer Hinsicht zu untersuchen sind. Die Bedeutung eines Stereotyps ist also als Interferenz, als Überlagerung zweier Wellen zu begreifen: einerseits die vermeintliche Referenz, die die Elemente des Stereotyps bereitstellt, andererseits die Kommunikationsgemeinschaft, die diese vermeintlich referentiellen Elemente zu einer Struktur organisiert. Tacitus' Beschreibung des hohen sittlichen Zustandes der Germanen richtete sich z.B. vornehmlich an die eigenen Zeitgenossen, denen er einen Spiegel vorhalten wollte. Stereotypen haben also nicht nur eine referentielle Dimension, die zwar notwendig, aber nicht hinreichend zu ihrer Erklärung ist, weit wichtiger ist ihre rhetorische Dimension.
Was sagt also das Heterostereotyp von den sexuell freizügigen Schweden über die eigene westdeutsch-westeuropäische Kommunikationsgemeinschaft aus, welche Absicht wird mit diesem Heterostereotyp im Kommunikationsprozeß verfolgt, warum wird evtl. auch unreflektiert so gerne darauf zurückgegriffen?
Als Differenzmerkmal zwischen der schwedischen und der (west) deutschen Kommunikationsgemeinschaft wird durch das Stereotyp die Sexualität benannt - ein Bereich, der wie kaum ein anderer geeignet ist, Modernisierung wie in einer Nußschale zu symbolisieren, gab es doch kaum einen Teilprozeß der Modernisierung, der keinen Einfluß auf die Entwicklung der Sexualität hatte:78
- Die Urbanisierung führt zur Transformation von Normen, deren Einhaltung auf dem Lande im kleineren Maßstab besser zu kontrollieren war. Kinder werden nicht länger als Arbeitskräfte oder als Versicherung für das Alter benötigt, sondern werden zu einem Kostenfaktor, weshalb eine Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung beginnt. Die Trennung von Wohnsitz und Arbeitsplatz führt zu mehr Kontaktmöglichkeiten; die pluralistischere Stadtgesellschaft produziert potentiell Normenheterogenität.
- Die Säkularisierung schwächt kirchliche Vorstellungen von der monogamen, unauflöslichen Ehe sowie vom Nexus der Sexualität mit Reproduktion und Liebe.
- Die Demokratisierung der Gesellschaft erfordert die Gleichstellung der Frau; das Sexualverhalten beider Geschlechter nähert sich einander an.
- Die Erhöhung des Ausbildungs- und Wissensniveaus führt zu vermehrtem Wissen über Sexualität und zu einem selbstbestimmteren Umgang mit dieser.
- Die Konsum und Freizeitgesellschaft benötigt starke Anreize zum Kaufen, wofür sich Sexualität anbietet.
Sexualität wurde als zentraler Diskurs der Modernisierung zunehmend durch diese vergesellschaftet 79 und dadurch unauflöslich verknüpft mit dem gesamten Sozialsystem:
Da Liebe, ihre Normierung, Formierung und Funktionalisierung, ihre Domestizierung, Klassifizierung oder auch nur Abbildung von wichtigen kulturellen Systemen beansprucht und realisiert wird (Religion/Theologie/Kirche; Staat/ Recht; Familie/Ehe; Wissenschaft; Kunst; Ökonomie), so führen Veränderungen in einem oder mehreren davon zu solchen in der Einstellung zur Sexualität, und umgekehrt: auch Veränderungen in der Einstellung zur Liebe zu solchem in einem oder mehreren kulturellen Systemen.80
Spätestens seit Foucaults Forschungen ist auch zum Allgemeinplatz geworden, daß die Diskurse über Sexualität sich immer dort entfalten, wo die gesellschaftliche Macht sitzt, und ein Instrument der Machtausübung sind.81 Es besteht eine unauflösliche Beziehung zwischen dem vermeintlich 'nur' zwischenmenschlichen Sexualverhalten und der gesamtgesellschaftlichen Organisation,82 so daß z.B. asymmetrische Sexualbeziehungen auf Dauer nicht in einer demokratischen Gesellschaft bestehen können.
Sexualität vermag aber nicht nur in synekdochischer, sondern auch in metaphorischer Hinsicht stellvertretend für das Modernisierungsprojekt an sich stehen. Die lange Zeit einfachen linearen Modellen verpflichtete Modernisierungsforschung hat in den letzten Jahren betont, daß Modernisierung ein paradoxer Prozeß ist, der scheinbar gegenläufige Entwicklungen (z.B. Individualisierung und Pluralisierung) miteinander vereint.83 Ein ähnlich paradoxaler Charakter ist auch der Sexualität eigen, die - zumindest in den abendländischen Kulturen - ambivalent betrachtet wird: einerseits mit Faszination, andererseits mit Angst und Zurückhaltung.84 Die Promiskuität, die man den Schweden stereotypisch zuschreibt, ist daher, so meine These, vornehmlich Ausdruck der ambivalenten Haltung, die man gegenüber dem bekanntesten schwedischen Projekt der Moderne, nämlich dem Wohlfahrtsstaat, einnahm.
Diese These vermag einige Probleme zu lösen. Mit ihrer Hilfe ist z.B. zu erklären, warum es kein entsprechendes Heterostereotyp über dänische Sexualität oder einen 'Dänenfilm' gibt, denn der schwedische, nicht etwa der dänische Wohlfahrtsstaat galt und gilt im Ausland als 'der' prototypische Wohlfahrtsstaat. Auch der Zeitpunkt für die Entstehung des Heterostereotyps läßt sich jetzt besser verstehen. Solange das schwedische System im Ausland als 'Modell' gehandelt wurde,85 im öffentlichen Urteil als nachzuahmender middle way86 und als eigene Zukunft galt, tauchte die Sexualität im öffentlichen Diskurs über Schweden zwar gelegentlich auf, aber durchweg positiv als "natürlich" oder "unschuldig" und vor allem noch nicht in nationalstereotyper Form, wie an den deutschen Kritiken zu Hon dansade en sommar zu erkennen ist. Noch im Jahr 1963 wird anläßlich eines langen Spiegel-Interviews mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Tage Erlander unter der Überschrift "Jeder ist pensionsberechtigt" Schweden als 'vollkommener' Wohlfahrtsstaat präsentiert. Die kritischen Fragen der Journalisten richten sich allein auf die Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates und seines Verhältnisses zur Privatwirtschaft; nirgendwo, weder bei den Fragen der Journalisten noch bei den Illustrationen zu dem Interview, wird auf Sexualität Bezug genommen.87 Erst gegen Ende der sechziger Jahre, als zunehmend kritische Stimmen laut werden, erhält das Heterostereotyp in der Bundesrepublik Deutschland prominenten Raum, so in dem bereits angeführten Spiegel-Zitat oder in dem 1971 im englischen Original publizierten und 1973 ins Deutsche übersetzten Buch Huntfords über den schwedischen Wohlfahrtsstaat, in dem er seine polemische Kritik an den new totalitarians mit einem Kapitel über das promiskuitive Verhalten der Schweden 'krönte', bevor er in dem Abschlußkapitel so richtig zur Sache kam: "Die Kopulationsfreiheit hat zu einer sexuellen Besessenheit geführt, die das ganze schwedische Leben durchtränkt. Sie hat ein gewisses Maß von Geistesgestörtheit mit sich gebracht."88 Lennerhed, die "den svenska synden" vor allem im anglo-amerikanischen Raum untersucht hat, resümiert:
Was in dem Zusammenhang wesentlich erscheint, ist jedoch, daß das negative Schwedenbild der Nachkriegszeit so sehr auf die schwedische Sexualpolitik fokussierte. Die rationale, pragmatische und reformorientierte Sexualpolitik wurde als typisch für den schwedischen Staat und evt. auch für den Wohlfahrtsstaat im allgemeinen angesehen.89
Denselben Zusammenhang zwischen Sexualität und Wohlfahrtsstaat impliziert zwar auch das deutsche Heterostereotyp von Promiskuität in Schweden, aber das Stereotyp deutet den Zusammenhang anders, sogar differenzierter, weil es nicht allein Kritik am schwedischen Wohlfahrtsstaats'modell' ausdrückt, sondern vielmehr Ambivalenz zu diesem artikuliert. Denn das schwedische Sexualverhalten kam als Heterostereotyp in der Bundesrepublik Deutschland in genau dem Augenblick ins Spiel, als das Bild Schwedens zweideutig wurde,90 als Kritik und Faszination im öffentlichen Bewußtsein eine paradoxale Einheit eingingen. In einer für die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik repräsentativen Umfrage wurde vom Ifak-Institut im Herbst 1970 folgende Frage gestellt: "Welches Land ist am vorbildlichsten für uns in sozialer Hinsicht, oder gibt es kein Land, das für uns in sozialer Hinsicht besonders vorbildlich ist?" Für 44% der Befragten gab es kein Land, das ihrem eigenen in sozialer Hinsicht überlegen war, aber gleich auf Platz 2 erschien Schweden mit 36%, in weitem Abstand gefolgt von der Schweiz mit 7% und Dänemark mit 3%. Selbst bei den CDU/CSU-Sympathisanten, denen Schweden damals als sozialistischer Horrorstaat von der Parteiführung geschildert wurde, meinte noch fast jeder dritte, daß man sich an Schweden ein Beispiel nehmen sollte.91 Die Attraktivität des 'Modells' war keineswegs schon dahin,92 ein Punkt übrigens, der auch das Stereotyp des 'Schwedenfilms' und dessen Popularität zu erklären vermag. Denn in diesen Filmen wurde
Sexualität [&133;] verknüpft [&133;] mit der Vorstellung eines generell liberalen und demokratischen Gemeinwesens, das sich seiner sozialen Verantwortung durchaus bewußt war [&133;]. Die Freizügigkeit in der Darstellung von Sexualität war untrennbar verknüpft mit dem hohen Stand der Hygiene, den guten Krankenhäusern, den menschenfreundlichen Schulen, den gerechten Sozialgesetzen in diesen Ländern.93
Die rhetorische Funktion des Heterostereotyps als Ausdruck einer Ambivalenz zum schwedischen Wohlfahrtsstaat durch die Wahl eines ebenso ambivalenten Stellvertreterbereiches läßt sich weiterhin belegen durch die Tatsache, daß das Stereotyp in den ehemaligen Ostblockländern einschließlich der DDR weit weniger gebraucht wurde oder überhaupt bekannt war, denn Schweden galt hier im öffentlichen, wenn auch nicht offiziellen Bewußtsein viel länger als ein nachahmenswertes Modell. Auffällig ist schließlich noch, daß sich das Stereotyp bevorzugt auf weibliches Sexualverhalten bezieht. Dies vermag aber nur zu erstaunen, wenn man das Stereotyp als referentiell in bezug auf die schwedische Sexualdebatte vor allem der sechziger Jahre liest, in der tatsächlich andere Themen wie der Sexualunterricht, die Abtreibungsfrage, die Gleichberechtigung von Homosexuellen und die Zensur eine große Rolle spielten 94 - lauter Punkte, die im Stereotyp nicht verarbeitet worden sind. Denn alle diese Punkte eignen sich für die den öffentlichen Diskurs prägenden (Männer) Gruppen nicht, ähnlich wie das verlockend-bedrohliche weibliche Sexualverhalten eine ambivalente Haltung zum schwedischen Wohlfahrtsstaatsprojekt rhetorisch zu artikulieren.95
Neben der referentiellen und der rhetorischen gibt es noch eine dritte Funktion, die Stereotypen eigen ist und von der Stereotypenforschung nicht ignoriert werden darf: die symbolische. Denn Stereotypen bestehen nicht nur aus referentiellen Elementen, die rhetorisch zu Strukturen organisiert werden; sie entwickeln auch - wie alle sprachlichen Formen - ein autoferentielles Eigenleben, bekommen Systemcharakter und gehen syntaktisch Beziehungen zu anderen Signifikanten, also zu anderen Stereotypen, ein. Wenn sie bestimmte Anforderungen wie Plakazität, Kommerzialisierbarkeit und Attraktivität erfüllen, verselbständigen sich Stereotypen im Laufe ihrer Benutzung. Forciert wird eine solche Entwicklung durch Massenmedien, die zunehmend die vermeintlich dargestellte Wirklichkeit überhaupt erst schaffen und zu diesem Zweck 'aus sich selbst heraus' schöpfen müssen. Referentielle und rhetorische Funktionen treten dann hinter symbolische Funktionen zurück, welche die Emergenz des Stereotyps markieren. Die schwedische Sekretärin Ulla in dem eingangs erwähnten Film The Producers, die in der Sekundärliteratur als "Swedish sexpot" charakterisiert wird,96 hat eigentlich längst alle spezifisch 'schwedischen' Qualitäten verloren; sie ist zu einer wiedererkennbaren Ikone für (heterosexuelle)97 Sexualität 'an sich' geworden (s. auch die Abbildung auf der nächsten Seite). Ganz deutlich wird dieser Prozeß auch an Filmen wie Sexual Practic in Sweden (USA 1972), die weder in Schweden noch für ein schwedisches Publikum produziert worden sind. Hier bedient man sich reflexiv eines Stereotyps; ein reflexiver Gebrauch von Stereotypen scheint diese also entweder als Stereotypen zu enthüllen oder aber deren symbolisch-emergente Funktion zu stärken - gegebenenfalls auch beides zugleich.
Eine zweite Möglichkeit der symbolischen Emergenz, also der Herauslösung aus dem ursprünglichen historischen Kommunikationszusammenhang, stellen Interferenzen mit anderen Stereotypen dar. Die europäische Bilderwelt wird heute stark von der massenmedialen amerikanischen Ikonographie beeinflußt, und ein solcher Einfluß aus der Bilderwelt der 'Traumfabrik' ist auch für das Heterostereotyp der promiskuitiven Schwedin nicht auszuschließen, und zwar in zweifacher Hinsicht nicht. Denn zum einen ist das Stereotyp in den USA früher und weiter verbreitet gewesen als z.B. in der Bundesrepubik Deutschland, und auch sein Charakter war anders. Die Einführung des obligatorischen Sexualunterrichtes löste 1955 in 'God's own country' blankes Entsetzen aus,98 und auch im tatsächlichen Sexualverhalten lassen sich signifikante Unterschiede zwischen der USA und Schweden feststellen, vor allem in bezug auf die amerikanische sog. Petting-Kultur. So ermittelten Kinsey und Mitarbeiter 1953, daß nur 20% der (vorwiegend allerdings aus der weißen Mittelschicht stammenden) US-amerikanischen Frauen der Geburtsjahrgänge 1900 bis 1929 voreheliche Koituserfahrungen hatten, während in Schweden 1969 für die Geburtsjahrgänge 1905 bis 1935 für Frauen ein Wert von 68% ermittelt wurde.99 Bezieht man das Heterostereotyp also auf die Differenz zwischen Fremdem und der eigenen Kommunikationsgemeinschaft, dann ist das US-amerikanische Heterostereotyp schwedischer Promiskuität in bezug auf die damaligen sexuellen Normen der weißen Mittelschicht referentieller und zugleich weniger rhetorisch oder gar symbolisch als das bundesrepublikanische oder westeuropäische Stereotyp.
Zum anderen ist ein Einfluß auch in bezug auf die Attribuierung des Blondseins zu promiskuitivem Verhalten zu vermuten. Die symbolische Verknüpfung von Haar und Sexualität findet sich bereits in zahlreichen Mythen; das hellblonde Haar war bis in unser Jahrhundert hinein allerdings zumeist Indikator engelsgleicher Unschuld.100 Die in den USA seltene, weil genetisch rezessive (hell-)blonde Haarfarbe wurde in der Traumfabrik jedoch schon frühzeitig anders semantisiert als in der traditionellen Ikonographie. Im Mischtiegel der USA indizierte die hellblonde Haarfarbe die begehrenswerte Zugehörigkeit zur Oberschichtkultur der WASP (White Anglo-Saxon Protestant, was durchaus auch Skandinavier einschloß). Gentlemen Prefer Blondes, ein gleich mehrfach verfilmter Stoff (u.a. von Howard Hawks 1953 mit Marilyn Monroe in der hellblonden Hauptrolle), drückt diese soziale Aufwertung griffig aus. Die hellblonde Frau wurde zur (auch sinnlich) begehrten Traumfigur; ihr Haar nicht länger zu einem Indikator für Schüchternheit und Züchtigkeit, sondern zur erotischen Verheißung. Schauspielerinnen wie Jean Harlow, Mae West, prototypisch natürlich Marilyn Monroe, in Europa u.a. Brigitte Bardot oder Catherine Deneuve verkörperten diesen Typus. Das Heterostereotyp, daß alle Schwedinnen hellblond sind, muß angesichts dieser Attribuierung von Blondheit eine Stützung des Stereotyps bedingen, daß Schwedinnen promiskuitiv sind. Und dies unbeschadet der Tatsache, daß die sexuell aktiven Frauen in den beiden schwedischen Skandalfilmen der fünfziger und sechziger Jahre, Hon dansade en sommar und Bergmans Tystnaden (1963; Das Schweigen), mitnichten hellblond sind.
Das deutsche Heterostereotyp vom promiskuitiven Verhalten von Schweden und vor allem Schwedinnen läßt sich referentiell-denotativ nicht hinreichend erklären, denn die diesbezüglichen Unterschiede sind wenig signifikant. Eine Analyse der rhetorischen Funktion des Heterostereotyps hingegen läßt erkennen, daß durch die Stereotypisierung der schwedischen Sexualität stellvertretend die eigene Ambivalenz zum 'Modell' des schwedischen Wohlfahrtsstaates artikuliert wird. Im Laufe ihrer zumeist massenmedialen Benutzung wird jedoch diese rhetorische Funktion immer unwichtiger, statt ihrer tritt die symbolische Funktion in den Vordergrund, welche die Emergenz des Heterostereotyps unterstreicht und es aus seinem ursprünglichen Kommunikationszusammenhang herauslöst.
Für die Analyse des Heterostereotyps habe ich mich also eines semiotischen Modells bedient - in Übereinstimmung mit dem 'linguistic turn' in den Sozialwissenschaften, aber auch im Anschluß an die 'semiotische' Abspaltung des Stereotyps vom Vorurteil zu Beginn unseres Jahrhunderts. Ob Kultur eine semiotische Konstruktion von Wirklichkeit ist (= essentielle Bestimmung), kann hier dahingestellt bleiben, zumindest läßt sie sich erfolgreich als semiotische Konstruktion von Wirklichkeit analysieren (= funktionelle Bestimmung). Stereotypen sind dann semiotische Konstrukte, die Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern erst schaffen. Die Anthropozentrität des z.Zt. in den Geistes- und Sozialwissenschaften so beliebten konstruktivistischen Paradigmas darf jedoch, das hat die Analyse gezeigt, nicht reduktiv dahingehend verstanden werden, daß Stereotypen lediglich eine referentielle Funktion (wo Wirklichkeit als Wirklichkeit im eigentlichen Sinne konstruiert wird) zugestanden wird. Entscheidender sind die pragmatisch-rhetorische und die symbolisch-emergente Funktion.
Um diese drei Funktionen zu erfassen, sollte man metaphorisch eher von 'Inszenierung' als von 'Konstruktion' sprechen. Denn während die technische 'Konstruktion' an das leidenschaftslose und zweckrationale Zimmern eines Dachstuhles gemahnt, verweist die eher künstlerische Metapher der 'Inszenierung' auf eine Theateraufführung, wo von realen Personen für ebensolche unter Bezug auf gemeinsame Erfahrungen (= referentielle Ebene) auf der Bühne Wirklichkeit geschaffen wird (= rhetorische Ebene), die sich aber nicht in dieser Wirklichkeit erschöpft (= symbolische Ebene). Stereotypen werden von Kollektiven weniger konstruiert als inszeniert, weil sie ein Eigenleben entfalten. In Tabellenform läßt sich die hier untersuchte Problematik folgendermaßen darstellen:
Funktionen des Heterostereotyps (HST) | Dekodierungstyp | Implikationen in Bezug auf Stereotypisierung | Implikationen in Bezug auf Sprachverständnis |
---|---|---|---|
referentiell-denotative F. des HST (z.B. schwed. Sexualverhalten u. schwed. Sexualpolitik) | naive Dekodierung durch Semantisierung | Stereotypisierung beruht 'nur' auf mangelhafter Information bzw. Reflexion, ist daher beseitigbar | Repräsentation: Sprache vermag Wirklichkeit abzubilden durch Repräsentation |
rhetorische F. des HST (z.B. Ausruck der ambivalenten Haltung zum schwedischen Wohlfahrtsstaat) | funktionale Dekodierung durch Pragmatisierung | Stereotypisierung beruht auf denkökonomischen, wissenssoziologischen oder sozialpsychologischen Gründen | Strukturierende Konstruktion: Sprache konstruiert Wirklichkeit durch Strukturierung |
symbolische F. des HST (z.B. Ausdruck von Sexualität 'an sich') | funktionale Dekodierung durch Syntaktisierung | Stereotypisierung erreicht im Zuge seiner Historisierung Emergenz, gefördert durch massenmediale Reduktion auf ein 'Versatzstück' | Autopoietische Konstruktion: Sprache konstruiert Wirklichkeit durch Autopoiesis und -referntialität |
Auch Stereotypen haben eine Geschichte: sie entstehen, sie blühen auf, und sie vergehen. Das Heterostereotyp von den promiskuitiven Schweden hat seine Blütezeit längst hinter sich. Schon kurz nach dem Palme-Mord und der Bofors-Affäre wurde 1987 schwedischerseits notiert, daß die Vorstellung von "den svenska synden" im Rückzug begriffen sei.101 Auch z.B. in Spiegel-Berichten über Schweden spielt das Heterostereotyp heute, ganz im Gegensatz zur Berichterstattung Ende der sechziger und Beginn der siebziger Jahre, keine Rolle mehr, und dies wird kaum darauf zurückzuführen sein, daß die Spiegel-Berichterstattung seriöser geworden ist und auf Stereotypen verzichtet. Wer nach den Gründen für das langsame Sterben, oder besser: die Historisierung des Stereotyps sucht, wird schnell fündig:
- Was die referentielle Funktion betrifft, so hat sich das Sexualverhalten im Laufe der letzten dreißig Jahre im west-mittel-europäisch-amerikanischen Raum weiterhin angeglichen, und im Gefolge der AIDS-Diskussion unterscheiden sich auch die Diskurse über Sexualität z.B. in Schweden, Deutschland und den USA nicht mehr.
- Was die rhetorische Funktion betrifft, so gilt der schwedische Wohlfahrtsstaat nicht länger als Modell.102
- Symbolisch allerdings wird das Heterostereotyp wohl noch ein wenig im öffentlichen Bewußtsein ausharren können. Erst letztes Jahr erschien in einem anerkannt seriösen deutschen Verlag ein Sammelband mit dem Titel Erotische Erkundungen. Schwedische Frauen erzählen, auf dessen Klappentext zu lesen ist: "Blond, lasziv, unersättlich: sind so die schwedischen Frauen?"103 Das Stereotyp ist offensichtlich zu verkaufsfördernd, um es zu ignorieren, aber unreflektiert mag man es mittlerweile auch nicht mehr verwenden, wie die Frageform erkennen läßt.
Fußnoten
1: Dieser Aufsatz ist die umgearbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich am 10. April 1996 an der Universität Poznaÿ hielt. Für Literaturhinweise und Anregungen bin ich dem Auditorium sowie Claudia Beindorf und Robert Fuchs dankbar.
2: Neue schwedische Liebesgeschichten. Gütersloh: Bertelsmann
Buchklub, n.a.
3: Susan Sontag: "Letter from Sweden". In: Ramparts, July 1969, 24.
4: Roland Huntford: Wohlfahrtsdiktatur. Das schwedische Modell [=
The New
Totalitarians, 1971]. Übers. v. Wolfgang
Scharrer. 4. Aufl. Ffm, Berlin, Wien: Ullstein, 1974, 263, 272.
5: "Vi har konstiga dryckesvanor och vi kopulerar flitigt innan vi i stor
utsträckning begår
självmord efter att ha
betalt in en förfärlig massa skatt." Erland Josephson: "Sveriges rykte
är gott". In: Sverigebilder. 17
svenskar ser på Sverige. Betänkande
avgivet av Utredningen om de statliga insatserna inom Sverigeinformationen och kulturutbytet med
utlandet. Sthlm: Allmänna
Förlaget, 1987 (= Statens offentliga utredningar, Utrikesdepartementet; 1987:57), 30.
6: Uta Quasthoff: Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine
sprachwissenschaftliche
Analyse des Stereotyps. Ein
interdisziplinärer Versuch im Bereich der Linguistik, Sozialwissenschaft und
Psychologie.
Ffm:
Athenäum, 1973, 28.
7: Publius Cornelius Tacitus: Germania. Hg., übers. u. m.
Erläuterungen
versehen v.
Eugen Fehrle. 5., v. Richard
Hünnerkopf bearb. Aufl. Heidelberg: Winter, 1959, 32ff. (Fehrle übersetzt den
Abschnitt so:
"Trotzdem werden die Ehen dort
ernst genommen, und keine Seite ihrer sittlichen Gepflogenheiten möchte man mehr loben.
Denn sie
fast allein unter allen
Fremdkörpern begnügen sich mit einer Gattin. [...] Also leben sie in Zucht und
Keuschheit, nicht
verführt durch lüsterne
Schaustellungen, nicht durch aufreizende Gelage. Geheimen Briefwechsel kennen die
Männer so
wenig wie die Frauen. Trotz
der zahlreichen Bevölkerung ist Ehebruch höchst selten". (33ff))
8: Montesquieu: De l'Esprit des lois; 1. Hg. v. Gonzague Truc. Paris:
Éditions
Garnier
Frères, 1961, 242.
9: [Mary Wollstonecraft:] The Works of Mary Wollstonecraft. Hg. v. Janet
Todd u.
Marilyn Butler; 6. London:
William Pickering, 1989, 258.
10: Ibid., 314.
11: Ibid., 245.
12: Ibid., 314.
13: Zur Sittlichkeitsfehde s.: Elias Bredsdorff: Den store nordiske krig om
seksualmoralen. En dokumentarisk fremstilling af
sædelighedsdebatten i nordisk litteratur i 1880'erne. Kbh: Gyldendal, 1973. Im
nicht-skandinavischen
Ausland scheint die Debatte
kaum wahrgenommen worden zu sein; Bredsdorff erwähnt nur einen reichlich abstrusen
anonymen
französischen
Zeitungsaufsatz: "La polygamie en Scandinavie". In: Le Figaro, 11. Januar 1888.
14: Siehe die Einträge in: Robert Fallenstein u. Christian Hennig:
Rezeption
skandinavischer Literatur in Deutschland
1870-1914. Quellenbibliographie. Neumünster: Wachholtz, 1977 (= Skandinavistische
Studien; 7).
15: "Nordische Novellen". In: Die Grenzboten 57 (1898:4),
478.
16: Ibid.
17: Franz Servaes: "Ola Hansson's 'Sensitiva Amorosa'". In: Die
Nation 96
(1891/92),
693-695.
18: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke; 3: 1929-1932. Hg. v. Mary
Gerold-Tucholsky
u. Fritz J. Raddatz.
Reinbek: Rowohlt, 1960, 667.
19: Ibid., 663.
20: Kurt Tucholsky: Die Q-Tage-Bücher 1934-1935. Hg. v. Mary
Gerold-Tucholsky u.
Gustav Huonker.
Reinbek: Rowohlt, 1978, 157.
21: Von 97 auf 65 Minuten zusammengeschnitten, synchronisiert und mit neuer,
lebendigerer Filmmusik
versehen wurde Sommaren med Monika in den USA unter dem Titel Monika, the Story
of a Bad
Girl zu einem Filmhit auf dem flachen
Land. (Jack Stevenson: "Somrarna med Monika. Bergman som buskis på
bystan". In: Chaplin
(1995:3), 19-22.)
22: "Schweden: Sündige Brüder". In: Der
Spiegel, 1964:15, 8.
April 1964, 96.
23: Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst [Histoire de l'Art du
Cinéma des
origines
à nos jours, 4. Ausgabe 1955].
Erweiterte deutschsprachige Ausgabe unter Redaktion von Hans Winge. Wien:
Schönbrunn-Verlag,
1957, 394.
24: Zit. nach: "Schweden: Sündige Brüder", 96.
25: S. Claudia Beindorf: Deutsche Schweden-Stereotypen im 20. Jahrhundert.
Funktionen von Klischees bei der Rezeption von
Söderbergs Martin Bircks ungdom (1901) und Mattssons Hon dansade en
sommar (1951).
M.A.-Arbeit, Berlin: Nordeuropa-Institut
(masch.), 1995; sowie die stark verkürzte Umarbeitung dieser M.A.-Arbeit, die unter dem
Titel "'Sie
tanzte nur einen Sommer'
- über die Konstruktion von Stereotypen" als Band 4 in der Reihe Arbeitspapiere
"Gemeinschaften"
erscheinen wird.
26: Schfd.: "'Sie tanzte nur einen Sommer' ('Hon dansade en sommar'). In:
Evangelischer
Filmbeobachter, 4. Jg.,
Folge 28 (10. Juli 1952), 22f. Zit. nach: Beindorf (1995), XXIV.
27: es.: "Sie hat nur einen Sommer lang getanzt". In:
Film-Magazin 24
(1952). Zit. nach:
Beindorf (1995), XXIV.
28: "Frei von Tabus". In: Der Spiegel, 1969:39, 22. September
1969, 132.
29: Preben Hertoft: "Das sexuelle Verhalten junger Dänen".
Übers. v. Peter Jacobi. In:
Maj-Briht Bergström-Walan u.a.: Modellfall Skandinavien? Sexualität und
Sexualpolitik in
Dänemark und Schweden. Reinbek: Rowohlt, 1970 (= rororo
sexologie; 8027/8028), 61-69.
30: Wollstonecraft, 326.
31: S. die Übersicht über diesbezügliche
Forschungsergebnisse bei:
Hertoft, 68.
32: Zur Geschichte der schwedischen Sexualpolitik, -erziehung und -debatte s.:
Maj-Briht
Bergström-Walan:
"Sexualerziehung in Schweden". In: Dies. u.a., 11-58; Birgitta Linnér (in
collaboration with Richard
J. Litell): Sex and Society in
Sweden. New York: Pantheon Books, 1967; vor allem aber: Lena Lennerhed: Friheten att
njuta.
Sexualdebatten i Sverige på 1960-talet.
Sthlm: Norstedts, 1994. Das für mein Vorhaben äußerst relevante Kapitel
"Den svenska synden" in
diesem Buch war bereits
separat in Tvärsnitt 1991:4, 2-11, erschienen.
33: Hans Giese: "Vorbemerkung des Herausgebers". In:
Bergström-Walan u.a., 9.
34: Zit. nach: Åke Daun: Svensk mentalitet. Ett
jämförande
perspektiv. Sthlm: Rabén &
Sjögren, 1989, 196.
35: Dauns 'modaler' Schwede ist nicht gleichzusetzen mit einem vermeintlichen
schwedischen
Nationalcharakter und auch nicht mit dem Durchschnittsschweden 'Medelsvensson', sondern ist das
Ergebnis der Differenz von
statistischen Ergebnissen schwedischer Sozialforschung mit statistischen Ergebnissen anderer
Sozialforschungen, die sich auf ein
nationales Kollektiv richten (ibid., 48).
36: Sontag, 31.
37: Hertoft, 69.
38: Michael Mitterauer: Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer
Geburten in
Europa.
München: Beck, 1983, 59.
39: Wollstonecraft, 326.
40: Mit 'illegitimer Geburtsziffer' wird hier summarisch bezeichnet, was
Mitterauer
differenziert in uneheliche
Fruchtbarkeit ("illegitimacy rate"; die Zahl der unehelichen Geburten pro 1000 Frauen
im
gebärfähigen Alter von 15 bis 44)
und die Illegitimitätsquote ("illegitimacy ratio"; der Anteil der unehelichen
Geburten an den Geburten
insgesamt). Zur respekti-
ven historischen Zuverlässigkeit dieser Indikatoren s. 18.
41: Ibid., 55.
42: Ibid., 23-30.
43: Ibid., 25.
44: Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800-1866: Bürgerwelt
und
starker Staat.
5., durchgeseh. Auflage.
München: Beck, 1991, 127.
45: Mitterauer, 14.
46: S. die Übersichtskarte bei: Ibid., 57.
47: Ibid., 29.
48: Karl Robert Villehad Wikman: Die Einleitung der Ehe. Eine
vergleichende
ethno-soziologische Untersuchung über die
Vorstufe der Ehe in den Sitten des schwedischen Volkstums. Åbo: [Akademie], 1937 (=
Acta
Academiae Aboensis, Humaniora IX; 11);
Jonas Frykman: "Sexual Intercourse and Social Norms: A Study of Illegitimate Births in
Sweden
1831-1933". In: Ethnologia
Scandinavica 1975, 110-150; Richard F. Tomasson: "Premarital Sexual Permissiveness
and
Illegitimacy in the Nordic
Countries". In: Comparative Studies in Society and History (CSSH) 18 (1976),
252-270;
sowie die
schwedischen Beiträge in: Peter
Laslett, Karla Oosterveen u. Richard M. Smith (Hg.): Bastardy and its Comparative History.
Studies
in the history of illegitimacy and marital
conformism in Britain, France, Germany, Sweden, North America, Jamaica and Japan.
Cambridge,
Mass.: Harvard University Press, 1980
(samt Bibliographie 403-416).
49: Eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse dieser sexologischen Studien ist
allerdings
nur
sehr bedingt gegeben.
Unterschiedliche Bezugsgruppen, methodische Unterschiede und differierende Kategorisierungen
der
Antworten bedingen, daß
man beim Vergleich verschiedener Studien allenfalls Tendenzen, nie aber absolute Differenzen zu
belegen versuchen sollte. Zu-
dem ist das Sexualverhalten eine hochkomplexe Angelegenheit, die sich selbst mit einem sehr
umfangreichen Fragenkatalog nur
unzureichend operationalisieren läßt.
50: Lennerhed, 68.
51: Errechnet aus Tabelle III:3, in: Hans L. Zetterberg: Om sexuallivet i
Sverige.
Värderingar, normer, beteenden i
sociologisk tolkning. Utredningen rörande sexual-og samlevnadsfrågor i
undervisnings-och
upplysningsarbetet (USSU). Sthlm:
Allmänna Förlaget, 1969 (= Statens offentliga utredningar, Utbildningsdepartementet;
1969:2), 88f.
52: Gunter Schmidt u. Volkmar Sigusch: Arbeiter-Sexualität. Eine
empirische
Untersuchung an jungen Industriearbeitern.
Luchterhand: Neuwied u. Berlin, 1971 (= Soziologische Texte; 75), 38.
53: Ibid., 124.
54: Zetterberg, 88f.
55: Hertoft, 77.
56: Zetterberg, 80.
57: Schmidt u. Sigusch, 85.
58: Hertoft, 85.
59: Schmidt u. Sigusch, 43.
60: Schmidt u. Sigusch konstatierten z.B. ein "deutliches Abweichen der
sexuellen Verhaltensmuster
westdeutscher Arbeiter vom amerikanischen und ein weitgehendes Übereinstimmen mit dem
skandinavischen Muster der
Unterschicht-Sexualität" (135, s. auch 29).
61: Zetterberg, 96f.
62: Joachim Israel: "Sexualmyter i manssamhället". In: Ord
& bild
74 (1965:3), 213-217, bes. 215.
63: Werner Faulstich (Hg.): Grundwissen Medien. München: Fink,
1994 (= utb;
1773), 29. In der Bundesrepublik
wurden 1991 folgende Stunden Mediennutzung pro Monat für die beiden quantitativ
wichtigsten Medien aufgewendet:
Hörfunk 81; Fernsehen 85 (ibid., 37).
64: Georg Seeßlen: Der pornographische Film. Ffm u. Berlin:
Ullstein, 1990,
170-174.
65: Ibid.
66: Vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, woher die meisten Kunden
dänischer Pornographie
stammten (Der Spiegel, 1969:5, 27. Januar 1969, 98; 1969:50, 8. Dezember 1969, 82-101;
1970:12,
16. März 1970, 148 -
erstaunlich ist bei der Spiegel-Berichterstattung über dänische Pornographie,
daß nirgendwo Bezug auf den dänischen Staat oder
die dänische Gesellschaft genommen wird).
67: S. die historische, stark marxistisch geprägte Übersicht zur
Geschichte
der Vorurteilskritik von James Elliott
u. Jürgen Pelzer: "Einleitung: Stationen der Vorurteilskritik". In: Dies. u. Carol
Poore (Hg.): Stereotyp und Vorurteil in der Literatur.
Untersuchungen zu Autoren des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
1978 (= Zeitschrift für Literaturwissenschaft
und Linguistik, Beiheft 9), 9-31.
68: Immanuel Kant: "Logik". In: Ders.: Schriften zur Metaphysik
und Logik
2. Hg. v. Wilhelm Weischedel
(Werkausgabe; 6). 8. Aufl. Ffm: Suhrkamp, 1991 (= stw; 189), 505.
69: Ibid., 506f.
70: Ibid., 506.
71: Herrmann Bausinger: "Stereotypie und Wirklichkeit". In: Thomas
Jensen u. Helge Nielsen (Hg.): Landeskunde
im universitären Bereich. München: Wilhelm Fink, 1988 (= Text & Kontext,
Sonderreihe; 24), 39f.
72: Im Kommunistischen Manifest (1848) z.B. werden Gesetze, Moral
und Religion als
bürgerliche Vorurteile ge-
brandmarkt.
73: Der Begriff wurde in diesem Sinn erstmals von Walter Lippmann in seinem
Werk
Public Opinion (New York:
Harcourt Brace & Co., 1922; Reprint: New Brunswick u. London: Transaction Publ., 1991)
gebraucht. In deutscher
Übersetzung durch Herrmann Reidt als Die öffentliche Meinung. Reprint.
Bochum:
Universitätsverlag Brockmeyer, 1990 (=
Bochumer Studien zur Publizistik-und Kommunikationswissenschaft; 63).
74: Elliott u. Pelzer, 11. Hans J. Kleinsteuber hat eine andere Unterscheidung
vorgeschlagen: "Während
Stereotypen immer an reale Sachverhalte anknüpfen, also insoweit 'kognitive Einstellungen'
reflektieren, zeichnen sich
Vorurteile dadurch aus, daß sie bestimmte Formen negativer Gefühlsurteile
transportieren, also zu den 'affektiv-emotionalen
Einstellungen' zählen" ("Stereotype, Images und Vorurteile - die Bilder in den
Köpfen der Menschen". In: Günther Traut-
mann (Hg.): Die häßlichen Deutschen. Deutschland im Spiegel der westlichen und
östlichen Nachbarn. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft,
1991, 65). Diese Unterscheidung ist jedoch in zweifacher Hinsicht problematisch: zum einen durch
die Definition des Stereo-
typs über seinen referentiellen Bezug, zum anderen durch die Entkoppelung von affektiven
und kognitiven Aspekten, auf deren
Zusammenspiel Lippmann bereits hingewiesen hatte: "Die Stereotypen sind [...] in hohem
Grade mit den Gefühlen belastet,
die ihnen zugehören." (72)
75: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr, 1960,
288 u. 465.
76: Zit. nach: Silvio Vietta u. Hans-Georg Kemper: Expressionismus. 5.,
verb. Aufl.
München: Fink, 1994 (= utb;
362 - Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert; 3), 11.
77: Lippmann, 63.
78: Zu den folgenden Punkten s.: Joachim Israel u.a.: "Sexuelle
Verhaltensformen
der schwedischen
Großstadtjugend". In: Bergström-Walan, 174ff; sowie Peter Dinzelbacher:
"Sexualität/Liebe: Mittelalter". In: Ders. (Hg.):
Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen.
Stuttgart:
Kröner, 1993 (= Kröners Taschenausgabe; 469), 70-89
(mit Bibliographie); und Wolfgang Beutin: "Sexualität/Liebe: Neuzeit". In: Ibid.,
89-102 (mit Bibliographie).
79: Als Begriff taucht Sexualität erst im 19. Jahrhundert auf, und zwar im
Kontext der Bemühungen, weibliche
sexuelle Aktivität zu kontrollieren. Anthony Giddins schlußfolgert daher im
Anschluß an Foucault (s.u.), daß "Sexualität [...]
ein soziales Konstrukt [ist], das sich in den Sphären der Macht bewegt" (Wandel
der
Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen
Gesellschaften [= The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in
Modern
Societies, 1992]. Übers. v. Hanna Pelzer. Ffm:
Fischer Taschenbuch, 1993 (= Fischer Taschenbuch; 11833), 33), und bezeichnet das Auftauchen
der Sexualität als "ein
Phänomen der Moderne" (46).
80: Beutin, 92.
81: Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit
1 [=
Historie de la sexualité, 1: La volonté de savoir,
1976]. Übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Ffm: Suhrkamp 1983 (= stw; 716), 46.
82: Giddins, 11.
83: So die Grundthese von: Hans van der Loo u. Willem van Reijen:
Modernisierung.
Projekt und Paradox [Paradoxen
van modernisering. Een sociaalwetenschappelijke benadering, 1990]. Übers. v. Marga E.
Baumer. München: dtv, 1992 (= dtv; 4573).
84: Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis ist in bezug auf
Alkoholgenuß zu konstatieren. Nicht zufällig ist ein
weiteres Heterostereotyp über Schweden der angeblich extrem hohe Alkoholverbrauch -
eine Behauptung, die sich referentiell
ebenfalls nicht halten läßt (s. Bernd Henningsen: Der Wohlfahrtsstaat
Schweden.
Baden-Baden: Nomos, 1986 (= Nordeuropäische
Studien; 2), 19f), aber gerne weiterhin kolportiert wird. Henningsen deutet die
innerschwedische
Diskussion als "Indiz dafür, daß
der Funktionalismus [...] als politisch-gesellschaftliches Prinzip nicht taugt" (20); im
Ausland jedoch wird durch die stereotype
Aussage über die Trunksucht der Schweden vornehmlich eine Ambivalenz gegenüber
dem schwedischen 'Modell' artikuliert.
85: Henningsen und Stråth weisen darauf hin, daß die
'Modell'-Debatte
lange Zeit vor allem eine Debatte des
Auslandes war und erst seit den achtziger Jahren in Schweden selbst geführt wird.
(Henningsen, 21; Ders. u. Bo Stråth: "Die
Transformation des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Ende des 'Modells'?". In: Jahrbuch
für Politik = Yearbook of Politics 5 (1995:2),
222.)
86: Die Idee von Schweden als 'middle way' wurde 1936 von Marquis William
Childs
lanciert (Sweden. The
Middle Way. New Haven: Yale University Press, 1936) und 1980 einer
Überprüfung
unterzogen (Sweden: The Middle Way on Trial.
New Haven u. London: Yale University Press, 1980).
87: "Jeder ist pensionsberechtigt. SPIEGEL-Gespräch mit dem
schwedischen Ministerpräsidenten Tage
Erlander". In: Der Spiegel, 1963:11, 13. März 1963, 60-67.
88: Huntford, 273.
89: "Vad som framstår som väsentligt i sammanhanget
är
dock att efterkrigstidens negativa Sverigebild så pass
mycket fokuserats kring den svenska sexualpolitiken. Den rationella, pragmatiska och
reforminriktade sexualpolitiken sågs som
typisk för den svenska staten och eventuellt också för
välfärdsstaten i allmänhet." Lennerhed, 97.
90: Lennerhed behauptet, daß sich im anglo-amerikanischen Bereich bereits
in
den fünfziger Jahren ein neues
Schwedenbild etablierte, wo Schweden "nicht länger als ein Vorbild, sondern als ein
abschreckendes Beispiel erschien" ("inte
längre [framstod] som någon förebild utan som ett avskräckande
exempel" (93)), und deutet 'Den svenska synden' entsprechend
negativ und nicht ambivalent. Sie nimmt die Aussage also für face value, was
sicherlich auch
darauf zurückzuführen ist, daß sie
als Historikerin kaum den stereotypen Charakter von 'Den svenska synden' reflektiert.
Henningsen
hingegen notiert über die Re-
zeption des schwedischen Wohlfahrtsstaates im Ausland, daß "die eher
enthusiasmierten als kritischen Analysen [...]
repräsentativ bis in die sechziger Jahre" blieben (43). Auch Göran Svensson, der
die Schwedenrezeption im Ausland untersucht
hat, konstatiert bis 1975 eine Dominanz des positiven Bildes, ab den fünziger Jahren jedoch
begleitet von zunehmender Kritik
("Utländska bilder av Sverige. Bespeglingar i det moderna". In: Ulf
Himmelstrand u. Ders. (Hg.): Sverige - vardag och struktur.
Sociologer beskriver det svenska samhället. Sthlm: Norstedts, 1988, 139-161
(einschließlich Bibliographie)). Für die Bundesrepublik
läßt sich jedenfalls festhalten, daß die Vorstellung von schwedischer
Promiskuität sich erst in den sechziger Jahren
stereotypisiert, ablesbar z.B. an der Entkoppelung von 'predigenden Pastoren und nackten Frauen'.
91: "Was soll Bonn tun? SPIEGEL-Umfrage über innere Reformen
I". In: Der Spiegel, 1964:46, 9. November
1970, 79f.
92: Noch zur Bundestagswahl 1972 brachte Der Spiegel eine
Titelgeschichte
"Schweden - Modell für Bonn" mit
der Überschrift "Blick auf Schweden - Blick in die Zukunft" (1972:42, 9.
Oktober 1972, 122-145).
93: Seeßlen, 171.
94: S. die entsprechenden Kapitel bei Lennerhed.
95: Bezeichnend erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß bei einer
Befragung von 250 ausländischen
Touristen in Schweden 1967 die Mehrheit mit dem Begriff 'Den svenska synden' vertraut war, aber
deutlich mehr Männer als
Frauen und die Männer zudem mit deutlich positiverer Bewertung (Lennerhed, 267).
96: Maurice Yacowar: Method in Madness. The Comic Art of Mel
Brooks. New York:
St. Martin's Press, 1981, 76.
97: In dem Film ist Ulla, zusammen mit den ältlichen Witwen, die der
glücklose Broadwayproduzent gegen pe-
kuniäre Gegenleistungen zu befriedigen pflegt, verantwortlich für die "grotesque
images of heterosexuality", welche die
Andeutungen einer homosexuellen Beziehung zwischen den beiden männlichen
Hauptpersonen ausbalancieren (ibid., 76ff).
98: S. die Darstellung bei Lennerhed, 89ff.
99: Hertoft, 77.
100: Manfred Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik. 5.,
durchgeseh. u. erw.
Aufl. Stuttgart: Kröner, 1991 (=
Kröners Taschenausgabe; 464), 272; Wolf Donner u. Jürgen Menningen: Signale
der
Sinnlichkeit. Filmerotik mit anderen Augen.
Düsseldorf, Wien, New York: Econ, 1987, 32-41.
101: Cecilia Nettelbrandt: "Sverige mera vanligt". In:
Sverigebilder, 139.
102: Ob der Wohlfahrtsstaat bereits zu 'obduzieren' ist (Anders Frenander:
"Obduktion av en modell. Den
svenska modellens nedgång & fall". In: häften för kritiska studier
29
(1996:1), 35-46) oder ob man bisher nur mit Sicherheit sagen
kann, daß er sich verändert habe (Henningsen u. Stråth, 245), kann an dieser
Stelle dahingestellt bleiben.
103: Gisela Kosubek (Hg.): Erotische Erkundungen. Schwedische Frauen
erzählen. Berlin: Aufbau, 1995.
Beindorf, Claudia: Deutsche Schweden-Stereotypen im 20. Jahrhundert.
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Autor: Stephan Michael Schröder
Abfassung: Ende 1996
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