Humboldt Universität Berlin
Nordeuropainstitut
WS 1999/2000
GK 52 234 Einführung in die skandinavische Kulturwissenschaft
Dozent: Dr. Stephan Michael Schröder
Referent: Felix Wiesjahn
Was ist eigentlich "Kultur"?
Die Frage nach der Kultur ist gleichbedeutend mit der Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Die Antworten auf diese Frage sind zahlreich (Sprache, Wissenschaft, Kunst, Religion, u.v.a.m.) und leiten zu den nächsten Fragen über:
Was ist die Funktion von Kultur? Was ist das Wesen von Kultur?
Nach einer mehr als zweitausendjährigen Begriffsgeschichte (Cicero gebraucht den Begriff bereits metaphorisch) ist der Kulturbegriff innerhalb der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert ein semiotischer geworden. Im Unterschied zu den einseitigen Kulturbegriffen bei Herder (Kultur als Substanz, die menschenunabhängig existiert) und in der Philosophie Gehlens (Kultur als Instinktersatz für das "Mängelwesen" Mensch), zeichnet der semiotische Begriff von Kultur ein Bild, das den Wechselwirkungen zwischen Kultur und Mensch(en) gerechter wird. Der semiotische Kulturbegriff arbeitet nicht mehr mit normativen Aussagen; anstattdessen beschreibt der Kulturwissenschaftler und reflektiert dabei kritisch die eigene kulturelle Eingebundenheit.
Bereits 1870 postuliert Tylor, daß Kultur "das komplexe Ganze, das Wissen, Überzeugungen, Kunst, Gesetze, Moral, Tradition (...) und jede andere Fertigkeit (...) einschließt, die Menschen als Mitglieder einer Gesellschaft erwerben" (zitiert nach Peter M. Hejl, Kultur, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Weimar, 1988, S. 291). Die Abkehr von normativen Kriterien und die Betonung der Gesellschaft als Grundlage des Kulturmenschen bilden wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung des aktuellen Verständnisses von Kultur. Bei Cassirer tritt das Moment der Interaktion und zumindestens implizit auch das Moment der Sprachkritik hinzu. "Er (der Mensch) lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. Aller Fortschritt im Denken und in der Erfahrung verfeinert und festigt dieses Netz. Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten;... (Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Einführund in eine Philosophie der Kultur, Hamburg, 1996, S. 50).
Der cassirersche Ansatz wurde u.a. von dem Ethnologen Geertz und von dem Soziologen Hitzler aufgegriffen. Wo Cassirer von einem Symbolnetz, einem gewebten Gespinst menschlicher Erfahrung spricht, verwendet Geertz die Metapher "selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe" und Hitzler spricht prosaischer vom "sozialen Wissensvorrat". All diesen Ansätzen ist gemeinsam, daß der Mensch als kulturelles Individuum in eine (sprachliche, religiöse, künstlerische, geistige, wissenschaftliche, eben kulturelle) Situation hineingeworfen wird, die für ihn sinngebend ist. Daß diese Sinnhaftigkeit bloß ein Konstrukt ist, welches die Wirklichkeit überdeckt oder zumindestens filtert, spielt keine Rolle, solange man diese Tatsache immer mitdenkt. Kultur wird durch kollektive Übereinkünfte konstruiert. Der Einzelne entnimmt dieser Übereinkunft Sinn, modifiziert diese aber auch durch seine Akte, wenn auch nur minimal. Der Mensch ist also sowohl Subjekt als auch Objekt der Kultur.
So sehr diese konstruktivistische Sichtweise geeignet ist, kulturelle Entwicklungen plausibel zu machen, ohne dabei wertend oder zielorientiert argumentieren zu müssen, und so sehr sie auch dem Bild des Menschen als freies Wesen gerecht wird, muß doch auf Probleme und Kritiken der Theorie der Konstruktion von Kultur durch vielgestaltige Zeichensysteme hingewiesen werden. Einige dieser Punkte sollen zum Schluß in Thesenform angeführt werden.
- Wenn es keine Wertmaßstäbe mehr gibt, d.h. wenn alles eine menschliche Konstruktion ist, dann existiert auch keine Möglichkeit mehr zu vergleichen. Alles ist relativ, niemand verantwortlich.
- Die Geschichtswissenschaft und andere Formen des Quellenstudiums sind nicht mehr in der Lage, vergangene Epochen adäquat darzustellen. Eine konstruktivistisch korrekte historische Arbeit hat mehr Aussagekraft über den Verfasser und die Epoche, in der sie geschrieben wurde, als über das eigentliche Thema. Die Metakritik und die Methodenanalyse überlagern die eigentliche Kritik und die eigentliche Analyse.
- Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften verlieren ihren Anspruch auf Wahrheit. Das Spannungsfeld zwischen Kultur- und Naturwissenschaften wird kräftiger, vermutlich zu Ungunsten der Kulturwissenschaften, denn die Naturwissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten ein Bild des Menschen entworfen, welches immer weniger die kulturelle Formung des Menschen postuliert und stattdessen auf die biologische (d.h. genetische) Determinierung abhebt. Problematisch ist dies insbesondere, da die Naturwissenschaften in der "Öffentlichkeit" eine Vorrangstellung gegenüber den Kulturwissenschaften genießen.
- Der Begriffsapparat in den Kulturwissenschaften hält vielfach einer Überprüfung nicht stand. Umfassende Theorien und Erklärungsversuche verlieren an Bedeutung. Der Aufschwung der Ethnologie, die die teilnehmende Beobachtung als Grundlage ihrer Forschung versteht, ist daher erklärbar. Der Ethnologe beobachtet und beschreibt nicht nur fremde Kulturen, sondern er beobachtet sich selbst in seiner Rolle als Beobachter.