Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Humboldt-Universität zu Berlin

Philosophische Fakultät II

Nordeuropa-Institut

Wintersemester 1999/2000

Gk 52 243 Einführung in die skandinavistische Kulturwissenschaft

Seminarleiter: Dr. Stephan Michael Schröder

Die Geschichtswissenschaft und die Postmoderne

Verfasserin: Insa Müller

Matrikelnummer 159 461

Skandinavistik (1. HF., 2. Fachsemester)

Neuere und Neueste Geschichte (2. HF., 2. Fachsemester)

Inhaltsverzeichnis:

    Einleitung:
    Abriß des Wandels der Einstellung zu den Erfahrungszielen der Geschichtswissenschaft S. 1

                    1. Der Konstruktivismus S. 2

          2. Die Postmoderne
                    2. 1.: Die postmoderne Auffassung der Geschichte S. 4
                    2. 2.: Hayden Whites „Textualismus" S. 5

                    3. Kritik an der postmodernen Geschichtskonzeption S. 7

                    Bibliographie S.10

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1. Einleitung Der Wandel der Einstellung zu den Erfahrungszielen der Geschichtswissenschaft:

Diese einleitende Übersicht über die Entwicklung der Auffassung von Geschichte soll dem Leser einen Eindruck ihrer Wandelbarkeit geben, und so heutige Auffassungen ebenso wie postmoderene Kritikpunkte in eine größere Relation setzten.

Während die Geschichtsschreibung in der Antike - von Geschichtsforschung im heutigen Sinne kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesprochen werden - , im Mittelalter und in der frühen Neuzeit hauptsächlich Aufgabe der Chronisten war, die das Wirken göttlicher Absichten in der Welt aufzeichneten und die menschliche Geschichte als Spielplatz übernatürlicher Mächte begriffen, bekam sie während der Aufklärung moralisierende Aufgaben. Geschichte diente der Verwerfung von Aberglauben, Fanatismus und religiösen Glauben. Die Geschichte wurde zur Philosophie in Beispielen, und alle historischen Erklärungen beriefen sich auf die Überzeugung, daß nur menschliche Kräfte auf sie einwirken, die menschliche Natur wurde als universal, gleichbleibend und überhistorisch betrachtet.

Erst zur Zeit der Romantik, im 19. Jahrhundert wurde die Geschichte zu einer eigenständigen wissenschaftlichen, institutionalisierten Disziplin.

Leopold von Ranke übernahm die kritische Methode aus der klassischen Philologie und legitimierte so den Anspruch der Geschichtsforschung auf Wissenschaftlichkeit und Objektivität. Der Historismus Rankes nahm jede Epoche als „unmittelbar zu Gott". Aufgabe des Historikers war es, Geschichte zu schreiben, „wie es eigentlich gewesen". Der Blick richtete sich gänzlich auf die Vergangenheit, alles Bestehende wurde als gottgegeben akzeptiert, und so die gegenwärtige Situation gerechtfertigt.

Im 20. Jahrhundert kam es zu Spezialisierungen innerhalb der Geschichtswissenschaft, beispielhaft sind hier die Schule der „Annales" in Frankreich. In den 50er und 60er Jahren kam es zu einer erneuten Etablierung historischer Objektivität, die man unter Zuhilfenahme soziologischer Methoden legitimierte. Die historische Sozialwissenschaft, so wie die Sozialgeschichte scheinen das Feld der universitären Geschichtsforschung in Deutschland noch heute zu dominieren, doch lassen sie Raum für andere Teilgebiete, wie die Mentalitätsgeschichte, die Geschichte der Frauen, Minderheitengeschichte, Alltagsgeschichte, u.v.a.

Der Anspruch an die Geschichtswissenschaft hat sich durch die Jahrhunderte geändert, war sie im Altertum nur beschreibend, in der Aufklärung bildend und so auf das Innigste mit den moralischen Interessen des Historikers verknüpft, leugnete man im 19.Jh. die persönliche Note des Historikers und nutzte die Geschichte vielerorts als Legitimation bestehender Verhältnisse. Ihre Aufgabe in der Moderne bestand darin, durch Erforschung und Analysieren der vergangenen Verhältnisse, Lehren für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen, welche den Kriterien der Objektivität folgen sollten.

In der Postmoderne wird der Geschichtsschreibung jegliche Grundlage für einen solchen neutralen Anspruch entzogen. Ebenso wird der wissenschaftliche Anspruch der Geschichtswissenschaft bezweifelt, gar so weit gegangen, die Geschichtsforschung mit Blick auf die Geschichtsschreibung als überflüssig zu beurteilen, oder aber in der radikalsten Ausformung das „Ende der Geschichte"1 (die „Posthistoire"2) konstatiert.

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Auf diese Gedanken wird an späterer Stelle einzugehen sein. Hierbei stellt sich auch die Frage nach der Stellung und der Aufgabe des Historikers, im disziplinären und aber auch im kulturgesellschaftlichen Diskurs und seiner Verantwortung dem Forschungsgegenstandes und der Gesellschaft gegenüber. Dieser Frage soll durchgängig Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eingangs wird es hilfreich sein, einen Blick auf den Konstruktivismus als eines „äußerst dynamischen interdisziplinären Diskussionszusammenhanges"3 zu werfen, der als Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie weitreichende Folgen auch für den postmodernen Ansatz in der Historie hat, um dann den postmodernen Ansatz in der Geschichte genauer zu schildern, und im Hauptteil abzuwägen, welche Kritikpunkte treffend, und welche Konsequenzen sinnvoll sind.

1. Der Konstruktivismus:

Der Konstruktivismus, der aus dem Geiste der Kybernetik geboren wurde, ist primär eine Kognitionstheorie und beschäftigt sich in erster Linie nicht mit der Frage nach Inhalten und Gegenständen der Beobachtung, sondern der Frage, „wie" wahrgenommen wird. Der radikale Konstruktivismus räumt mit europäischen Denktraditionen auf, indem er die Möglichkeiten der Erkenntnis auf die Erfahrungswelt des Individuums beschränkt. Während in positivistischer Tradition Wissenschaft betrieben wurde, um der Wirklichkeit immer näher zu kommen, mit der impliziten Überzeugung, alle Erkenntnis und Wahrnehmung sei ein Spiegelbild eines Dinges an sich, bestreitet der Konstruktivismus jegliche Möglichkeit, Aussagen über die transzendente Welt zu treffen. In dieser Hinsicht ist der Konstruktivismus pragmatisch, da die Wissenschaftlichkeit nicht an Objektivität oder Realitätsäquivalenz gebunden ist, sondern in den Bereich des Erlebbaren gerückt wird.

Die wichtigsten Grundlagen dieser Schlußfolgerung liegen erstens in der Theorie der Hierarchisierbarkeit von Beobachterpositionen und zweitens in der Vorstellung des Menschen als autopoietisches System.

1.: Es werden zwei Arten der Beobachtung unterschieden: Während die Beobachtung erster Ordnung auf den Dingen haften bleibt, beobachtet die Beobachtung zweiter Ordnung, wie beobachtet wird. Damit erschließt sie sich die Welt des Möglichen, in der die Beobachtung jeweils vom Standpunkt des Beobachters abhängig ist. Zur Veranschaulichung kann das Beispiel der halbvollen, bzw. halbleeren Flasche dienen.4

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2.: Das Konzept des Menschen als autopoietisches System geht davon aus, daß der Kontakt mit der Umwelt innersystemische Operationen auslöst, und die Erfahrung von „Wirklichkeit" innerhalb des Systems lokalisierbar ist. Wahrnehmen und Erkennen bilden so nicht die Wirklichkeit ab, sondern nur, was wir als Wirklichkeit akzeptieren, bzw. was sich unserem System anpaßt, was sozusagen innerhalb des Systems als Realität konstruiert wird.

Nach diesen Konzepten ist es dem Menschen folglich nicht möglich, Aussagen über eine von ihm unabhängige Welt zu machen. Hier bricht der Konstruktivismus mit der positivistischen philosophischen Tradition, die eine Übereinstimmung oder zumindest eine Korrespondenz zwischen Erlebnis und Wirklichkeit voraussetzt , verfällt aber keinesfalls in Nihilismus.

An die Stelle der Wahrheit oder der Objektivität setzt er eine neue Kategorie zur Bewertung von Aussagen über Erkenntnisse, nämlich den Begriff der „Viabilität" (Ernst von Glaserfeld). Der Zusammenhang des Handelns fordert von den Menschen nicht, daß sie die Umwelt so sehen, wie sie ist „(...) Zusammenhang erfordert nie, daß wir die „Umwelt" so sehen, wie sie ist (was wir ohnedies nicht könnten), sondern verlangt nur, daß das, was wir wahrnehmen, uns zu erfolgreichem Handeln befähigt."5 Diese Theorie impliziert Verantwortung, da die menschliche Welt und die menschlichen Handlungsspielräume nicht von einer „wirklichen Welt" determiniert sind, der Mensch in seinem Handeln also nicht auf die Umwelt direkt reagiert (Skinners Behaviorismus) oder wie die Soziobiologen es annehmen, von seinen Genen gesteuert wird. Es gibt in menschlichen Gesellschaften keinen anderen letzten Grund als den Menschen selbst. Sämtliche Handlungen müssen mit Rücksicht auf die Gemeinschaft der Mitmenschen gerechtfertigt werden können. Neu ist diese Überlegung allerdings keinesfalls. Es mag an dieser Stelle an Kants kategorischen Imperativ erinnert werden: „ Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte".

In Hinblick auf die Definition der Wissenschaft, welche nach Schmidt eine „besondere Form sozialen Handelns nach bestimmten Regeln mit dem Ziel Strategien zur Lösung von Problemen zu entwerfen"6 ist, vertritt der Konstruktivismus einen humanen Standpunkt. Wissen ist subjektabhängig, Objektivität und Intersubjektivität beruhen nicht auf Realitätsadäquenz, sondern sind Produkte der kulturellen Einheit der Wissenschaftler, die sich auf bestimmte Kategorien zur Beurteilung der als wissenschaftlich geltenden Konstrukte geeinigt haben und andere in diesem Sinne sozialisieren.

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3. Die Postmoderne

    3. 1.: Die postmoderne Auffassung der Geschichte:

Die Postmoderne versteht sich als Gegenbewegung gegen die Voraussetzungen der Moderne, mit ihrem Bild des Menschen als freies autonomes rationales Subjekt und der Auffassung, Geschichte sei als Prozeß zu denken, der immer weitere Fortschritte in der Zivilisation der Menschheit hervorbringe. Der historische Prozeß im modernen Konzept hat nur einen zentralen rationalen Motor und eine einzige, progressive Richtung. In der Postmoderne wurde man sich über die negativen Aspekte und Ambivalenzen der Aufklärung bewußt, wie z. B.der Industrialisierung, mit ihren Folgen wie z.B. die Umweltverschmutzung. Die Idee einer allein positiv zu bewertenden fortschrittlichen Entwicklung der menschlichen Geschichte ist damit untragbar geworden.

Im postmodernen Kontext geht man im Gegensatz zum modernen Ansatz von einer nicht reduzierbaren Pluralität von Geschichten aus. Dies hängt zusammen mit der fortschreitenden Entwicklung der Kommunikationsmöglichkeiten und der Globalisierung von Wissen, die da offensichtlich machen, das es viele nicht vergleichbare, aber gleichwertige Kulturen gibt und damit die traditionelle eurozentristische Geschichtskonzeption unhaltbar wird. Eine Einheit der Geschichtskonzeption würde in Anlehnung an M. Foucault den Ausschluß anderer und somit Macht- und Gewaltausübung implizieren.

Die Dezentralisierung der Geschichte führt zur Verwerfung alter Gedankensysteme, dem Ende der „großen Erzählungen", (Lyotard) wie z.B. Liberalismus oder Marxismus. Diese werden als unzulässige Reduzierungen der historischen Komplexität zurückgewiesen.

Das bis dato übliche Prinzip der Kausalität wird durch die Beobachtung von Marginalgruppen methodisch ersetzt. Die Postmoderne Auffassung geht davon aus, daß das was als selbstverständlich oder normal nicht ausgesprochen wurde, am besten in der Definition des Unnormalen zu erfassen sei.

Die Postmodernisten verwerfen die Vorstellung von Geschichte als linearer Zeitlinie, die grundlegend für ein Geschichtsforschung mit dem Konzept von Ursache und Wirkung ist.

Im Zuge des „linguistic turn", zeichnet das postmoderne Denken über die Geschichte sich durch eine Vorliebe für die symbolische Ebene von Beziehungen, für Wahrnehmungen und Rollen, Texte und Diskurse aus. Diese Affinität unterstützt die Ansicht, in der Gesellschaft gebe es keine vorgegebenen Strukturen , sondern diese konstituieren sich aus Interaktion und Wahrnehmungen und seien daher von der Forschung jeweils neu zu ermitteln, bevor Kategorien zur Erklärung bereitgestellt werden.7 Der Blick auf den Text verändert sich. Texte werden nicht länger als Bedeutungsspeicher betrachtet. So werden sowohl Quellen als auch Sekundärliteratur neu gelesen. Die „Realität" der Vergangenheit besteht in der geschriebenen Darstellung und nicht in der Vergangenheit, wie sie tatsächlich war. Quellen helfen lediglich frühere Konstruktionen von Wirklichkeit nachzuvollziehen oder zu enthüllen, die Sache selbst ist nicht abbildbar - „Il n`y a pas de hors-texte" (J. Derrida).

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Ein Ausdruck dieser Einstellung zu Texten oder Quellen ist, daß die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärquellen in Frage gestellt, wenn nicht sogar als überflüssig abgeschafft wird.

Die Vergangenheit kann nicht entdeckt werden, sondern sie wird von jedem Historiker geschaffen und präsentiert. Dies bedeutet, es gibt unzählige Interpretationsmöglichkeiten, die prinzipiell alle gleich gültig sein können.

Konsequenterweise wird von den Postmodernisten der Wissenschaftsanspruch der Geschichte in Frage gestellt, bzw. die Geschichte ebenso wie die Kunst als soziokulturelle Konstruktion ohne Anspruch auf Wahrheit definiert. Tatsächlich wird wissenschaftliche Erkenntnis aus postmoderner Sicht in einem Diskurs und der daran gekoppelten Praxis „wahr" gemacht. An dieser Stelle treffen sich der Konstruktivismus und die postmoderne Geschichtstheorie. Die Postmodernisten gehen aber noch einige Schritte weiter, so wandelt sich der radikale Konstruktivismus in der Theorie der Postmodernisten, wie z.B. bei Hayden White zu einem Relativismus, der einen Diskurs über Geschichte nahezu unmöglich macht, während der Konstruktivismus immer auch verbunden ist mit der Frage nach Relevanz und der Möglichkeit zur Kommunikation.

3. 2.: Hayden Whites Textualismus:

Hayden White versucht in seinen Arbeiten, die für ihn essentielle Frage zu beantworten, „wie die kulturelle Verarbeitung geschichtlicher Erfahrung überhaupt sprachlich ermöglicht wird"8. White spricht in seinen Arbeiten von der „Fiktion des Faktischen", er verwirft die Annahme, das Texte Bedeutungseinheiten bilden. Die faktische Aussage, die in jeder historischen Darstellung enthalten ist, liegt in ihrer linguistischen „Organisation", nicht in ihrer Referenz auf die Vergangenheit. „Er läßt die subjektivistische Deutung hinter sich, um nach den sprachlichen Objektivitätskriterien zu fragen, in deren Gefolge die Wissenschaftlichkeit der Geschichte aus linguistischer Sicht begründet werden kann."9 Für White ist Geschichte vielmehr Kunst (Literatur) als Wissenschaft, und hiermit greift er eine Frage auf, die seit langem zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis der Historikerzunft hat. Hayden White nimmt eine radikale Trennung zwischen historischer Forschung und der Geschichtschreibung vor, und bezieht sich in seinen Überlegungen nur auf die Darstellung, da sich diese seiner Meinung nach nicht von der historischen Forschung begrenzen lasse, sondern lediglich in ihrer möglichen Interpretation durch ein begrenztes Repertoire linguistischer Strategien beschränkt werde. Diese Strategien schematisiert er in seinem Buch „Metahistory".

Die Wahl der Erzählform wird nach White nicht durch faktische Gründe festgesetzt, auch wenn White nicht leugnet, daß die beschrieben Ereignisse tatsächlich in der Vergangenheit stattgefunden haben, sondern als ausschlaggebend gelten lediglich moralische, politische oder ästhetische Gründe. Whites Textualismus stellt sich so als radikaler Relativismus dar, der in seiner Betrachtung historischer Leistungen nicht nach Inhalten der Forschung fragt, sondern sich mit den sprachlichen Leistungen der historischen Darstellung auseinandersetzt. Explizit wirft White den heutigen Historikern vor, sich nicht der

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kritischen Selbstanalyse zu stellen, noch immer jenes angeblich neutrale Mittelfeld zwischen Kunst und Wissenschaft mit „solcher Selbstsicherheit und Besitzerstolz"10 einzunehmen, das sich mit der Entdeckung des gemeinsamen Konstruktionscharakter sowohl künstlerischer wie auch wissenschaftlicher Aussagen aufgelöst habe, „die Last des heutigen Historikers ist es, die Würde des historischen Studiums auf einer Grundlage wiederherzustellen, die es in Übereinstimmung bringt mit den Zielen und Intentionen der intellektuellen Gemeinschaft insgesamt d.h. mitzuwirken an der Befreiung der Gegenwart von der „Last der Geschichte"11.

J. Evans schlägt in seinem Buch „Fakten und Fiktion" vor, die Geschichte als Wissenschaft in weiterem Sinne zu verstehen. Gegen eine Konzeption von Geschichte als Wissenschaft sprechen ihre moralische Dimension, die Unmöglichkeit, historische Schlußfolgerungen experimentell zu beweisen und die begrenzte Möglichkeit, allgemeine Gesetze zu formulieren. Die Geschichte kann aber zu Generalisierungen kommen, die dem Anspruch an das Lernen aus der Geschichte befriedigen können.

Probleme hierbei resultieren aus der Unwiederholbarkeit menschlicher Geschichte und der Erfahrung, daß historische Erkenntnisse selten genutzt werden, um sich dem Unausweichlichen anzupassen, sondern häufiger versucht wird, diesem zu entgehen.

Nach Hayden White ist Rhetorik der Schlüssel zu jeder Analyse von Historiographie, der Autor verschaffe sich durch die Anwendung von Metaphern und Tropen eine Darstellung, die Überzeugungskraft hat. Der Historiker vermittelt so eine nicht erfahrbare und von ihm nicht erfahrene vergangene Wirklichkeit in bekannten Wendungen. Dies bedeutet, daß „jeder Diskurs die Gegenstände konstituiert, die er lediglich realistisch zu beschreiben und objektiv zu analysieren behauptet"12. Geschichte wird demnach erfunden und nicht gefunden, und gerade diese Überzeugung bedeutet die Verantwortlichkeit des postmodernen Historikers, wie H. White es formuliert: „ ..., the historican must accept responsibility for the construction of what previously s/he had pretended only to discover"13. Wenn man die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft nur auf literarische Kriterien bezieht, sogar so weit geht, alle gesellschaftlichen Phänomene als Resultate von Sprache zu betrachten, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, ob und welche Kriterien für eine Darstellung der Vergangenheit herangezogen werden können und als wissenschaftlich betrachtet werden dürfen. Vielleicht ist dies eine der wichtigsten Aufgabe der Historikerzunft in unserer Zeit. „It is time we historians took responsibility for explaining what we do, how we do it, and why it is worth doing it."14 Anstatt sich in den

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Archiven zu verstecken und in die Quellenkritik zu stürzen, muß der Historiker sich Gedanken über seine Zielsetzung, Methoden und die Relevanz seiner Arbeit machen.

4. Kritik an der postmodernen Geschichtskonzeption:

Die postmoderne Geschichtswissenschaft hat ihren Anspruch auf Darstellung der Vergangenheit aufgegeben; im Gegensatz zum Forschungsprozeß traditioneller professioneller Historiker (hiermit soll keinesfalls angedeutet werden, postmoderne Geschichtsforscher seien unprofessionell), die eine Reihe von Handlungen mit Zweck, Plan und Methode (= das „Handwerk" des Historikers) ausführen, gründet sich die postmoderne Interpretation auf die Vorstellung von einmaligen Bewußtseins- und Willensakten des analysierten Autors.

In der Beurteilung älterer historischer Arbeiten ist dieser Ansatz durchaus sinnvoll, da unser heutiges Wissen über die beschriebenen Themen breiter ist, und diese Texte keine neuen Inhalte liefern. Für die Untersuchung modernerer Arbeiten ist eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise nicht erschöpfend, da neue Forschungsergebnisse und Fragestellungen aufgeworfen werden, deren Inhalt primär und deren Darstellung sekundär zu überprüfen ist.15

Die postmoderne Geschichtswissenschaft betont den literarischen Charakter der Geschichtsschreibung, der Historiker ist aber doppelt abhängig von seinen Quellen und den Archiven, und von Kriterien der Wissenschaftlichkeit, die noch immer einen breiten Spielraum lassen, aber dennoch die „Freiheit des Dichters" stark einschränken.16

Diesem Gedankengang folgend, wurde Hayden White der Vorwurf gemacht, sein extremer Relativismus unterstütze die revisionistischen Bemühungen der Holocostleugner. White räumte in diesem Zusammenhang ein, daß die vergangene Wirklichkeit Grenzen setze bei der darstellenden Gestaltung durch den Historiker, und verwarf somit eine seiner zentralen Thesen, die davon ausging, Vergangenheit hänge völlig von der Strukturierung durch den Historiker ab.

Die postmoderne Kritik, Historiker gingen von einer Eins-zu-Eins-Spiegelung der Vergangenheit in ihren Quellen aus, zielt an den heutigen Geschichtswissenschaftlern vorbei, denn den Historikern ist bewußt, daß Quellen mit einer gewissen Sicherheit sagen können, wie etwas gewesen ist, aber nicht „warum". „Das Wissen um die Bedeutungsvielfalt von Texten und ihre relative Unabhängigkeit von den Intentionen des Autors ist seit langem im Bewußtsein der Historiker verankert."17 Gegen eine unbegrenzte Möglichkeit historischer Interpretationen, die von den Postmodernisten vorausgesetzt wird, spricht auch die Tatsache, daß Texte meist für einen bestimmten Leserkreis

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geschrieben werden und vom Autor entsprechend seinen Erwartungen gestaltet werden, wie seine Leserschaft seinen Text aufnehmen wird. Gleichzeitig achtet der Leser bei der Lektüre auf Ziele und Intentionen des Verfassers. Außerdem können Wörter zumindest in einem geschlossenen disziplinären Diskursrahmen oder einer kulturellen Gemeinschaft theoretisch vielleicht, praktisch jedoch nicht jede mögliche Bedeutung haben.

Ein weiterer Vorwurf der postmodernen Richtung besagt, der Historiker versuche durch seine wissenschaftliche Ausdrucksweise und seinen Erzählmodus des alleinigen, allwissenden Autors Neutralität und Objektivität zu suggerieren. Diesen Vorwurf halte ich bei Betrachtung wissenschaftlicher Essays oder längerer historischer Werke nicht für gerechtfertigt, zeichnen sich doch historische Arbeiten oft durch eine Vielzahl von Fußnoten, in denen Verweise auf andere Arbeiten aber auch andere Meinungen angeführt werden, und den häufigen Gebrauch von Wörtern wie „vielleicht" und „wahrscheinlich" aus. Historiker sind sich bewußt, das alle Erkenntnis fehlbar ist, während die Postmodernisten aus der korrekten Einsicht, daß es keine gewisse Erkenntnis gibt, zu der Folgerung kommen, daß überhaupt keine Erkenntnis möglich ist und sich so letztendlich selber den Boden unter den Füßen entziehen..

Die Postmodernisten werfen der Geschichtswissenschaft vor, Herrschafts- und Ideologiemißbrauch Vorschub zu leisten, dieser Vorwurf ist berechtigt, und nachvollziehbar, faßt man den Marxismus als Geschichtstheorie, die zur Staatsideologie wurde oder aber auch die Verzerrung historischer Forschungen während der nationalsozialistischen Diktatur ins Auge. Leider bietet die postmoderne Kritik kein Gegenmittel gegen den Mißbrauch von Vergangenheit. Tatsächlich wird diese noch erleichtert, wenn die „Disziplin", im Sinne von wissenschaftlichen Methoden wegfällt. Anstatt die Gefahr zu dämmen, ermöglicht die postmoderne Geschichtswissenschaft einen emotionalen und willkürlichen Zugriff auf historische Themen, und somit ebnet sie den Weg für unwissenschaftliche, unbelegbare Interpretationen der vergangenen Geschehnisse, die am Beispiel der Vertreter der „Ausschwitz-Lüge" ihr bedrohlichstes Beispiel findet.

Den Vorwurf, den Richard J. Evans in seinem Buch formuliert, die postmoderne Geschichtswissenschaft sei „narßistisch" und „elitär", führe zu „aufgeblasenerWichtigtuerei, Solipsismus und Anmaßung"18, halte ich für überspitzt. Dennoch macht diese Formulierung deutlich, welche Schwierigkeiten „Nicht-Historiker" mit der Materie haben müssen, und deshalb nur in geringem Maß geneigt sein werden, eine postmoderne Geschichtswissenschaft zu akzeptieren. Eine postmoderne Geschichtsforschung richtet sich tatsächlich nur an einen eingeweihten akademischen Kreis, leistet keinen Beitrag zur allgemeinen Aufklärung, und unterstützt so die Möglichkeiten ideologischer Einflußnahme von unerwünschter Seite.

Die postmoderne Geschichtsschreibung kann nicht ohne die fachlichen bzw. „faktischen" Grundlagen, die ihr durch die Geschichtsforschung geliefert werden, auskommen. Vielmehr kann sie nur auf diese aufbauen, denn wenn sie Texte und Autoren analysieren will, muß sie über ein profundes Wissen über Zeit und Umstände des untersuchten Autors, bzw. seines Gegenstandes verfügen.

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Die postmoderne Vorliebe für einzelne geschichtliche Werke und die ablehnende Haltung gegenüber größeren Zusammenhängen in der Geschichte führt zu einer Fragmentierung der Vergangenheit, und diese „Präzision in dem einen Bereich scheint unweigerlich

Undeutlichkeit unserer Kenntnis im anderen Bereich nach sich zu ziehen"19. Die postmoderne Geschichtswissenschaft kann in dieser Form sicherlich einzelne Arbeiten höchster Qualität hervorbringen, doch sie bietet durch ihre „Objektivierung der Subjektivität"20 keine Möglichkeit zum innerdisziplinären Diskurs.

Folglich dürfte es einer radikalen postmodernen Geschichtswissenschaft schwer fallen, ihre Relevanz und ihre Legitimation der Gesellschaft verständlich zu machen.

Gleichzeitig ist die Öffnung der Geschichtswissenschaft für die postmodernen Gedanken notwendig, und erfreulich, denn „Geschichte kann nur dann der Humanisierung der Erfahrung dienen, wenn sie empfänglich bleibt für die allgemeinere Welt des Denkens und des Handelns, aus der sie entsteht und in die sie wieder eingeht."21

Die Rückbesinnung der postmodernen Richtung auf die Individuen in historischen Prozessen ist eine ebenso erfreuliche Entwicklung, wie die Hoffnung, daß Historiker sich Gedanken über den literarischen Aspekt ihrer Arbeit machen und so eine gesteigerte Anzahl literarisch hochwertiger historischer Arbeiten erschaffen. Der postmoderne Gedankengang sollte es dem Historiker möglich machen, neue Formen der historischen Darstellung anzunehmen und sich mehr als bisher moderner Medien und technischer Möglichkeiten zu bedienen. Die Möglichkeit, eine Vielzahl von Menschen zu erreichen, erfordert eine ständige Rechtfertigung und Standortanalyse der Geschichtswissenschaft, die nicht in der postmodernen Variante allein gefunden werden kann, aber auch nicht von den Erfahrungen der Postmoderne losgelöst, vorgenommen werden kann. Letztendlich scheint auch die Debatte um die Postmoderne und die Geschichtswissenschaft zu keinem klar formulierbaren Ergebnis zu führen, vielmehr wird einmal mehr deutlich, „that a democratic practice of history - one in which an ever growing chorus of voices is heard - offers the best chance of making sense of the world."22

Bibliographie:

Aufsätze:

      · Perez Zagorin, History, the referent and narrative: Reflections on postmodernism now. In: History and Theory, Wesleyan University, Volume 38, Number 1, 1999.
      · Hayden White, Postmodernism and Textual Anxieties. In: Bo Srath u. Nina Witoszek (Hg.), The Postmodern Challenge. Pespectives East and West. Amsterdam u. Atlanta/GA, 1999, S. 27-45.

Monographien:

      · Joye Appleby, Lynn Hunt, Margaret Jacob, Telling the Truth about History, New York und London, 1994.
      · Mirjana Gross, Von der Antike zur Postmoderne. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung und ihre Wurzeln, Wien, Köln, Weimar, 1998.
      · Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/Main u. New York, 1998.
      · Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit.Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln, 1997.
      · Christian Simon, Historiographie. Eine Einführung, Stuttgart, 1996.
      · Hayden White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart, 1991.
      · Hayden White, Metahistory, Frankfurt/Main, 1991.

Sammelbände:

      · Einführung in den Konstruktivismus, mit Beiträgen von E. von Glaserfeld, H. von Foerster, P. Watzlawick, P. M. Hejl, S. J. Schmidt. München, 1995.
      · Christoph Conrad u. Martina Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart, 1994.
      · Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs. Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt/Main, 1993.
      · Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/Main, 6. Auflage 1994.


1 Vgl. Arnold Gehlen, Das Ende der Geschichte ?, in: C. Conrad u. M. Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart, 1994, S. 40--57

2 Ebd., S. 55

3 S. J. Schmidt, Vorbemerkung, in: ders. (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M., 6. Auflg. 1994, S. 7

4 Vgl.: Paul Watzlawick, Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte „Wirklichkeit"? Konstruktivismus und Psychotherapie, in: Einführung in den Konstruktivismus, München, 2. Auflg. 1995, S. 92.

Die Beobachtung zweiter Ordnung entsteht „durch die Zuschreibung von Sinn, Bedeutung oder Wert an die betreffende Wirklichkeit erster Ordnung konstruiert wird. Der Unterschied zwischen diesen beiden Wirklichkeiten kommt in der bekannten Scherzfrage nach dem Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten zum Ausdruck: Der Optimist - so lautet die Antwort - sagt von einer Flasche Wein, daß sie halb voll, der Pessimist, daß sie halbleer ist. Diesselbe Wirklichkeit erster Ordnung, aber zwei grundverschiedene Wirklichkeiten zweiter Ordnung."

5 Ernst von Glaserfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffes der Objektivität, in: Einführung in den Konstruktivismus, München, 2. Auflg. 1995, S. 22

6 S. J. Schmidt, Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft, in: Einführung in den Konstruktivismus, S. 156

7 Vgl.: C. Simon, Historiographie, Stuttgart, 1996, S. 235f.

8 Reinhart Koselleck, Einführung, in: H. White, Auch Klio dichtet, S. 2

9 Ebd., S. 4

10 H. White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart, 1991, S.37

11 H. White, Auch Klio dichtet, S. 51

12 H. White, Auch Klio dichtet, S. 8

13 H. White, Postmodernism and Textual Anxieties, in: Bo Strath u. Nina Witozek (Hg.): The Postmodern Challenge. Perspectives East and West, Amsterdam und Atlanta/GA, 1999, S. 27

14 J. Appleby, L. Hunt, M. Jacob, Telling the Truth about History, New York, London, 1994, S. 9

15 Hayden White untersucht in seinem Werk keine modernen historischen Arbeiten, sondern Arbeiten berühmter Historiker aus dem vergangenen Jahrhundert. Läßt sich seine Theorie auch auf moderne Arbeiten anwenden ?

16 Vgl.: Roger Chartier, Zeit der Zweifel. In: C. Conrad u. M. Kessel, Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart, 1994, S. 83-97.

17 R. J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/Main u. New York, 1998, S. 104

18 R. J. Evans, Fakten und Fiktionen. S.190f.

19 F. R. Ankersmit, Historismus, Postmoderne und Historiographie, in: W. Küttler,

J. Rüsen, E. Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs. Band 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt/Main, 1993, S. 81

20 Ebd., S.82

21 H. White, Auch Klio dichtet, S. 63

22 J. Appleby, L. Hunt, M. Jacob, Telling the Truth about History. S. 11