Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Christoph Pawlowski
Bilder von der Großstadt. Berlin bei Vilhelm Ekelund 1902-1912

Die Arbeit "Bilder von der Großstadt" untersucht die Prosatexte Otto Vilhelm Ekelunds, die 1902/03, bzw. 1908-12 für schwedische Tageszeitungen und Zeitschriften aus und über Berlin entstanden sind. Analysiert werden Ekelunds Erfahrung von Urbanität als einem Signum der Moderne und deren Konsequenzen sowohl für die explizit auf Berlin bezogenen, als auch die darüberhinausweisenden Aussagen zum Wesen der Großstadt. Zugrunde liegt diesen literarisch-publizistischen Stadtbildern der zentrale Konflikt zwischen 'Idealbild' und 'Normalbild', zwischen dem ästhetischen Ideal (Ekelunds Vorstellungen von Berlin und Deutschland) und der Realität der Großstadt.

Die 1902/03 entstandenen Texte vermitteln die Erfahrung des Normalbildes, die Konfrontation des Bildungsreisenden mit der modernen Großstadt. Ekelund konstatiert, anstelle von 'Poesie' und geistiger Größe, die Dominanz des Prosaischen im Zeitalter der "Nervosität" und "Neurasthenie": eine steinerne Wüste, in der "der Passant" an genuinen Orten des ruhelosen Berliner Lebens der Bedrohung durch Charakteristika des Urbanen ausgesetzt ist. Der schwedische Kleinstädter, der nicht über die psychophyischen und kulturellen Grundbedingungen für die Wahrnehmung der Großstadt verfügt, reagiert auf die Fragmentisierung und Atomisierung sinnlich-visueller Eindrücke sowie die Reizüberflutung mit einer Abwehrhaltung, der Suche nach dem eigenen "blick för tidens vikt" (Gatans konsert, 1902). Dieser läßt sich jedoch nur an "Alternativorten" verwirklichen - indem das 'Ich' aus der physischen Distanznahme von den gewöhnlichen Straßenperspektiven psychische Souveränität erlangt -, an denen Ekelund den impressionistischen Bildern der Stadt den Eindruck von 'Heimatgefühl' zuschreibt.

In den Texten 1908-12 vollzieht sich die Rekonstruktion des Idealbildes. In dem 'Hades' Berlin kommt der Beschäftigung mit dem Werk Baudelaires, für Ekelund 'der Dichter der Großstadt', besonderes Interesse zu. Zu den Konsequenzen des ästhetischen Paradigmenwechsels aber, des Antikenstudiums im Geiste Nietzsches, gehören die Distanzierung von der 'schwachen' Persönlichkeit Baudelaires und der Antimodernismus des "Antikt ideal" (1909). Modernität wird nun als Ausdruck von "décadence" im Sinne Nietzsches verworfen und die 'Lebensbanalität' des Alltäglichen überwunden durch das Gesetz Heraklits von der Einheit der Gegensätze. Dieses Schema ermöglicht die Instrumentalisierung der Großstadtrealität, indem die Banalität der Welt auf die Funktion des 'Stimulus' für die Erschaffung des Kunstwerkes im Geiste des antiken Ideales reduziert wird. Das Berliner Alltagselend wird zum 'Sprungbrett' für das große Kunstwerk, wie es die geistigen Heroen von Ekelunds "altem Berlin" erschufen, in dem er ein 'Heimatrecht' zu erlangen sucht. Diese geistige Stadt, bevölkert mit den Vorbildern seiner deutsch-klassizistischen Bildungslinie, stellt eine Kritik an der Unkultur des gegenwärtigen Berlin dar. Aus einer von Ekelund suggerierten geistigen Ausnahmeposition heraus sucht er mit Hilfe der Erinnerung und des Gedächtnisses die Relikte literarischer Kultur der Vergangenheit, eines versunkenen Vineta, zu bewahren. Diese Erinnerungsarbeit, die er mit non-fiktionalen und fiktionalen Prosatexten diverser literarischer Genres leistet, wird jedoch bedroht von einer Zivilisation, die das Individuum existenziell gefährdet, und als deren Symbol das moderne Berlin fungiert.

Die 1902/03 bereits in Ansätzen formulierte Kulturkritik an Berlin und Zivilisationskritik an der Großstadt der Gegenwart führt Ekelund 1908 im Kontext der Kritik Nietzsches an der Stillosigkeit der modernen (Gründerzeit-) Kultur fort. Im Vergleich etwa zu August Endell, Karl Scheffler und Julius Langbehn wird gezeigt, daß Ekelunds Texte sich einer Kulturkritik des beginnenden 20. Jahrhunderts zuordnen lassen, in der besonders die Folgen des verspäteten Urbanisierungsprozesses Berlins, der "Amerikanisierung", und der Verlust kultureller Traditionen angeprangert werden. Neben der Modernitätskritik stellt in besonderem Maße der Vorwurf der Zivilisationslosigkeit einen grundsätzlichen Angriff auf die Großstadt dar. Diese ist für Ekelund die 'Erfindung' einer 'grundverdorbenen Zivilisation', die in vollständigem Widerspruch zu den von Nietzsche beeinflußten Elementen seiner Lebensphilosophie steht.

 

[Magisterarbeiten im Fachteil Kulturwissenschaft 1995]