Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

BERND HENNINGSEN

Einleitung

DEUTSCHLAND UND DER NORDEN:
EINE WAHLVERWANDTSCHAFT

Dies ist der erste Band einer Buchreihe die darauf aufmerksam machen soll, daß es zwischen den skandinavisch/nordeuropäischen Ländern und Deutschland in der historischen Perspektive mehr als eine kulturell-politische 'Grenzgängerei' gegeben hat. Nicht was uns trennt, sondern was die Kulturen gemeinsam haben, steht im Mittelpunkt des Projektes: Nicht die Überwindung von Gegensätzen interessiert, gegebenenfalls ihre Produktivität, sondern die gegen- und wechselseitige Inspiration, die Beeinflussung und die Begegnungen. Insofern versucht der Ansatz das Entweder-Oder-Denken des 19. und 20. Jahrhunderts zu überwinden und geht davon aus, daß es etwas Gemeinsames gibt, das die Grenzen transzendiert, ja, daß ein Gemeinsames die Kulturen prägte, bevor die Grenzen im Zeitalter des Nationalismus errichtet wurden. Es soll also mit der Frage nach der Kultur (und ihrer Genese) vor die Zeit der Klimatheorie Montesquieus, vor Johann Gottfried Herder und die der Nationenbildung zurückgeführt werden. Daß gleichwohl das 19. Jahrhundert bei dieser Recherche im Mittelpunkt stehen muß, ergibt sich zwangsläufig aus seinem prägenden Charakter für das nationale und das kulturelle Denken (und Empfinden) der Moderne, nicht zuletzt aber aus den noch nicht erfolgten Verfestigungen: Der kulturelle Bodensatz einer universalistischen, nicht von nationalen Ideologien verfestigten Kultur ist noch identifizierbar - in der bildenden Kunst, der Musik, der Literatur (Goethes Reden von einer 'Weltliteratur' mag dazu gehören).

Das Projekt geht zurück auf die kulturhistorische Ausstellung Wahlverwandtschaft. Skandinavien und Deutschland 1800-1914 im Berliner Deutschen Historischen Museum 1997; die Ausstellung war zusammen mit dem Nationalmuseum in Stockholm, wo sie im Jahr darauf präsentiert wurde, und von zahlreichen Experten konzipiert worden, sie ist in erheblich ausgeweiteter Form dann im Folkemuseum in Oslo gezeigt worden; an allen drei Stationen hatte sie eine bemerkenswerte (auch Besucher-) Resonanz.

Das Projekt bestand von Anfang an aus zwei Teilen: Zum einen der temporären Ausstellung und zum anderen in der längerfristigen wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas, diese ist zunächst in den umfangreichen Katalog geflossen. Die Ausstellung wirkt als Ereignis jetzt nach, die wissenschaftliche Bearbeitung kann hingegen weitergehen - sie ist nicht durch Quadratmeter begrenzt und muß sich auch nicht an festgefügte Zeiten halten. Die einzelnen Themen der Ausstellung wurden in einer Ringvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin vertieft; sie sind ergänzt und ausgeweitet in diesem Band versammelt.

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WAHLVERWANDTSCHAFT

Die Entscheidung für den Berliner Titel der Ausstellung - Wahlverwandtschaft - war zunächst eine assoziative. Die Bearbeitung der diversen Themen, nicht zuletzt aber die öffentliche und die wissenschaftsinterne Resonanz auf die Ausstellung haben dann zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Begriff geführt und schließlich zu der Überzeugung, daß sich für uns, die wir uns mit den Wechselbeziehungen, den Begegnungen von Nationen, mit den Fremd- und den Selbstbildern beschäftigen, daß sich für uns mit dem Begriff auch eine theoretische Dimension eröffnet, die zum besseren Verständnis dieser Begegnung führen kann.

Eingangs muß die nötige Distanz zu einem allerdings weitverbreiteten, aber kaum bearbeiteten Wahlverwandtschafts-Begriff betont werden: dem geographischen. In der Folge der (vor-) klassischen und dann der aufgeklärt-montesquieuschen Klimatheorie hat sich in der Länderkunde und der Geographie die Lehre von der Harmonie des Raumes mit den sie bewohnenden Völkern eingestellt; Johann Gottfried Herder ist der deutsche Propagandist dieser "prästabilisierten Harmonie" . Hält schon Goethe gegenüber Eckermann 1828 fest, daß die Stämme meistens von dem Boden Besitz ergriffen hätten, der mit dem angeborenen Charakter der Menschen in Harmonie stand, so erschien 1833 eine anonyme Schrift zur "natürlichen Diplomatik", in der zwischen den Stämmen und dem Boden "eine Art von Wahlverwandtschaft" postuliert wird; diese im wahrsten Sinne des Wortes abschließende Theorie besagt, daß die Völker auf der Suche nach ihrem harmonischen Ort in der Welt herum wandern, bis sie den Fleck finden, der ihrer weltgeschichtlichen Sendung entspricht, getreu der napoleonischen Handlungsmaxime: "Die Geschichte der Völker wird von ihrer Geografie geschrieben."

Auf die verheerenden Folgen dieser Denkungsart braucht hier nicht eingegangen zu werden, der Name Napoleons markiert einen ersten Höhepunkt - am Ende des 20. Jahrhunderts ist evident: Die postulierte Übereinstimmung von Land, Staat und Volk hat auch und gerade in Europa dem Völkermord Vorschub geleistet, bis heute. Ins Kleine gedacht, muß aber auch festgehalten werden, daß die räumliche Begrenzung von Kultur in der Genealogie der klimatheoretischen Konstruktionen insbesondere aus der Zeit der Aufklärung stammt. Wenn Ernest Renan ein Jahrhundert später in seiner Sorbonne-Vorlesung die Nation als ein tägliches Plebiszit definiert, dann decouvriert er das konstruktivistische Denken vom 'Willen der Natur'. Grenzen aber sind nicht natürlich, sondern sinnlich konstruiert.

Die Bevorzugung eines Denkens, das nicht von 'natürlichen' Gegensätzen und Kultur-Grenzen, sondern von Gemeinsamkeiten und Wahlverwandtschaften ausgeht - die Begründungen für diese Art von Paradigmenwechsel sind im Ausstellungskatalog recht ausführlich dargelegt, sie können und müssen an dieser Stelle nur knapp wiederholt werden.

1775 legte der schwedische Chemiker Torbern Bergman, der als Begründer der analytischen Chemie gilt, eine Schrift vor, die nicht nur in den Naturwissenschaften Aufmerksamkeit erregen sollte: De attractionibus electivis. Seit Goethe nämlich mit dem 'Kunstwort' Wahlverwandtschaften die von dem Schweden beobachtete Eigenschaft der Anziehung und Abstoßung von Elementen 1809 zum Gegenstand eines Romans machte, hält sich im allgemeinen Sprachgebrauch diese "chemische Gleichnisrede" (Goethe) auch als Bezeichnung für menschliche und kulturelle Beziehungen. Hatte Bergman mit seinem Begriff die Eigenschaft chemischer Elemente bezeichnet, die bei Annäherung von der Verbindung mit einem Stoff in die Verbindung mit einem anderen wechseln können, sich also 'wahlverwandtschaftlich' zu verhalten, so haben wir seit Goethe einen Begriff für die altbekannte Tatsache, daß auch Paare bei Annäherung sich kreuzweise aus der einen Verbindung in eine andere begeben können - mit allen durch diese Bewegung verbundenen Komplikationen.

Wie alles Menschliche, so enden die Wahlverwandtschaften bei Goethe zwar tödlich, aber nicht unbedingt unharmonisch, so daß wir diese 'Gleichnisrede' sehr gerne zum Motto unserer Ausstellung gewählt haben - die Erzählung von der 'Wahlverwandtschaft' schließt ja die Gegensätze auch nicht aus. Die 'Begegnung' zwischen Bergman und Goethe war eine wissenschaftliche, eine literarische, noch nicht gestört durch die politischen Grenzen des aufziehenden Nationalismus im 19. Jahrhundert. Sie kann in der kulturhistorischen Retrospektive als beispielhaft für das gelten, was sich politisch, sozial, nicht zuletzt kulturell und wissenschaftlich ereignete: Die gewählten Verbindungen, Begegnungen, Treffpunkte, Kreuzungen zwischen und unter den skandinavischen und deutschen Vertretern von Politik, Geist, Kultur. Was auch immer die Motive im einzelnen gewesen sein mögen - die gegen- und wechselseitige Anziehung, die zwischen Deutschland und Skandinavien im 19. Jahrhundert stattgefunden hat und die von Harmoniebedürfnis, aber auch von schrecklichen Mißverständnissen zeugt, können wir inzwischen als eine Geschichte der konstruierten Gemeinsamkeiten nacherzählen.

Projekte wie dieses, dessen muß man sich bewußt sein, stehen immer - im wahrsten Sinne des Wortes - auf einem politisch sehr dünnen Eis: Die politische, vor allem aber die ideologische Geschichte der skandinavisch-deutschen Beziehungen ist durchzogen von Identitätskonstruktionen, von Mißverständnissen und in neuerer Zeit von politischen Katastrophen, (kollektive) Erinnerungen daran sind immer präsent und beeinflussen die Wahrnehmung. Das deutsche Blut-und-Boden-/Brauchtum-und-Sitte-Denken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine Sprache und hat Bilder hinterlassen, die die Klischees, die man übereinander hat, weiterhin bedienen.

Auch muß man sich darüber im klaren sein, daß die 'Wahlverwandtschaft' eine bezeichnende räumliche Dimension hat: Je weiter man sich von Deutschland entfernt, desto 'verwandter' fühlt man sich mit dem großen Nachbarn im Süden, je dichter man beieinander wohnt, desto abstoßender empfindet man sich. Für Dänen etwa, die ja eine (problematische) Grenze mit Deutschland haben, sind die Deutschen - um im Bilde zu bleiben - die schlimmeren Verwandten als die Schweden, mit denen man allerdings wesentlich länger im Krieg gelegen hat und über die man sich bösere Witze erzählt. Es macht aufgrund räumlicher Nähe und aufgrund der politischen Erfahrungen also schon einen erheblichen Unterschied, ob man als Deutscher die 'Wahlverwandtschaft' mit dem Norden beschreibt oder ob man dies als Däne, Norweger oder Schwede mit dem Blick auf das südliche Deutschland tut. Die dänische Distanz zu Deutschland wäre insofern - denn sie sagt ja nichts über die faktischen Verwandtschaftsbeziehungen aus, aus denen man nicht herauskommt - immer als der die nationale Identität bestimmende Konstruktionsfaktor zu betrachten: Grenzte Dänemark im Süden nicht an eine große deutsche Macht, sondern an ein kleines, aber selbständiges Schleswig-Holstein, für das sich Revolutionäre schließlich opferten, dann wären die verwandtschaftlichen Gefühle zu Deutschland so intim und herzlich (oder so kühl und indifferent) wie die der Schweden, Finnen und Norweger zum südlichen Ostsee-Anrainer.

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KONSTRUKTION UND ERFINDUNG

Der Begriff 'Wahlverwandtschaft' ist aber nicht nur Metapher und hat assoziativen Wiedererkennungswert für die Beschreibung einer Begegnungsgeschichte im 19. Jahrhundert; er verweist zugleich auf die wechselseitige Konstruktion zweier Kulturräume, die es im politisch-nationalen Sinne über die längste Zeit des Jahrhunderts noch gar nicht gegeben hat: Weder existierte ein Deutschland, gar ein geeintes deutsches Reich vor 1871, das die Hoffnungen und Ängste seiner Nachbarn politisch rechtfertigen könnte (das es danach allerdings sehr wohl erfüllte), noch gab es ein politisch geeintes Skandinavien nach 1523 (dem Ende der Kalmarer Union), das alle ideologischen Projektionen vom (nord-) germanischen Arkadien auch nur im entferntesten erfüllte.

Gleichwohl ist das Bild vom Norden, das wir am Ende des 20. Jahrhunderts von dieser Region Europas haben, im 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert gezeichnet worden - mit groben, weitausholenden Strichen; ebenso geht das Bild von Deutschland, das man im Norden hat, auf diese Zeit zurück. Die Typologien sind seither durch politische und kulturelle Erfahrungen verstärkt, manchmal verändert worden. Sie sind in unserem kulturellen Gedächtnis aufgehoben und werden von Generation zu Generation weitergegeben; erst die seltenen Gedächtnisbrüche lassen aufmerken. Dann kann der Unsinn solcher Konstruktionen deutlich werden - oder aber die identitätsstiftende Macht von sprachlichen und künstlerischen Manifestationen menschlicher Existenzauslegung in Gesellschaft und Geschichte: Die Konstruktionen sind immer auch Symbolisierungen von Existenzerfahrungen, längst nicht immer bloße politische Ideologie.

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WECHSELBEZIEHUNGEN

Beispiele derartiger Konstruktionen lassen sich durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte in großer Zahl ausmachen; insbesondere aber das 19. Jahrhundert ist hier eine einzigartige Fundgrube. Mit einiger Vorsicht wird man sagen können, daß am Ende des Jahrhunderts der Norden für Deutschland - trotz Ibsen, Strindberg und all den anderen - als eine Art bäuerliche, sicherlich auch präkapitalistische Idylle steht, die eher durch die Scholle als die Maschine gekennzeichnet ist. Wenn deutsche Schriftsteller, wie z. B. Arno Holz sich zuweilen ein nordisches Pseudonym zulegten, weil sich ihre Bücher aufgrund der literarischen Mode hinter einem skandinavischen Etikett garantiert besser verkaufen ließen, dann ist das nicht nur Ausdruck einer konstruktivistischen Nordenschwärmerei - der Traum vom Norden wird gewissermaßen kapitalisiert -, sondern auch Ausdruck einer gelebten Ambivalenz, denn die bäuerliche Idylle stand auch im Norden einer durchaus gewußten industriellen Moderne gegenüber.

Für den Norden wird Deutschland/Preußen zum Modellfall von politischer, sozialer und ökonomischer Erneuerung, vor allem aber die industriell-zivilisatorische Modernisierung zieht die Skandinavier an - insbesondere nach Berlin, der buchstäblich ersten Metropole auf dem Weg vom Norden in den Süden. Daß sie selber Akteure der Modernisierung im wilhelminisch widerstrebenden Kulturmilieu am Ende des Jahrhunderts werden - der Fall Edvard Munch macht dies besonders deutlich -, ist heute klar zu erkennen: Georg Brandes, Jens Peter Jacobsen, Henrik Ibsen, August Strindberg, Henrik Pontoppidan, Edvard Grieg und viele andere transportieren die Modernisierung in beide Richtungen.

So wie das deutsche Griechenland-Bild der Klassiker in Rom entstanden ist, ohne daß die Protagonisten je in Griechenland gewesen oder über Neapel, allenfalls Pompeji hinausgekommen waren, so entstand nur wenige Jahre später in Deutschland ein Bild vom Norden, ohne daß es einen realen Bezug zu diesen Ländern gegeben hätte, gar einen Aufenthalt dortselbst - in bester Taciteischer Tradition, dessen Germania ja ohne tatsächliche Kenntnis von den germanischen Wäldern geschrieben worden war und dennoch zur Grundlage einer politischen Klimalehre werden konnte, an die die Intellektuellen Europas spätestens seit Montesquieu glaubten - die Ursprünge der europäischen Demokratie wurden ausgerechnet in den germanischen Wäldern verortet.

Die Maler geben die eine Gruppe der kulturellen Konstrukteure ab - Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge, Johan Christian Dahl und viele andere -, die Dichter eine weitere. So ist Friedrich de la Motte Fouqué am Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem literarischen Sektor das beredtsamste Exempel für die Wahlverwandtschaft: In schriftlichem Kontakt mit fast allen des nordeuropäischen literarischen Parnass' hat er allerdings Berlin und Brandenburg nie verlassen - Schauplätze und Personen seiner Bücher sind gleichwohl der Norden, zumeist der alte, vergangene, die Helden- und Ritterwelt einer nie stattgefundenen Vergangenheit. Umgekehrt wäre manch ein Skandinavier gerne Deutscher geworden, der dänische Romantiker Adam Oehlenschläger ist das immer wieder gern zitierte Beispiel (und vor ihm Jens Baggesen, der wirklich deutsch dichten konnte); der dänische Norweger Henrik Steffens (der 'Erfinder' der dänischen Romantik) wurde schließlich Philosoph an der Berliner Universität; Hans Christian Andersen litt wie kaum einer unter dem großen politischen dänisch-deutschen Konflikt zwischen Deutschland (d. h. Schleswig, Holstein, Preußen, Deutscher Bund) und Dänemark und mußte seine Freundschaften mit Deutschen beenden, zumindestens unterbrechen. Die (Wahl-) Verwandtschaft meint eben keine Liebesbeziehung, sondern schließt das Leiden an- und miteinander ein (oder auch die Ignoranz).

Auch musikalisch sind rege Wechselbeziehungen kennzeichnend für das 19. Jahrhundert: In den vierziger Jahren gingen norwegische Musiker nach Deutschland, um zu lernen, denn in Norwegen waren die Möglichkeiten, Musik zu studieren, so gut wie nicht vorhanden. Dieweil verschlug es deutsche Musiker nach Norwegen - denn dort gab es Arbeit. Als dann die ausgebildeten norwegischen Musiker in ihre Heimat zurückkehrten, waren dort alle Posten besetzt. Bekannt ist die herausragende Rolle, die Leipzig als Musikmetropole gespielt hat. Hier war der Däne Niels Gade Nachfolger von Felix Mendelssohn-Bartholdy geworden (allerdings nur für ein Jahr, weil der Konflikt um Schleswig und Holstein eine Verlängerung des Engagements politisch unmöglich machte, er wäre sonst wohl ein 'deutscher' Komponist geworden), und hier war Edvard Grieg von 1858-1862 am Konservatorium tätig (der weltberühmte norwegische Violinist Ole Bull hatte ihm dazu geraten). Grieg spielte Franz Liszt vor, der ihm wiederum eine Empfehlung zur Vorlage beim norwegischen Storting schrieb, damit der norwegische Staat diesem begabten Komponisten eine Künstlergage zahle.

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VERWANDTEN-DÄMMERUNG

Das 'wahlverwandtschaftliche' Verhältnis Dänemark-Deutschland ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts von dynastischen, politischen, ja von revolutionären Auseinandersetzungen um Schleswig und Holstein geprägt; die aufkommende Linke hat sich für diese Ereignisse und diese Region brennend interessiert - und schreckliche Fremdbilder hinterlassen: was Marx, Engels, Liebknecht über die (für ewig betrunken gehaltenen) Nordleute geschrieben haben, spottet jeder Beschreibung von internationalistischer Überzeugung. Die Kriege zwischen 1848 und 1864 sind in die Malerei eingegangen; aber auch literarisch hatten sie Folgen (für Fontanes Romane etwa, der 1864 Kriegsberichterstatter für Berliner Zeitungen gewesen war). Die schleswig-holsteinische Frage, bei der Dänemark die Unterstützung Schwedens und Norwegens erwartete (die aber nicht erfolgte), markiert zugleich das Ende jener als 'Skandinavismus' in die Ideologiegeschichte des Nordens eingegangenen Bewegung; sie ist eine Art skandinavisches Gegenstück zur deutschen Nordenschwärmerei, politisch ist sie zum zeitgenössischen Pangermanismus/Panslavismus in Relation zu setzen, führte aber nicht wie diese zu Nationalstaatsbildungen: Man stelle sich die skandinavistische Einheitsbewegung im 19. Jahrhundert von ähnlichem Erfolg gekrönt vor wie die italienische oder die deutsche - es gäbe heute ein staatlich geeintes (Klein- oder Groß-) Skandinavien, wie es ein staatlich geeintes Italien beziehungsweise Deutschland gibt.

Am Ausgang des 19. Jahrhunderts dann ist die 'wahlverwandtschaftliche' Begegnungsgeschichte symbolisiert in einer Person: Wilhelm II. Die Nordlandromantik Wilhelms - die ganz manifest in seiner Schenkung einer überdimensionalen Wikingerstatue an die Norweger wird - formuliert er selbst: "Es zieht mich mit magischen Fäden zu diesem kernigen [...] Volke [...], welches in seinen Sagen und seiner Götterlehre stets die schönsten Tugenden [...] der Germanen [...], die Mannentreue und die Königstreue, zum Ausdruck gebracht hat." Es ist bezeichnend, daß Wilhelm II. und der schwedische König Oscar II. von ihrer "Stammverwandtschaft" sprechen.

In der Folgezeit wird das Ariertum aus der intellektuellen Latenz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in die politische Wirklichkeit gehoben. Der deutsche Traum wird jetzt in Weimar-Deutschland zu einem politischen Programm und schreckliche Blut-und-Boden-Realität. Der Untergang des wilhelminischen Deutschland beendet allerdings im Norden einen Traum abrupt, den von der Vorbildlichkeit, die die preußische Politik der modernisierenden Reformen von oben für viele im bürgerlichen Lager in Skandinavien hatte.

Stehen am Anfang der skandinavisch-deutschen 'Wahlverwandtschaft' die Bilder vom Norden, die sich seit der Antike im kollektiven Gedächtnis der Europäer festgesetzt haben, dann wurden sie durch die Bilder der Romantik und des Biedermeiers im 19. Jahrhundert koloriert - sei es in der Malerei, den Künsten oder der Literatur. Sehnsucht und Fernweh sind ihre Ingredienzen, aber auch Projektionen und Verschiebungen - die eigene (nationale) Wirklichkeit wird als höchst mangelhaft erfahren, eine andere wird imaginiert, die Realität verschwimmt, sie bleibt außerhalb der Bilder. Nicht nur bei Friedrich und Dahl stehen die Bildgestalten mit dem Rücken zum Betrachter und blicken in Richtung auf einen fernen Horizont - im übertragenen Sinne tun dies auch die Literaten, die Philosophen und die Intellektuellen und zu einem guten Teil auch die Politiker. Die Realität befindet sich dort, wo der Betrachter steht, vor dem Rahmen, außerhalb der Bilder. Die Figur, die angeschaut wird, wendet sich ab, man sieht sie von hinten: Das ist das Sinnbild des 19. Jahrhunderts: es ist der Traum, von einer anderen Welt - aus der Realität sind wir bereits herausgetreten, das Reich der Freiheit liegt am Horizont (in ferner Reichweite), das Reich der Notwendigkeit ist bereits durchlebt, es kommt im 20. Jahrhundert unerbittlich über uns, als die Imagination brutale politische Wirklichkeit wird.

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DIE AUSGESTELLTEN BILDER VOM NORDEN

Die Metapher von der 'Wahlverwandtschaft' war den Naturwissenschaften entliehen und am Anfang des 19. Jahrhunderts in die Literatur eingeführt worden; begriffsgeschichtlich ist sie von geringer Bedeutung, wegen des Amalgamierungshintergrundes der beiden Kulturen ist sie selten in der kulturhistorischen Perspektive benutzt worden, sondern hatte ihren assoziativen Hintergrund behalten - so war dies wohl auch von dem 'Naturwissenschaftler' Goethe gemeint. Gleichwohl spielt der Begriff für den Verständigungshorizont der mit Bildern arbeitenden Wissenschaften eine erhebliche Rolle. Bilder, Metaphern und Symbole vermögen unmittelbar Einsichten und Veränderungen zu offenbaren, weil sie ohne analytische und methodologische Apparaturen einen direkten Zugriff, eine unmittelbare Anschauung erlauben.

Dies kann man an Beispielen illustrieren, denn es ist mittlerweile unbestritten, daß die großen internationalen Ausstellungen zur nordischen Kunst, die in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt wurden, zu einem breiteren und vertieften Verständnis von Malerei und Kultur in Skandinavien geführt haben, zum Teil haben sie überhaupt erst ein internationales Publikum mit der thematischen und motivischen Fülle der Malerei, Kunst und Kultur des skandinavischen 19. Jahrhunderts vertraut gemacht. Sie haben auf die Gemeinsamkeiten verwiesen, die über nationale Grenzen hinweggehen und die eine historisch-politische Dimension haben. Hierfür ist zuerst und vor allem die schon fast legendäre Ausstellung Im Lichte des Nordens zu nennen, die 1986/87 in Düsseldorf, aber auch an anderen Orten gezeigt wurde.

Von gleicher Faszination, aber weniger beachtet war eine Ausstellung des Kunstmuseum im dänischen Aarhus, wo 1991 die Karten neu gemischt und überraschende Parallelen gezogen wurden. Dort hängte man 'nordische romantische Malerei' unter der Überschrift 'Melancholie' kontrastiv auf: Aus unterschiedlichen Epochen, in sehr unterschiedlichen Formaten und aus unterschiedlichen Ländern wurden Maler miteinander konfrontiert, deren 'Wahlverwandtschaft' sich aus der Überraschung wie selbstverständlich und assoziativ ergab. Um unter den Nachbarn nur die Bekannteren zu nennen: Edvard Munch (1889) hing neben Claus Carstensen (1991), Allaert van Everdingen (1640er) neben Per Kirkeby (1989), Hermann August Cappelen (1852) neben Vincent van Gogh (1882), L. A. Ring (1893) neben Markus Lüpertz (1982), Lars Hertervig (1865) neben Asger Jorn (1952), August Strindberg (1892) neben Anselm Kiefer (1988). Epochen- und Staatsgrenzen sind aufgehoben. Ohne daß es der Katalogerläuterung bedurfte, wird dem Betrachter bewußt: Hier werden Parallelen, aber auch Kontraste produktiv, es fügt sich zusammen, was zusammengehört.

Ein weiteres Beispiel wäre die kleine Ausstellung, die das Kopenhagener Thorvaldsen-Museum im Sommer 1999 unter dem Titel Duo ausrichtete. Es fragte, was mit Bildern geschieht, die problematisierend aufgehängt werden: Mann/Frau, nackt/angezogen, Modell/Porträt, von hinten/von vorne. In der Verschiedenartigkeit des 'Herangehens' und über die Kontraste hinweg werden dann Parallelen und Verwandtschaften sichtbar, die zugleich Gemeinsamkeiten offenbaren: Kompositionsstrukturen, Farbigkeiten, Zitate und Motive, Perspektiven. Der Monolog eines Bildes mit sich selbst, wie es traditionell im Museum aufgehängt wird, wird durch einen Dialog mit einem anderen, kontrastiv aufgehängten, aufgebrochen zugunsten einer Begegnung von Künstlern und der Offenbarung eines Bandes zwischen Zweien, die ansonsten in der Einsamkeit des Museums wenig miteinander zu tun haben.

Und schließlich ist auf das geglückte Projekt zu verweisen, das durchaus in die Verlängerung unserer Wahlverwandtschaft-Ausstellung zu sehen ist: Eine Ausstellung wieder des Thorvaldsen-Museums im Sommer 2000, die vorher die kanadische National Gallery in Ottawa und die Hamburger Kunsthalle gezeigt hatten. Bereits mit ihren ganz unterschiedlichen Titelgebungen verweisen diese drei Ausstellungen auf den konstruktivistischen Hintergrund der Interpretation von Kulturräumen und eröffnen einen Spannungsbogen, der aus der analytischen Perspektive kaum aufzubrechen ist. Die Ausstellung hieß in Ottawa Baltic Light: Early Open-Air Painting in Denmark and North Germany; in Hamburg hingegen wurde getitelt Im Lichte Caspar David Friedrichs. Frühe Freilichtmalerei in Dänemark und Norddeutschland; was tatsächlich gemeint war, sagt aber nur der dänische Titel, der übersetzt lautet Unter demselben Himmel. Land und Stadt in der dänischen und deutschen Kunst 1800-1850. Auch bei diesem Ereignis werden die Verwandtschaften in den Motiven, in den Strukturen, den Kompositionen, den Farben offenbar - Grenzen spielen keine Rolle; Zuordnungen nach Nationen und Charakteren sind nur mit Vorwissen möglich, aus der unmittelbaren Anschauung kommen sie nicht. Möglicherweise ist es kein Zufall, daß die Idee zu dieser 'verwandtschaftlichen' Gegenüberstellung zuerst in Ottawa gedacht worden ist, einem Ort, an dem die deutsch-dänische Grenze fremd sein muß.

Was diese Ausstellungen aber nicht zeigten, das war die kulturelle Gemeinschaft des 19. Jahrhunderts, die, wie konstruiert auch immer sie gewesen sein mag, im hohen Maße eine europäische gewesen ist. Daß wir aus der deutschen Perspektive nach wie vor mit dem 'Norden' umgehen, wie wir es im 19. Jahrhundert gelernt haben - das gilt übrigens nicht nur für die Deutschen -, daß wir nach wie vor keine Begriffsgeschichte des Nordens haben, bedarf der dringenden Aufarbeitung. Die Wahlverwandtschaft-Ausstellung hat dazu einen Anstoß gegeben.