Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

GESINE BÄR / KATRIN HECKER / SOPHIE WENNERSCHEID

Einleitung

Wie kommt es zu dem Bild der Stadt im Kopf? Was gibt den Ausschlag dafür, wo und wie wir uns in der Stadt verorten? Was macht Berlin zu 'Berlin' und Stockholm zu 'Stockholm'? Die vielfältigen individuellen Stadterfahrungen sind natürlich ein wichtiger Bestandteil der eigenen Vorstellung, die wir von einer Stadt haben. Ein anderes konstitutives Element, das unsere Wahrnehmung sowohl als Städtebewohner als auch als Städtebesucher prägt, sind medienvermittelte Stadtdiskurse und sich 'offiziell' gebärdende Stadtpräsentationen. Ein komplexer Prozess von Verdichtung und Reduktion städtischer Vielfalt setzt sich in Gang. Die Stadt in unseren Köpfen wird durch unsere eigenen Erlebnisse, die medienvermittelten Stadtbilder und normativen Diskurse über die Stadt gespeist. Der schwedische Schriftsteller und Kulturkritiker Steve Sem-Sandberg betont die Bedeutung der durch die Medien vermittelten Stadtwahrnehmung:

"Die Stadt als externalisiertes und materialisiertes Bild des Projekts Moderne löst sich in Chaos und Unordnung auf. Auf halber Strecke trifft dieser regressive Prozess die immer effektivere Ausbreitung, die die Massenmedien durchlaufen. Je mehr die Stadt sich auflöst und uns vor unseren Augen fremd wird, desto tiefer tritt die sekundäre, die simulierte Erfahrung in das Feld unserer Wahrnehmung ein, und zwar mit dem immer größeren und berechtigteren Anspruch, als eine Wirklichkeit eigenen Rechts gedeutet zu werden."

Was wir als Stadt, oder zumindest als 'stadttypisch' wahrnehmen, so die These Sem-Sandbergs, wird in immer größerem Ausmaß von einer 'simulierten' Erfahrung bestimmt. Medienvermittelte und unmittelbare Erfahrungen, herbeigeredete und erlebte Stadt setzen sich zu einem Bild zusammen, das mit dem Begriff 'Faktion' treffend beschrieben ist. Untrennbar sind diese Komponenten des Stadtbildes miteinander verwoben. Als kollektive Repräsentation werden sie wirkmächtig und handlungsleitend.

In Berlin und in Stockholm gab es in den neunziger Jahren eine intensive stadtpolitische Imagepflege: Berlin als wieder vereinigte Bundeshauptstadt, Stockholm als europäische Kulturhauptstadt 1998. An diesen offiziellen Stadtbildern haben wir uns gestoßen und uns auf die Suche nach Gegenbildern gemacht, die der Heterogenität der Gesamtstadt Rechnung tragen und nicht nur einige wenige Aspekte herausstellen. Die Beschäftigung mit den offiziellen Repräsentationen ist wichtig, denn Stadtpräsentationen haben Konsequenzen. Auf der Grundlage von durchsetzungsfähigen Vorstellungen, was Stockholm ist oder wohin sich Berlin entwickelt, werden Investitionsentscheidungen getroffen oder öffentliche Mittel vergeben. Wer die Definitionsmacht für sich gewinnen kann, nimmt Einfluss auf das zukünftige Gesicht der Stadt.

Mit dieser soziologischen Fragestellung haben wir uns den literarischen Großstadtbeschreibungen zugewandt, die in den letzten Jahren ebenfalls in großer Zahl entstanden sind. In diesen Texten haben wir die jeweiligen Stadtbilder analysiert. Wir haben vermutet, hier einen anderen Umgang mit der Vielfalt und Mehrstimmigkeit zu finden. Der vorliegende Band liefert die Befunde unserer Textanalysen.

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Stadt und Stadtbild

Wirft man einen Blick auf die Entwicklungen in Berlin und Stockholm in den letzten Jahren, wird verständlich, warum sie sich so bemühen, sich als attraktive Hauptstädte ins Bewusstsein zu bringen. Da weder die schwedische noch die deutsche Hauptstadt zu den von Saskia Sassen 'Global Cities' genannten Städten gehört , internationales Kapital also nicht unbedingt in die Stadt gespült wurde, waren und sind beide Städte gezwungen, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um sich als 'attraktive Standorte' zu legitimieren. Die Situation, in der Konkurrenz der Städte nicht aus der ersten Reihe zu agieren und gleichzeitig Anlass zu haben, sich als Hauptstädte neu zu definieren, hat die beiden Städte als Untersuchungsgegenstände für uns interessant gemacht. Um aufzufallen, werden Stadtmarketing-Agenturen gegründet und griffige Selbstbeschreibungen entworfen: 'Stockholm - DAS Tor zum Baltikum', 'Berlin - DIE Drehscheibe nach Osteuropa'. Der 'Festivalisierungsdruck' , der auf der Berliner und der Stockholmer Stadtpolitik lastet, ist groß. Spektakuläre Projekte und Großereignisse sollen die Aufmerksamkeit erzeugen, die nötig scheint, um Besucher, Investoren und Kapital in die Stadt zu holen. Auch innerhalb der Stadtverwaltungen scheinen die Großveranstaltungen den Effekt zu haben, quer zu den sonst üblichen - möglicherweise langwierigen oder komplizierten Verfahrensweisen - relativ gut Ressourcen mobilisieren zu können. So wurde Stockholm 1998 ein Jahr lang als Europas Kulturhauptstadt präsentiert , und so verwandelte sich das hinter Bauzäunen verschwundene, wieder vereinigte Stadtzentrum von Berlin in eine 'Schaustelle'. Endlich ist sie - dank finanzkräftiger privatwirtschaftlicher Investoren - da: die 'Neue Mitte'.

So verschieden die Antworten der in diesem Band untersuchten literarischen Texte auch ausfallen, eine gemeinsame Tendenz lässt sich im Vergleich mit den offiziellen Repräsentationen doch beobachten: Es geht nicht primär um das Zentrum. Vielmehr wird dieses - sei es das Zentrum der Stadt oder der Textstruktur, der Erzählfigur oder der Handlung - weitgehend dezentriert. Viele der literarischen Stadttexte gestalten die Auflösung oder zumindest die Infragestellung jeglicher Zentralperspektive. Richtet sich das Interesse der Stadtmarketing-Strategen auf die Mitte, rücken die meisten Autorinnen und Autoren den Stadtrand, den Kiez, den Hinterhof in den Fokus ihres Textes. Durch ausgedehnte U-Bahn-Fahrten wird der Radius in den literarischen Städten deutlich erweitert und das Zentrum in Beziehung zu den Außenbezirken gesetzt. Arbeiten die Stadtmanager an der Schaffung eines möglichst profilscharfen Bildes, betreiben die Textarchitekten die Dissoziation fester Zuschreibungen und Identitäten.

Ist es diese "Prämisse der Offenheit" , die die literarischen von den 'offiziellen' Stadtbildern, -texten und -darstellungen unterscheidet? Ist es das Interesse an unbebauten bzw. vernachlässigten, d.h. zur Deutung herausfordernden Plätzen, die eine Art 'Gegenbild' zu den zum Zweck der Imagepflege produzierten Bildern entstehen lassen? Ein markantes Unterscheidungsmerkmal ist die Dialogorientierung, die bei den literarischen Texten auffällt, aber den 'offiziellen' Stadttexten und -bildern fehlt. Hier werden Vorgaben entworfen, die - zumindest der Tendenz nach - eine affirmative Bestätigung verlangen. Bestechen die Repräsentationen des Potsdamer Platzes nicht dadurch, dass sie so selbstbewusst wie selbstverständlich Ausdruck von zeitgemäßer Urbanität zu sein behaupten? Treffsicher gibt der in Münster/Westfalen ansässige Autor Burkhard Spinnen zu bedenken:

"Ich muss für alles sein, ich bin für den Potsdamer Platz, ich bin für das Daimler-Zentrum, ich bin sogar für Sony, ich wäre für alles. Weil es meine Vorstellung speist, es nordet mein Bewusstsein von Gegenwart ein."

Auch in Stockholm erfährt man an Hand der zentralen Stadtgestaltungsvorhaben etwas über die Gegenwart und das offizielle Selbstverständnis. Der im Zentrum der Stadt gelegene Sergels torg, als symbolträchtiger Ort der schwedischen Wohlfahrtsstaatsutopien in den siebziger Jahren neu gestaltet, ist wieder umkämpft. Er soll der Hort des friedlichen, sicheren und sauberen Stockholm werden - frei von Drogendealern, Bettlern, Betrunkenen und Schmierereien. Das Ringen um Gestaltung, wie es derzeit für den Sergels Torg kennzeichnend ist, bestimmte lange auch die literarischen Stadt-Texte. Vor allem in den Romanen der achtziger Jahre dominiert die Suche nach einer der Uneinheitlichkeit und Anonymität der Großstadt angemessenen Form. In seinem 1988 publizierten Sammelband Die Unwirklichkeit der Städte konstatiert der Literaturwissenschaftler Klaus R. Scherpe die "raumgreifende Delokalisierung, Entgrenzung und Dekomposition der Großstadt als 'Zeichenstätte'" als das beherrschende Erzählprinzip. Auch die Arbeit Karin Hoffs, die die schwedische Romanliteratur der achtziger Jahre zum Untersuchungsgegenstand hat, spricht von der literarisch gestalteten Großstadt als einer "sich ständig wandelnde[n] unübersichtliche[n] Zeichenstätte".

Diese für die Literatur der achtziger Jahre in weitem Maße zutreffende Charakterisierung gilt für die hier untersuchten Texte, die größtenteils in den neunziger Jahren geschrieben wurden, so nicht mehr. Weder hat sich Scherpes Prognose einer 'Nowhere City', d. h. einer nicht länger lokalisierbaren Stadt, bestätigt - im Gegenteil: den meisten Erzählfiguren kann man mit dem jeweiligen Text in der Hand recht genau durch Stockholm oder Berlin folgen -, noch kann man wirklich von einer vollständigen Auflösung jedes Plots reden. Vor allem in den kürzeren Erzähltexten kann eine Konzentration auf den Erzähler und dessen Verhältnis zu 'seiner' Stadt beobachtet werden. Die Bemühungen zielen nicht länger darauf ab, die 'ganze Stadt' erzählerisch in den 'Griff' zu bekommen. Ort und Zeit der Handlung sind häufig eng gesteckt. Die meisten der literarischen Schauplätze haben eine klare soziale Topografie. Zentrumsnahe bürgerliche Altbauquartiere, Vorortsiedlungen, arme und reiche Wohngebiete, ein vernachlässigter Innenstadtbezirk und die gentrifizierten Arbeiterviertel - das sind die Versatzstücke der beschriebenen Städte.

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Stadtrandfiguren: Das Verhältnis von Stadt und Städtern

Da die literarischen Erzählungen keine Erzählungen aus den Stadtzentren sind, lernen wir als Leser die Protagonisten in ihrem 'Kiez' kennen, oder kehren mit ihnen nach einem Ausflug in die City wieder in ihn zurück. Die Rückkehr ist allerdings weniger als 'Heimkehr' denn als kreisförmige Bewegung zurück zum Ausgangspunkt der Ruhelosigkeit zu beschreiben. Die Textfiguren irren durch eine Stadt, die nicht nur als geographischer Raum, sondern auch als Ort existenzieller Befindlichkeit als variabel gezeichnet wird. Als solcher wird der Text zum Ort der Suche nach Möglichkeiten von 'Bleiben-Können', von Identität im weitesten Sinne. Eine Suche allerdings, die an der Unmöglichkeit fester Positionsbestimmungen oft genug scheitert. Wo, ja, wo - wo wir sind, und wo sind wir, ich weiß nicht. Du willst es nicht sagen. [...] Wo ist sie, hier war sie doch schon, und das alles nur, weil sie hier weg will [...]. Ich beharre darauf: es gibt kein Ich, zu dem ich zurückkehren könnte. Denn alles ist ich. Und ich bin alles. Ich bin nirgendwo und überall. Ich existiere, aber nur als ein Teil in etwas anderem. Das gibt Geborgenheit. Eine erstaunliche Vielzahl der rezipierten Texte werden aus der Perspektive eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin erzählt, die nicht selten eine bewusste Nähe zu den tatsächlich Schreibenden aufweist. Uwe Timm lässt seinen Protagonisten eine Geschichte über die Kartoffel schreiben, Matthias Zschokkes Erzähler ist Dichter, Anne-Marie Berglunds Ich-Erzählerin trägt den Namen Anne-Marie, Katja Lange-Müllers Ich weist deutliche Parallelen zur Autorin auf und Irina Liebmann konstruiert eine Figur, die sie 'die Liebmann' nennt. Die Auseinandersetzung mit der Stadt geht in eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte oder der eigenen Position als Schriftsteller über.

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Positionierungen der Autoren: Grenzen in der Stadt - Grenzen der Gewissheiten

Während der Umstand der erschwerten 'Selbstfindung' in den Texten einiger Autoren als ernstzunehmendes Problem ihrer Figuren beschrieben wird, sehen andere eben in dieser Unmöglichkeit von 'Festlegung' und 'Eindeutigkeit' - die Literaturwissenschaftlerin Karin Hoff spricht in diesem Zusammenhang von einem "Auflösungsprozess von Gewissheiten" - eine Chance für das Lebendige. Die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, die Unbeherrschbarkeit des Pluralen, der ständige Wandel des Unabgeschlossenen, die Risse, Brüche und Leerstellen der Stadt werden zu einer Art Hoffnungsträger, zu einer Bewegung auf Begegnung zu. Für den Stockholmer Schriftsteller und Essayisten Ulf Eriksson bekommen die Grenzübergänge der Großstadt fast den Stellenwert eines 'Lebensquells': Die Schwelle zwischen dem Zuhause und der Stadt, zwischen der Biografie und der Geschichte, zwischen der Abfahrt und der Wiederkehr, ist meine Geburtsstätte. Dort entstehen die Versprechungen und Drohungen, die mich lebendig machen. Über dieser Grenze herrschen die Gegensätze, die mich zwingen zu sprechen, zu reflektieren, zu deuten, zu werten und zu schaffen. Die wenigsten der von uns behandelten Autorinnen und Autoren beziehen eine explizite Position zu den Repräsentationscharakter beanspruchenden 'Marketing-Texten'. Ihre Aufgabe scheinen sie nicht so sehr in der Konstruktion von 'Gegenbildern', als vielmehr in der Gestaltung einer 'Gegensprache' zu sehen. Eine Sprache, die nicht behauptet und begrifflich fixiert, sondern eine, die erzählenderweise Probleme, d. h. Risse, Widersprüche und unerfüllte Sehnsüchte überhaupt erst wahrnehmbar macht. Und das auf eine unaufdringliche Weise, die jede eindeutige Parteinahme auszuschließen scheint. Direkte Kommentare und Erklärungen bleiben aus. 'Einfache' Antworten werden verweigert oder ironisiert. Die Aufgabe der 'Ausdeutung' wird von keinem allwissenden Erzähler übernommen, sondern wird an den Leser weitergegeben, der so bestenfalls in einen Dialog mit dem Text geführt wird.

Auffällig ist darüber hinaus eine fast durchgängige 'Perspektive von unten'. Nicht die Vertreter aus der Gruppe der 'rich and famous' führen den Leser durch die Stadt, sondern mehr oder weniger 'typische' Randfiguren. Ein Arbeitsloser, eine notorische Kneipengängerin, eine verwirrte Schriftstellerin, ein Möchtegern-Bettler... Hat Günter Grass also recht mit seiner Auffassung, dass Autorinnen und Autoren "berufsnotorisch auf Seiten der Verlierer" stehen? Von einer derart plakativen Selbstbeschreibung würde ein Großteil der zeitgenössischen Autoren sich vermutlich distanzieren. Das Bedürfnis, mit einem literarischen Text eine eindeutige Stellung zu beziehen, scheint gering geworden. Eine 'Sprachrohrmentalität' für die Sprachohnmächtigen und Geknechteten lässt sich aus keinem der im Folgenden behandelten Texte herauslesen. Und doch sind es auch keine Texte, von denen man - um mit Iris Radisch zu sprechen - sagen könnte oder müsste, dass sie "einen Nichtangriffspakt mit der Welt" geschlossen hätten. In vielen Texten wird ein Protest gegen das gesellschaftliche Gefüge ahnbar, aber es ist ein stiller, ja fast stummer Protest - ihn laut werden zu lassen, bleibt Aufgabe des Lesers.

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Berlin - Stockholm

Mit der Zusammenstellung des vorliegenden Bandes wollen wir beim Herauslesen eines solchen 'Protests' Unterstützung leisten. Wir haben gefragt, ob sich die offiziellen Reden über 'die Mitte' in literarischen Stadterzählungen niedergeschlagen haben. Gibt es eine Auseinandersetzung mit gängigen Stadtdiskursen? Treten die Autoren ein in den 'Kampf um die Definitionsmacht'? Schicken sie 'Gegenbilder' in den Ring? Oder liegt die Herausforderung, sich als Schriftsteller dem Thema 'Stadt' zu nähern, noch immer in der Frage der Erzählbarkeit, d. h. in dem Problem literarischer Gestaltung von unüberblickbarer Vielsträngigkeit und Gleichzeitigkeit divergierender Ereignisse? Nicht zuletzt haben wir einige vergleichende Beobachtungen über den Umgang mit den Stadtbildern in Berlin und Stockholm angestellt. Einen strengen Vergleich können wir vor dem Hintergrund unserer beschränkten Textauswahl natürlich nicht leisten. Aber die folgenden Bemerkungen können Anregungen sein, die beiden Literaturen auf ihre Berührungspunkte und Differenzen genauer zu untersuchen. Zur Lektüre der in diesem Band publizierten Texte können sie für ein genaues Hinsehen sensibilisieren.

Tourismusbroschüren funktionieren sehr einfach. Hier wird farbenfroh das offizielle Stadtbild zur Schau gestellt. Alles ist sehenswert, mögliche Schattenseiten werden als 'schräge' oder 'verrückte' Orte eingemeindet und gelten als Beweis für die 'vielfältige Szene'. Soweit gleichen sich auch die Darstellungen von Berlin und Stockholm. Die Schlagwörter jedoch, die mit der jeweiligen Stadt assoziiert werden, sind unterschiedlich. In Berlin lassen sich im wesentlichen alle Aussagen auf das Wort 'neu' zurückführen. Was noch nicht neu ist (neue Hauptstadt, neue Mitte), wird es demnächst sein. Denn Berlin ist dabei, sein '(Markt-)Potential' zu entfalten. Dementsprechend spielen Wörter wie 'zukunftsorientiert', 'Boom' und 'Aufbruch' eine wichtige Rolle. Das neue Logo der Stadt deutet das Brandenburger Tor in flotten roten Strichen an. Man konzentriert sich auf das Wesentliche und stellt sich sachlich und selbstsicher dar. Etwas anders Stockholm: die Stadt bekommt ein 'Ikea-Image'. Sie wird als schön, sicher, familienfreundlich angepriesen und ist immer einen Besuch wert. Dabei ist sie nicht nur sauber, sondern sogar 'die sauberste Hauptstadt der Welt'. Sie ist die 'Beauty on Water' - Natur und Stadt stehen im Einklang miteinander. Vor allem Unbeschwertheit strahlt das Stockholmer Logo aus. Mit seinen bunten Elementen Welle, Rathausturm und Sonne wirkt es fast wie eine Kinderzeichnung. Hier im Norden, so wird vermittelt, ist die Welt noch in Ordnung.

Bei der Lektüre der literarischen Texte tauchen diese Bilder wieder auf. Sie sind allerdings nicht wie in den touristischen Broschüren schon immer die Antwort auf alle Fragen, sondern meist der Ausgangspunkt. Wenn in Berlin alles neu ist, dann taugen auch die alten Beschreibungen nicht mehr. Was ist das heute für eine Stadt? Burmeister, Liebmann, Neumeister, Zschokke, Peltzer - die Liste ließe sich fortsetzen - sie alle treten an, die neue Stadt und ihren Wandel zu erfassen. Viele von ihnen machen das explizit zur Aufgabe ihrer Protagonisten. Mit dem Fall der Mauer sind West wie Ost als Identifikationspunkte weggefallen. Die Stadt wird zur Projektionsfläche für orientierungslos gewordene Städter. Vielfach taucht der Wunsch auf, das Vergangene zu dokumentieren, um es nicht der Vergessenheit preiszugeben. Ulrich Peltzer interpretiert das mit einer Anleihe bei Walter Benjamin. Es geht darum, sich einer Erinnerung im Augenblick von Gefahr zu bemächtigen. Das Thema der Verunsicherung und Fremdheit rührt in den von uns rezipierten Berlintexten meist von dem Wandel der jüngeren Vergangenheit her. Das schöne und saubere Stockholm provoziert zu anderen Fragen. Inwieweit ist die Stadt für alle gleich schön? Wer kann teilnehmen an der Unbeschwertheit, wer nicht? Während es in den Berlintexten darum geht, wie das Bild der Stadt im Kopf entsteht und eine Orientierung im Neuen ermöglicht, sprechen die Stockholmtexte häufig sozialkritische Themen an. Die inneren Spannungen und Diskriminierungen, die sozialen Auf- und Abstiegschancen werden benannt. Die Perspektive auf die literarische Stadt ist häufig eine von Außenseitern, von Leuten, die aus der Mehrheitsgesellschaft herausgefallen sind. Entsprechend deutlich sind die Antworten der schwedischen Autorinnen und Autoren, die wir gefragt haben, welche Aufgabe Schriftstellern heute angesichts der intensiven Inszenierung der Städte zukommt. Rita Tornborg macht konkrete Vorschläge, um Geschichten über die Stadt der Gegenwart zu schreiben und sich nicht in düsteren Futurismen zu verlieren. Mats Wahl will das benennen, was die freie Bewegung, das Wohnen und Leben der Menschen einschränkt. Ulf Eriksson arbeitet an einer Sprache, die im Gegensatz zur vorherrschenden Sprache in der Mediengesellschaft Grenzen benennt, Heterogenität sichtbar macht und Spannungen aushält. Literatur wird dabei zum gesellschaftskritischen Instrument. Die viel diskutierte Krise des schwedischen Wohlfahrtsstaates in den 1990er Jahren scheint hier durch. Die Unzulänglichkeiten des schwedischen Ideals der gerechten Gesellschaft stehen zur Debatte.

Eine ganz ähnliche Differenz unserer Stockholm- und Berlinanalysen fördert der Vergleich der beiden Stadterneuerungsprojekte zu Tage. Am Potsdamer Platz wie am Sergels torg als zentralem (Haupt-)Stadtplatz wurden und werden die geltenden Auffassungen von Zentralität, städtischer Vielfalt und Moderne verhandelt. Hier wie dort zeigt sich der politische Gestaltungswille und das 'Herbeiplanen' eines metropolitanen Flairs. Allerdings hat die öffentliche Hand in Stockholm die Gestaltungsmacht nicht an privatwirtschaftliche Investoren abgegeben. Sie ist außerdem mit dem Kulturhuset, einem öffentlichen Haus mit Theatern, einem Lesesaal der Stadtbibliothek und verschiedenen anderen Angeboten ein wichtiger Platzanrainer. Der Sergels torg ist im Gegensatz zum Potsdamer Platz ein Platz politischer Demonstrationen und Meinungsäußerungen. Er ist ein Platz, wo Mehrheitsgesellschaft und Außenseiter aufeinander treffen. Man kann nachvollziehen, warum Mats Wahl vermutet, dass die literarische Stadt möglicherweise mehr Grenzen zugeschrieben bekommt als ihr steinernes Vorbild aufweist. Die Diskussionen um den Sergels torg und den öffentlichen Raum allgemein zeigen allerdings auch, dass die Zugänglichkeit des Raumes nicht für alle selbstverständlich ist. Darauf hinzuweisen haben sich die genannten Stockholmer Autoren mehr als die Berliner zum Programm gemacht.

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Aufbau des Bandes

Gemäß unserer Absicht, 'offizielle' Stadtbilder und -diskurse mit literarisch gestalteten Stadtimpressionen zu kontrastieren, beginnt der Band mit zwei Texten, die die Inszenierungen von zentralen Plätzen untersuchen. Während Tanja Schult den Stockholmer Sergels torg als unfreiwillig ambivalenten Ausdruck gesellschaftspolitischer Wohlfahrtsstaatsutopien beleuchtet, fragt Gesine Bär danach, welche Gestalt ein Raum wie der Potsdamer Platz annimmt, wenn Wirtschaftsunternehmen als Stadtentwickler tätig werden. Ulrich Best wagt mit seinem Text einen Brückenschlag zwischen soziologischer Stadtbetrachtung und literarischer Interpretation. An drei Texten untersucht er den Umgang der Autorinnen und Autoren mit 'mächtigen', d. h. dominanten Berlin-Diskursen. Sonka Stein und Christiane Schröter behandeln in ihren Texten Berlin-Romane, die sich dem Thema 'Wende' aus westdeutscher, männlicher und ostdeutscher, weiblicher Perspektive nähern. Einen Vergleich von einem in Stockholm und einem in Berlin spielenden Text stellen Ulrich Best und Teresa Lüdde an. Sophie Wennerscheid fragt mit ihrem Text über 'Kreuz- und Querfahrer' nach der Bedeutung von U-Bahn in schwedischen Großstadttexten und interpretiert eine Novelle von Ulf Eriksson als Beispiel großstädtisch-subtiler Ausgrenzungstendenzen. Mit dem Beitrag von Katrin Hecker öffnet sich der Band dem Genre der Kinder- und Jugendliteratur und fragt nach dem Bild von der Großstadt im schwedischen Jugendbuch gestern und heute.

Neben unseren Analysen haben wir zwei Stockholmer Kurzgeschichten sowie einen Romanauszug übersetzt und als "Quellenteil" aufgenommen. Der Band schließt mit dem Abdruck eines Gesprächs zwischen dem Stockholmer Autor Ulf Eriksson und dem Berliner Autor Ulrich Peltzer, das im Anschluss an eine von uns organisierte Lesung im Literarischen Colloquium Berlin im Oktober 1999 geführt wurde. Dieses Gespräch dokumentiert, ebenso wie die Autorenstatements zu von uns gestellten Fragen, unsere Absicht, nicht nur uns, sondern auch die Großstadt literarisch gestaltenden Autoren zu Wort kommen zu lassen.

Der vorliegende Band ist das 'Ergebnis' eines überaus spannenden und lehrreichen Projekts, das in Form eines studentisch geleiteten Seminars mit dem Titel Definitionsmacht und Gegenbilder. Die Konstruktion von 'Stadt': Berlin und Stockholm im Vergleich von April 1999 bis März 2000 am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin stattfinden konnte. Ermöglicht wurde dieses Ergebnis durch die Hilfe vieler Beteiligter, denen wir an dieser Stelle unseren herzlichen Dank aussprechen möchten.

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Wir danken

  • der Humboldt-Universität für die Finanzierung einer Tutorenstelle,
  • dem Nordeuropa-Institut für die allseitige Bereitschaft, unser Projekt zu unterstützen,
  • dem Institutsdirektor Prof. Dr. Bernd Henningsen sowie Herrn Dr. Tomas Milosch für ihren durchgehend engagierten Zuspruch und ihre unbürokratische Unterstützung,
  • dem Literarischen Colloquium Berlin, insbesondere Herrn Thomas Geiger für die Ermöglichung der Lesung,
  • den an dieser Lesung beteiligten Autoren Ulf Eriksson und Ulrich Peltzer,
  • dem Svenska Författarcentrum,
  • Gun Ekroth von Radio Sverige,
  • der Schwedischen Botschaft für einen finanziellen Beitrag zur Fertigstellung des Bandes,
  • dem Berlin Verlag Arno Spitz für die Publikationsmöglichkeit,
  • Christiane Schröter für die redaktionelle Mitarbeit,
  • denen, die stets motiviert am Projekttutorium teilgenommen und den Band mit ihren Textbeiträgen bereichert haben,
  • sowie allen in den folgenden Texten genannten Autorinnen und Autoren.

Berlin, im Juni 2001
Gesine Bär  Katrin Hecker  Sophie Wennerscheid