Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Nordeuropa-Institut

Humboldt, 12. Juni 2003/ Interview mit Ella Johansson

Interview mit Ella Johansson, erschienen in der Zeitschrift HUMBOLDT am 12. Juni 2003 (Seite 5):

Von IKEA lernen...

Die Hammarskjöld-Gastprofessorin Ella Johansson über Berliner Wissenschaftspolitik, deutsche Studenten und IKEA als Beispiel für schwedische Alltagskultur

Ella Johansson, Jahrgang 1958 (Ovanåker/Schweden) studierte Ethnologie, Kunstwissenschaft, Archäologie und Philosophie in Lund. Nach einem Aufenthalt als Gastforscherin an der London School of Economics lehrte sie ab 1987 an der Universität Lund. Die promovierte Ethnologin forschte u.a. am Institut für Kultur und Medien der Universität Umeå und am Collegium of Advanced Studies in the Social Sciences (SCASSS) in Uppsala. Seit dem Wintersemester 2002/03 ist Prof. Ella Johansson Hammarskjöld-Stiftung Gastprofessorin für Kulturwissenschaft/ Ethnologie am Nordeuropa- Institut.

Sie sind seit letzten Herbst in Berlin, einer Stadt, die größte Schwierigkeiten hat, sich ihre Hochschulen zu leisten. Was hat Sie bewogen für drei Jahre an die Humboldt-Universität zu Berlin zu kommen?

Für mich gab es keinen Grund, nicht hierher zu kommen. Die Ethnologie der Humboldt-Universität zum Beispiel genießt sehr hohes Ansehen in Skandinaven. Und natürlich hat mich gereizt, hier am Nordeuropa-Institut interdisziplinär arbeiten zu können.

Verfolgen Sie die aktuellen Entwicklungen in der Hochschulpolitik Berlins?

Ja, ich versuche mich auf dem Laufenden zu halten. Die Lage klingt sehr ernst wenn man sich vor Augen führt, dass die Schulden der Stadt Berlin mehr als doppelt so hoch sind wie die Schwedens. Es wird immer wieder gesagt, Berlins wichtigste Ressource sei Wissen, und ich denke, das ist richtig. Diese Stärke aufs Spiel zu setzen, wäre unklug.

Worum geht es in Ihren Vorlesungen? Man ist geneigt zu glauben, dass auch ein berühmtes schwedisches Möbelhaus thematisiert wird...

Letztes Jahr habe ich "Industrialisierung und Modernisierung in Schweden von der bäuerlichen Gesellschaft bis 1930" gelehrt. Im Moment halte ich Vorlesungen über die Zeit danach, also auch über das Alltagsleben im Wohlfahrtsstaat zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Natürlich spielen auch Geographie, Natur und das Kulturerbe eine wichtige Rolle. In der Übung lernen die Studierenden dann Methoden und Instrumente der Kulturanalyse. Ganz klar: eines unserer Themen ist IKEA oder vielmehr die Einrichtungs- und Wohnkultur der Schweden. Wir können zwar nicht direkt vor Ort sein, aber IKEA gibt uns die Gelegenheit, die schwedische Kultur auch von Berlin aus zu untersuchen.

Schweden hat schon vor langer Zeit damit begonnen, seine Bildungs- und Sozialsysteme zu reformieren. Nicht wenige Politiker schauen deshalb - besonders nach PISA - angesichts der deutschen Schwierigkeiten nach Skandinavien.

Das schwedische Wohlfahrtssystem funktioniert, wie die Zahl der Steuerzahler entsprechend hoch ist. Bei uns ist ein höherer Anteil von Frauen berufstätig. Die Arbeitnehmer wiederum sehen Einkommenssteuern als sinnvoll an, da diese Einnahmen letztlich Jedem zu Gute kommen. Der Staat investiert dieses Geld nachweisbar - zum Beispiel in Schulen und in Universitäten. Aus schwedischer Sicht ist deshalb klar, dass nur die Berufstätigkeit der Frauen dem Staat die Steuereinnahmen verschafft, mit denen er einerseits den sozial Schwachen helfen und andererseits Bildung, Gesundheit und die Renten sichern kann.

Dem würden sich hier sicher viele Bürgerinnen und Bürger anschließen...

Deutschland war ein Wohlfahrtsstaat lange bevor Schweden einer wurde. Im 19. Jahrhundert war Schweden ein armes Land und Deutschland hat Standards gesetzt. Vor allem im Bildungs- und Gesundheitssystem war man anderen Ländern weit voraus. Verfolgt man heute die Debatten zum Beispiel zur Reform des deutschen Gesundheitssystems dann fragt man sich, warum das alles so schwierig ist. Mir scheint, es gibt mittlerweile zu viele Regelungen. Das verhindert einen radikalen Neuanfang.

In Ihrer Forschungsarbeit "Flexibilität und Tradition" untersuchen Sie derzeit, wie bestimmte Bevölkerungsgruppen in Nordschweden mit dem Staat interagieren. Wer profitiert von diesen Erkenntnissen?

Hoffentlich Europapolitiker. Für sie kann es sehr interessant sein, wie bestimmte gesellschaftliche Gruppen politische Entscheidungen treffen. Es ist nicht unwichtig zu wissen, welchen Stellenwert in einem Land der Einzelne oder die Familie hat, welche Moral- und Geschlechtervorstellungen herrschen und wie sich Meinungsbildungsprozesse vollziehen. Wenn man das weiß, kann man besser abschätzen, welchen Zuspruch oder Widerspruch z.B. ein neues Versicherungssystem in der Bevölkerung hervorruft.

Welche Pläne haben Sie für die drei Jahre Ihrer Stiftungsgastprofessur?

Ich hoffe durch meine Lehrveranstaltungen und den Austausch mit den Studierenden hier mehr über meine eigene Kultur und die deutsche zu lernen. Darüber hinaus plane ich mindestens zwei Bücher zu schreiben, eines davon über das Nordschweden. Insgesamt freue ich mich über die intellektuellen Herausforderungen, denen ich hier begegne.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Anke Assig.

 

 

• Fotos von der Antrittsvorlesung

 

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