|
|
a) Alteritäten:
Die Rede von Alteritäten schließt stets die Rede von Identitäten ein. Gleichwohl eröffnet der Blick auf Alteritäten andere Perspektiven als die Identitätsforschung, weil er die Aufmerksamkeit statt auf Kategorien wie Gleichheit, Einheit und Kontinuität auf Ungleichheit, Heterogenität und Kontingenz richtet. Er lässt damit nicht nur das Andere des Eigenen sichtbar werden, sondern bringt so auch den Konstrukt- und Herrschaftscharakter des Identitätsdiskurses zur Erscheinung. Dementsprechend wurde in der Projektarbeit immer wieder die spannungsvolle Verschränkung von kollektiven und individuellen Identitäts- bzw. Alteritätskonzepten zum Thema. Im Untersuchungszeitraum lassen sich individuelle und kollektive Identitätsformierungen auch als Herrschaftstechniken, als Enkulturation und Normierung beschreiben dies wurde besonders bei der Analyse des Zusammenhangs von Bildungskonzepten und Alteritätskonstitution deutlich (vgl. den Sammelband bildung und anderes).
Dass Alteritäten immer im Plural gedacht werden müssen, wurde in den einzelnen Forschungszusammenhängen ausnahmslos deutlich. Dabei lassen sich die verschiedenen Andersartigkeiten ethnische, soziale, politische, geographische, religiöse, kulturelle, gender-gebundene etc. nicht sauber zu einer Summe addieren, sondern bilden ein vieldimensionales Koordinatennetz, in dem die unterschiedlichen Alteritätsmodi sich überschneidend in Wechselwirkung treten. Die angelsächsische Gender-Forschung hat hierfür den Begriff der Intersektionalität geprägt.
Die Vernetzung der einzelnen Projektarbeiten hat gezeigt, dass in der Überschneidung der Alteritätsachsen bestimmte Themenfelder besondere Relevanz erlangen:
Ein übergreifendes Thema war die Verbindung von Alterität und Authentizität. Sei es das Nationale oder das Exotische, die wilde Natur, die reine Weiblichkeit oder die Ferne des historischen Ursprungs immer wird das Andere mit dem Authentischen, Eigentlichen, Unverfälschten identifiziert und so zu einem Begründungselement des Eigenen. So spielte Authentizität eine wesentliche Rolle in den Untersuchungen zum Exotismus, zur vorgestellten Geographie des Nationalen, sei es in dänischen Landesbeschreibungen oder in schwedischen Reiseberichten, zur norwegischen Volkskultur und zur Einwandererliteratur. Authentizität kann sogar mit Phänomenen des Exzesses und der Gewalt verbunden werden, wie Kirsten Wechsels Studie zu Theaterpraktiken im 19. Jahrhundert zeigt. Zugleich haben sich die Einschreibung von Alterität in die eigene Genealogie, die Herstellung einer ungesicherten Herkunft oder die Vervielfältigung des Ursprungs als zentrale Momente von Literatur seit 1800 erwiesen. Diese Faszination des Illegitimen (die Unsicherheit und Brüchigkeit der Herkunft, aber auch der Zukunft) gehört zu den literarischen Mustern und Modi, die unmittelbar mit Konzepten einer poetischen Alterität in Zusammenhang stehen.
Als ein weiteres übergreifendes Thema erwiesen sich die genannten, mit Exzess und Überschuss verknüpften Alteritätsphänomene seien es psychische, sexuelle oder Gewaltexzesse aber auch positiv gewendet Vorstellungen von überbordender Kraft und Vitalität. Ein ebenfalls im gesamten Untersuchungszeitraum relevantes Themenfeld ist die Alteritätsdimension des Religiösen, das sich in den meisten Teilprojekten in unterschiedlichen Erscheinungsformen manifestierte und mit herkömmlichen Konzepten von Säkularisierung nicht angemessen erfasst werden kann. Alteritätsforschung schließt hier unmittelbar an aktuelle Forschungsfelder zu Ritual, Liminalität, Fetisch an, deren Relevanz in Projektkolloquien und einzelnen Teilprojekten ausgelotet wurde.
Die Annahme, dass in der skandinavischen Literatur und Kultur generell ein weniger usurpativer Umgang mit dem Fremden vorherrscht als in Ländern, die stärker in die Kolonialherrschaft eingebunden waren bzw. die immer noch eine hegemoniale Position einnehmen, konnte in dieser Allgemeinheit nicht bestätigt werden. Insbesondere der koloniale Diskurs im Dänemark des 19. Jahrhunderts, der in einzelnen Teilprojekten exemplarisch untersucht wurde, unterscheidet sich nicht grundlegend von entsprechenden Diskursformationen in anderen Ländern, insofern sich in ihm durchaus Normalisierungs- und Ausschlussstrategien oder die Herstellung imaginärer Kolonialräume manifestieren, die als kolonialisierende Aneignung des Fremden betrachtet werden können. Allerdings können solche Alterisierungsstrategien als Teil von Herrschaftstechniken in den Texten einzelner Autoren in Frage gestellt werden (etwa bei H.C. Andersen) dies ist aber weniger eine Frage der Diskursformationen als der Verortung der Autoren im Verhältnis zum hegemonialen Diskurs.
b) Funktionen von Literatur und poetische Alterität:
Die Ausgangsthese, dass Literatur ein Leitmedium für die individuelle wie kollektive Identitätsformierung in der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, hat sich in allen Teilprojekten bestätigt. Von Interesse war hier die Frage, inwieweit diese Funktion auch in den post-bürgerlichen skandinavischen Gegenwartsgesellschaften erhalten geblieben ist. Dies ist, wie die einschlägigen Teilprojekte (u.a. das Projekt zur Migrationsliteratur) gezeigt haben, in erstaunlich hohem Maße der Fall. Tatsächlich scheint wenigstens in Schweden bis heute die Aneignung des hoch-kulturellen Mediums Literatur durch eine Minoritätengruppe eine zentrale Rolle für den Diskurs über das gesellschaftliche Selbstverständnis, über Identitäten und Alteritäten zu spielen. Zugleich konnte gezeigt werden, dass die Funktion von Literatur und vor allem die konkreten Wirkungsweisen literarischer Texte wesentlich durch die zeitgebundenen medialen Praktiken beeinflusst sind. Dass sich die Teilprojekte mit je unterschiedlichen literarischen und medialen Praktiken in unterschiedlichen historischen Konstellationen befasst haben (Reiseberichte um 1830 und 1990, Theater um 1840, Romane um 1850, 1900 und 2000, Film bis 1930, Presse und Fernsehen der Nachkriegszeit u.a.), die vergleichend in Beziehung gesetzt werden konnten, hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Von der Literatur, ihrer Funktion oder gar ihrer poetischen Alterität kann also nicht generell sondern stets nur mit Rücksicht auf die konkrete historische Situation gesprochen werden. Damit hat im Lauf des Projekts der Performativitätsaspekt der Ausgangsfrage nach der Funktion von Literatur für die Darstellung und Konstitution von Alteritäten verstärkte Bedeutung gewonnen. Die Analyse von Alteritätsdiskursen ist also zu ergänzen durch die Untersuchung der kulturellen Praktiken, in denen die Alterität von Literatur als auch Alteritätsphänomene in Literatur in der konkreten historischen Situation realisiert werden. Erst auf dieser Grundlage kann im Einzelnen festgestellt werden, in welche Wechselwirkungen die Alterität von Literatur (als eine Funktion ihrer Performativität) mit Alteritätsmodi auf der Darstellungsebene tritt. Ein solche differenzierte und historisch spezifizierte Konzeption von poetischer Alterität ist ein wichtiges Ergebnis der gemeinsamen Projektarbeit. Die einzelnen Projektbeteiligten näherten sich der Frage nach der poetischen Alterität von sehr unterschiedlichen Positionen aus. Es ist ein Zeichen für die Produktivität der Diskussionskultur im Projekt auch im Bereich der theoretischen Fundierung, dass dieser Begriff zu einer fruchtbaren gemeinsamen Basis für alle Teilprojekte entwickelt werden konnte.
c) Unabgeschlossene Fragen
Die Frage nach der Konstitution von Alteritäten und Identitäten ist nicht nur als Forschungsgegenstand und -problem zu formulieren, sondern trägt zugleich eine ethisch-politische Dimension in sich, die die Ausgangspunkte der Forschungsarbeit selbst berührt. Die wissenschaftsethische, gesellschaftspolitische und methodologische Reflexion auf den eigenen Standort begleitete die Projektarbeit von Beginn an. Aus ihr erwuchs eine Reihe von Grundfragen, die, ohne sie abschließend beantworten zu können, als Motor der Metareflexion kontinuierlich weiterbearbeitet wurden. So wirft die Frage nach Identitäten und Alteritäten notwendig das Problem der Kategorialisierung auf sowohl auf der Ebene des Gegenstands als der eigenen Methodik. Kategorien sind keine neutralen Arbeitsinstrumente, sondern fungieren stets auch als hegemonial strukturierte Ausschlusssysteme: sie stellen Alteritäten her. Gleichwohl ist analytisches Denken ohne Kategorialisierungen unmöglich. Dieses Dilemma war Gegenstand kontinuierlicher Selbstreflexion, ebenso wie die Rolle ideologischer Strukturen wiederum nicht nur auf der Ebene der untersuchten Diskurse, sondern als Grundlage der eigenen Arbeit. Kategorialisierung und Ideologisierung erwiesen sich als miteinander verbundene Problemfelder, deren Reflexion für die gemeinsamen Projektdiskussionen ebenso wie für die Teilprojekte (exemplarisch in den Forschungen zur schwedischen Migrationsliteratur) höchst relevant war.
|
|
|
|