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Wolfgang Behschnitt

Wanderungen mit der Wünschelrute. Landesbeschreibende Literatur und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert

Habilitationsschrift
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. 2004


Fragestellung
Ausgangspunkt der Studie ist die Wendung zum Topographischen, zur konkreten Lokalisierung und zur realistischen Beschreibung des geographischen Raums in der Literatur seit den 1820er Jahren. Sie geht einher mit einer Blüte landesbeschreibender Sachprosa, die mit Hilfe bildkünstlerischer und schönliterarischer Mittel zunehmend populärer gestaltet wird. Dieser Sachverhalt führt mich zu zwei Leitfragen: Die erste zielt auf die je spezifische Gestalt der in den Texten konstruierten vorgestellten Geographie (nach Edward Said und Derek Gregory); die zweite auf die Funktion von Literatur für die Vermittlung derselben - oder allgemeiner: für die Funktion von Literatur als Medium im Diskurs von Identitäten und Alteritäten.

Krise der Raumerfahrung
Die Wendung zum Topographischen wird als Symptom eines krisenhaften Wandels des Raumbewußtseins verstanden. Dieser manifestiert sich im 19. Jahrhundert u.a. auf einer politik-, einer technik- und einer mediengeschichtlichen Ebene. Wichtige Faktoren sind die Neuordnung Europas durch Napoleon und die wachsenden nationalstaatlichen Bewegungen, die Beschleunigung der Kommunikationsmittel (Ausbau des Postverkehrs, Dampfschiff, Eisenbahn) und die technische Umgestaltung der Natur (durch Verkehrswege, Flußregulierungen etc.) ebenso wie die Popularisierung neuer Medien (Panorama in seinen diversen Varianten, Stereoskopie, Fotografie etc.), in der sich ebenfalls neue räumliche Wahrnehmungsweisen manifestieren.

Der Wandel der Raumerfahrung läßt nicht nur den geographische Raum an sich auf neue Weise erscheinen; seine reale und mentale Umgestaltung und Neudimensionierung erfordert auch eine Neugliederung in bezug auf Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit, Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit. Grenzen müssen neu gezogen, Räume neu semantisiert werden. Das Eigene und das Andere, das Heim(at)liche und das Unheimliche werden neu lokalisiert. Die konstatierte Wendung der Literatur zum Topographischen steht mit dieser komplexen Umgestaltung des Raumbewußtseins in direktem Zusammenhang.

Die Wende zum Topographischen, insbesondere das Interesse für den Raum des "Eigenen", in der Literatur nach 1820 wird also nicht, wie häufig in der früheren Forschung, unter dem Aspekt der Regional- oder Heimatliteratur betrachtet. Stattdessen wird gefragt, wie sich der skizzierte Wandel des Raumbewußtseins in literarischen Texten niederschlägt und auf welche Weise diese zu einem Umbau der vorgestellten Geographien beitragen.

Untersuchungsmaterial
Bei der beschriebenen Wende zum Topographischen in der Literatur handelt es sich um ein internationales Phänomen. Walter Scotts Romane aus den schottischen Highlands haben wichtige Anstöße gegeben. In der amerikanischen Literatur haben die Romane Coopers einen ähnlichen Stellenwert. In der französischen Literatur wäre auf das Romanwerk Balzacs zu verweisen, das die nationale französische Geographie literarisch kartiert. In Deutschland zeigt sich eine zunehmende Bedeutung des Topographischen seit den 1830er Jahren, u.a. in der "Oberhof"-Episode in Immermanns Münchhausen-Roman und in den auf Westfalen bezogenen Schriften Annette von Droste-Hülshoffs. Einen monumentalen Höhepunkt markieren Fontanes seit Anfang der 1860er Jahre erscheinende Wanderungen durch die Mark Brandenburg. In der dänischen Literatur findet sich Entsprechendes, beispielsweise in den Romanen H. C. Andersens (u.a. in De to Baronesser [1848]) in M. A. Goldschmidts Reiseberichten und Erzählungen aus Jütland (1865ff.), zuerst und grundlegend aber schon in den seit den 1820er Jahren entstandenen Erzählungen Steen Steensen Blichers, der Jütland auf der literarischen Karte Dänemarks einen festen Platz sicherte.

Mit dieser Entwicklung der belletristischen Erzählprosa geht im gleichen Zeitraum eine Entwicklung im Sachprosabereich einher, die als Literarisierung der Landesbeschreibung zu bezeichnen ist. Es entstehen Texte im Übergangsbereich von Sach- und Fiktionsprosa, zwischen topographisch-historischer Darstellung und Reiseführer auf der einen, literarisierter Reisebeschreibung und lokal verankerter Erzählprosa auf der anderen Seite. Ein Musterbeispiel ist die 1836-41 erschienene und mit Stahlstichen illustrierte Buchreihe Das malerische und romantische Deutschland, für deren Bände anerkannte Autoren wie Ludwig Bechstein, Gustav Schwab und Karl Simrock verantwortlich zeichneten. Dieses Material hat in der Forschung bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren. Es erweist sich aber als wesentlich, weil es den Hintergrund bildet, vor dem die Besonderheit der schönliterarischen Darstellungen erst erfaßt werden kann.

Komparatistischer Ansatz
Auch wenn es sich um ein internationales Phänomen handelt, waren die historischen Gegebenheiten - z.B. die politischen Voraussetzungen der Nationalisierung, der Stand der technischen Entwicklung, die Entwicklung des literarischen Systems - in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedlich. Es bietet sich daher eine komparatistische Untersuchung an. Für einen Vergleich der deutschen und der dänischen Literatur sprechen gerade die erheblichen Differenzen, die sowohl den Verlauf als auch das Ergebnis der Nationenbildung prägen (Überwindung der staatlichen Zersplitterung im föderalen Deutschen Reich, Reduktion des multikulturellen dänischen Gesamtstaats auf ein national homogenes und zentralistisch regiertes Kerngebiet). So kann gezeigt werden, inwiefern sich nationale Differenzen in den jeweiligen vorgestellten Geographien und in der Gestaltung der literarischen Texten niederschlagen.

[Die Arbeit wurde im Juni 2004 abgeschlossen und als Habilitationsschrift bei der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. eingereicht.]

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